Riskanter Flirt Merkels mit Cameron
Die Fronten sind beim zweiten Budgetgipfel verhärtet, ein Scheitern droht, obgleich Merkel sich nun mit Frankreich verbündet
Sechs Stunden Verspätung, lange Gesichter, kein Kompromiss in Sicht. So begann am Donnerstag der zweite und womöglich entscheidende EU-Gipfel zum Rahmenbudget für die Jahre 2014 bis 2020. Eigentlich sollte das Treffen die Einigungsbereitschaft der 27 EU-Chefs und das Verhandlungsgeschick von Ratspräsident Herman Van Rompuy demonstrieren. Ein Deal sei zum Greifen nahe, hatte der Belgier vor dem Treffen verkündet.
Stattdessen: Sprachlosigkeit, Macho-Gehabe, Blockade. Der Streit um das Budget "für den Rest dieses Jahrzehnts" (Van Rompuy) eskalierte genau in dem Moment, da er gelöst werden sollte. Der Entwurf in Höhe von rund einer Billion Euro müsse nochmals massiv gekürzt werden, sonst werde es keine Einigung geben, drohte der britische Premier Cameron. "Dutzende Milliarden" Euro wolle Cameron kappen, sagte ein britischer Regierungsvertreter.
London steht mit seiner Vetodrohung nicht allein. Auch Stockholm und Kopenhagen drohen mit einem "Nein", sollten sie nicht neue Rabatte auf ihre EU-Zahlungen erhalten. Die Gegenposition bezog Frankreichs Staatschef Francois Hollande. Das neue Budget müsse dem Wirtschaftswachstum dienen und die Subventionen für (französische) Bauern sichern, forderte der Sozialist zum Gipfelauftakt. Wer nicht mitziehe, den werde er "zur Vernunft bringen". Zwischen beiden Lagern: Sprachlosigkeit. Obwohl es mehrere bilaterale und trilaterale Treffen vor dem eigentlichen Gipfel gab, gingen sich Hollande und Cameron aus dem Weg. Während Cameron zusammen mit Kanzlerin Merkel und Ratspräsident Van Rompuy tagte, kungelte Hollande mit Italienern, Spaniern und Polen. Der britische "Independent" machte daraus einen "Clash".
Doch es wäre zu einfach, den Konflikt auf das übliche britisch-französische Gerangel zu reduzieren. Es ist auch zu einfach, Nettozahler gegen Nettoempfänger zu stellen, oder - noch simpler - Geber- gegen Nehmerländer. Denn Briten und Franzosen haben Allierte. Cameron kann neben Schweden und Dänemark auch die Niederlande zu seinen Verbündeten zählen, mit Abstrichen auch Deutschland. Hollande hat neben Italien und Spanien die EU-Kommission und das Europaparlament auf seiner Seite.
Verworrene Lage
Und die scheinbar geschlossene Front der Nettozahler ist in Wahrheit in sich gespalten. So machte Merkel vor Beginn des Gipfels klar, dass sie diesmal auf eine Einigung setze - und nicht auf Krawall wie Cameron. Und der italienische Noch-Premier Monti verlangte genau wie Hollande neue Wachstumsimpulse aus dem EU-Budget - dