'Rewired' - eine kurze (und subjektive) Netz-Geschichte

Das Buch zur Web-Site - eine kurze (und subjektive) Buchbesprechung

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...und warum Minitel dem World Wide Web immer noch ein, zwei Tricks beibringen kann

Richard Barbrook, Mit-Autor der "Kalifornischen Ideologie", jener Text dessen Titel inzwischen schon zum geflügelten Wort wurde und der die rechtsradikalen Untertöne der Wired-Ideologie 1995 zutage förderte, setzt sich in dieser aktuellen Buchbesprechung anhand von David Hudsons "Rewired" einmal mehr mit brennenden cyber-ideologischen Glaubensfragen zwischen Kalifornien und "der alten Welt" auseinander.

Die Veröffentlichung des Buches 'Rewired' ist ein neues Phänomen: das Buch zur Web-Site. Erfolgreiche Spielfilme und Fernsehserien werden schon seit langem in Büchern zweitverwertet. Zum ersten Mal gebären nun auch populäre Websites ihre eigenen Hardcopies (Anm.: Wie auch Telepolis seit über einem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Bollmann Verlag). Seit über zwei Jahren publiziert das E-zine 'Rewired' Artikel und Diskussionen im sozialen und kulturellen Umfeld des Internet (siehe dazu die Telepolis Rezension der Rewired Web-Site).

Wie der Name schon andeutet, zielt 'Rewired' besonders in Richtung von 'Wired' Magazin, dem Sprachrohr der exklusiven Cyber-Possie an Amerikas Westküste. Mit der Veröffentlichung von 'Rewired' gelingt Hudson eine deutliche und schlüssig argumentierte Zusammenfassung der letzten Jahre. Dem Rezensenten hat es besonderen Spaß bereitet, sich selbst noch einmal in vergangenen Diskussionen wiederzufinden.

Das traditionelle Format des Buches hat einen Vorteil gegenüber der Web-Site: eine klare, narrative Struktur. Obgleich einige Kommentatoren die nichtlineare Struktur von Hypertexten feiern, werden User häufig von der blossen Quantität der vernetzten Information auf Netzseiten überwältigt. Hudson hat geschickt die große Menge des Materials der 'Rewired'-Site in eine lineare Analyse transformiert und zu einer sinnhaften Geschichte über Politik und Cyberspace verarbeitet. Trotzdem, im Unterschied zu anderen Internetbüchern, ist 'Rewired' nicht die Geschichte von Technologien und Firmen.

Ebensowenig wie der Autor die Position, daß die Entwicklung des Netzes einen Sci-Fi Traum verwirklicht, vertritt, eine Meinung, der man oft im Bereich künstlicher Intelligenz begegnet. Ganz im Gegenteil, Hudson hat seinen Blick der Geschichte niedergeschrieben, um die Rolle der Durchschnittsuser im Aufbau des Cyberspace hervorzuheben.

'Rewired' zeigt, daß das Netz seine Hackerwurzeln nicht verloren hat.

Wie der Autor darstellt, haben Einzelpersonen die offiziellen Richtlinien des Netzes von Anfang an untergraben. Das US-Militär finanzierte anfangs die Experimente im Bereich von Netzkommunikationen, um die eigene strategische Position im Falle eines nuklearen Krieges zu verbessern.

Dennoch mißbrauchten Akademiker, die seit Anbeginn des Netzes in dessen Entwicklung mit einbezogen waren das neue Datenübertragungs-System. Schnell wurde es zu einem Netz gemeinsamen Arbeitens, Spielens und Kaffeeklatsches. Sogar heute, im Zeitalter glatter, korporativer Web-Sites, zeigt der Erfolg eines E-zines wie 'Rewired', daß das Netz seine Hackerwurzeln nicht verloren hat. Wie Hudson unterstreicht, ist die " killer app" (Mörder-Applikation) des Cyberspace kein bestimmtes Stück Software, sondern die Leute, die es bevölkern.

Diese humanistische Geschichte des Netzes hat einen definitiven politischen Zweck. Hudson möchte den mystischen Positivismus widerlegen, der durch 'Wired ' verfochten wird. Dessen Herausgeber glauben zum Beispiel, daß jüngste Entwicklungen in der Genetik bestätigen, daß unser Verstand durch Meme gesteuert wird: dem biologischen Äquivalent der sich selbstreplizierenden Computerviren. Dieser pseudowissenschaftliche Unsinn könnte einfach nur lächerlich sein, wenn sich dahinter nicht ein besonders übles Stück Politik versteckte. Wie Hudson darstellt, steht hinter diesem scheinbaren 21.-Jahrhundert-elaber in Wirklichkeit die Wiederbelebung des Sozialdarwinismus aus dem 19. Jahrhunderts. Ausgabe für Ausgabe haben die Herausgeber von 'Wired ' behauptet, daß das historisch spezifische Phänomen Marktkapitalismus auf ahistorischen Naturgesetzen beruht. Sie gehen so weit vorauszusagen, daß die Verbreitung des Netzes es überflüssig macht, die Reinheit der Neo-liberalen Volkswirtschaft durch staatliche Interventionen zu kompensieren, einschließlich der Unterstützung Kranker und Hilfebedürftiger. Während sie sich selbst als radikale Futuristen begreifen, verhalten sich die Herausgeber von 'Wired' wie die Cheerleader der reaktionären Politik des konservativen Kongreßführers Newt Gingrich.

Weil so wenige Leute in der USA die konservative Politik von 'Wired' herausfordern, ist die Publikation von 'Rewired' dort sehr wichtig

Für jeden, der noch Illusionen über die progressive Natur von 'Wired' hat, wird das wahrlich grausame Interview Hudsons mit Louis Rossetto (Gründer der Zeitschrift, als Geschäftsführer aber mittlerweile abgesägt; Anm.) zur eigentichen Offenbarung. Wie eine Westküstenversion von Mussolini klingend, spricht sich Rossetto gegen die korrumpierenden Effekte der repräsentativen Demokratie aus, gegen die Festlegung von Minimallöhnen, gegen Wohlfahrtsbestimmungen und andere soziale Errungenschaften der Linken. Dem gegenüber feiert er den Sieg des freien Marktes der heroischen Cyberkapitalisten: ein Nietzsche-Superman, geboren aus dem Schmelz von Informationstechnologien und biologischem Fortschritt. Obwohl völlig in Sci-Fi Rhetorik verwickelt, entpuppen sich Rossetto's Politika als vollständig atavistisch. Hudson stellt ausführlich dar, daß solche Autorität nich einfach ideologisch ist.

Innerhalb von 'Wired' fanden Autoren, die die neo-liberale Linie des Magazins in Frage stellten, schnell heraus, daß ihre Artikel zensiert und sie selbst letztlich von der Angestelltenliste gestrichen wurden. Aus Scheu vor einer ernsthaften Debatte, stellt Rossetto sicher, daß alle seine Kritiker sich ruhig verhalten.

Weil so wenige Leute in der USA die konservative Politik von 'Wired' herausfordern, ist die Publikation von 'Rewired' dort sehr wichtig. Hudsons historische Annäherung ist für die Amerikaner ein essentielles Memo, daß das Netz mit ihren Steuern und nicht durch Marktkonkurrenz erschaffen wurde. Deutlich zeigt der Autor, wie 'Wired's Zukunftsvisionen in Wirklichkeit eine Rückkehr zu einer eingebildeten Vergangenheit ist.
Trotz der Stärke des Buches, solche intellektuellen Ungereimtheiten herauszustellen, hat Hudsons Buch eine lähmende Schwäche: die pessimistische Einstellung gegenüber jeder linke Alternative zum Retro-Futurismus von 'Wired'. Trotz des Ausblicks am Ende von 'Rewired' auf das Potential von Community-Networks, nimmt Hudson an, daß der Cyberspace unvermeidlich von Wirtschaftsinteressen geschluckt wird. Viel schlimmer, er ist wie hypnotisiert von dem ideologischen Feuer der Hi-Tech Neo-liberalen. In einem Interview im Buch stimmt Hudson Pauline Borsook zu - einer kalifornischen Kritikerin von 'Wired' - daß den neo-liberalen Ideologien keine ernste Opposition innerhalb des Cyberspace gegenüberstehen. Gequält von Selbstzweifeln, ist die amerikanische Linke nicht in der Lage, sich ein mögliche Zukunft vorzustellen, in der sie nicht immer wieder aufs neue besiegt wird.

In diesem Buch sind Libertäre keine Anarchisten, sondern verwirrte Neo-Liberale; Liberale keine Anhänger des Thatcherismus, sondern verwirrte Linke; und Kommunitäre sind zweifellos keine Kommunisten!

Solch tiefgehender Pessimismus mindert die Energie von Hudsons Kritik am 'Wired' Magazin. Rossetto mag ein gefährlicher Fanatiker sein, aber es sind geanu seine verrückten Meinungen, die die digitale Zukunft formen. Dieser Mangel an Selbstvertrauen zeigt, daß 'Rewired' unter dem Strich ein rundum kalifornisches Buch ist. Texte der europäischen Linken im Buch erscheinen am Rande, unsere optimistischeren Ansichten sind nicht von der Westküste. Sogar viele der politischen Bezeichnungen, die in der Beschreibung von Meinungen und Menschen verwendet werden, sind für viele nicht-amerikanische Leser verwirrend. In diesem Buch sind Liberitäre keine Anarchisten, sondern verwirrte Neo-Liberale; Liberale keine Anhänger des Thatcherismus, sondern verwirrte Linke; und Kommunitäre sind zweifellos keine Kommunisten! Hinter der Eigenheit solcher amerikanischen, politischen Beschreibungen liegt ein tiefes Durcheinander, das die radikalen Anstrengungen dieses Buches abschwächt. Wie kann man jemanden von der Linken ernst nehmen, der sich irrtümlicherweise selbst als einen Liberalen bezeichnet, weil er sich nicht so ganz traut, sozialistische Rhetorik einzusetzen?

Hudson bringt die negativen Konsequenzen der Neo-liberalen Volkswirtschaft ans Licht, wie sie von 'Wired' verfochten wird, aber er liefert keine sozial-demokratische Alternative zu solch einer regressiven Politik. Trotz seiner ganzen Herleitung, sieht sich Hudson gezwungen anzunehmen, daß das Netz die Apotheosis des freien Marktes sein muß. Als Patriot kann er europäische Modelle letztlich nicht ohne Zweifel hinnehmen, wo doch von dort so viele auf der Suche nach dem amerikanischen Traum auswanderten.

Der kalifornische Patriotismus des Autors scheint umso merkwürdiger, da er im Inneren Europas, in Berlin, und nicht an der Westküste lebt! Jedoch wie so viele Exilanten, ignoriert Hudson seine täglichen Umgebungen zugunsten seiner verlorenen Heimat. Das Netz hat eine solche Verschiebung von Geist und Körper einfacher gemacht. Wie Hudson ausführt, bedient er sich lokaler Bulletin Boards, um ein aktives Mitglied der San Francisco Cyber-Culture zu bleiben - ohne dort wirklich leben zu müssen. Es wirkt etwas ungereimt, daß der Autor alle wirklichen Vergleiche zwischen den USA und der EU vermeidet. Demgegenüber hat 'Wired' keine solchen Hemmungen. Dort schildern Artikel regelmäßig von den Sünden der Europäer gegen die heiligen Gebote des Neo-Liberalismus. Rossetto hat eine ganz persönliche Abneigung gegenüber dem Kontinent, weil dort eine frühere Version von 'Wired' knallhart durch den Markt gerutscht ist, nachdem sie in Amsterdam gelauncht wurde. Er und seine Mitherausgeber haben eine tiefe Angst, daß die Wohlfahrtsregierungen in Europa der bessere Platz zum Leben sein könnten, als die Dystopien des freien Marktes in Kalifornien.

Gütertausch funktioniert mit Minitel besser!

Auch im Umgang mit Cyberspace, schwächt der Mangel eines wirklichen Vergleichs zwischen den zwei Kontinenten das Buch. Die Erfahrungen der Amerikaner sind nur ein Aspekt in der Geschichte der Rechnerverbundsnetze. Hudson verpaßt es auf eine besonders dumpfe Behauptung Rossettos in seinem Interview angemessen einzugehen. Der Herausgeber von 'Wired' beteuert fälschlicherweise, daß Minitel die Entwicklung des Internets in Frankreich um zehn Jahre zurückgesetzt hat.

Wahr ist, daß Franzosen lange vor Amerikanern virtuelle Gemeinschaften aufbauten und in Cybersex und falschen Identitäten schwelgten, über zehn Jahre bevor die meisten Amerikaner von computerunterstützter Kommunikation gehört hatten. Als engstirniger Ideologe konnte Rossetto es nicht zulassen, daß ein europäisches, nationales Telefonmonopol erfolgreich Hi-Tech der Zukunft erschuf - vor den Neo-Liberalen Kaliforniens. Und viel wichtiger, der Westküstenguru muß das merkwürdige Paradox dieser Gegenüberstellung vermeiden. Während es nach wie vor schwierig ist, Online-Dienstleistungen über das Netz zu verkaufen, hat Frankreich, über Telekom Frankreich, einen lebendigen, kommerziellen Sektor innerhalb von Minitel erschaffen, der über erstklassige Fernsprechleitungen funktioniert. Selbst der Warentausch funktioniert besser auf Minitel als im Netz!

Nicht auf einer Ideologie des freien Marktes begründet, stellt sich das Netz so unvermeidlich als Produkt einer Mischwirtschaft der zeitgenössischen Welt dar.

Die komplette Abwesenheit einer Diskussion über Minitel in 'Rewired' ist das beste Beispiel des kalifornischen Blickwinkels dieses Buches. Obgleich immer noch operativ im Nachbarland seines Wohnsitzes, denkt Hudson - wie Rossetto - daß Minitel nicht mehr als eine überholte Technologie ist, die sich dem kalifornischen Modell von Computer-Kommunikationn anpassen muß. Jedoch ist das Minitelterminal der Vorläufer des seit langem angekündigten Netzcomputers. Ausserdem zeigt Minitels Wachstumskurve, daß es keine inhärente neo-liberale Logik im Bezug auf das Wachstum eines Netzwerks gibt. Wie viele andere Sektoren in Frankreich, wuchs Minitel als ein kreativer Zusammenschluß des Staates, von Privatunternehmen und der Gemeinden. Die Entwicklung eines anderen Verbundsnetzes als dem Internet ist wichtig, weil sie die Möglichkeit einer Entwiclung aus dem Zusammenspiel verschiedener Sektoren der Gesellschaft veranschaulicht.

Nicht auf einer Ideologie des freien Marktes begründet, stellt sich das Netz so unvermeidlich als Produkt einer Mischwirtschaft der zeitgenössischen Welt dar. Anstatt pessimistischer zu werden, sollte die Verbreitung der Netzwerke die amerikanische Linke in zunehmendem Maße optimistisch werden lassen. Da eine neo-liberale Ideologie nicht innerhalb des Cyberspace verwirklicht werden kann, werden sich schließlich die Tore einer radikaleren Nutzung interaktiver Technologien öffnen. Schließlich wird die globale Natur des Netzes langsam die Isolation der Amerikaner von den Erfahrungen anderer Leute zusammenbrechen lassen, einschließlich von jenen, welche die gemeinen Europäer beisteuern. Hudson sollte sich möglicherweise nicht so zurückhalten, wenn er seine Überseeerfahrungen mit den Zuhausegebliebenen teilt. Während sich die Bedingungen verbessern, könnten amerikanische Linke das Selbstvertrauen gewinnen, sich Sozialdemokraten und nicht Liberale zu nennen! Die Zukunft wird wired (verdrahtet) sein, aber zweifellos nicht in den Weisen wie 'Wired' sie proklamiert, und auch nicht in der Weise, wie 'Rewired' sie sich momentan ausmalt...

Richard Barbrook ist ein Mitglied des Hypermedia Research Centre, University of Westminster, London.

David Hudson in Zusammenarbeit mit eLine-Produktionen: 'Rewired': a brief (and opinionated) net history, Macmillan Technical Publishing, Indianapolis IA 1997, S. 327, US$ 29.99.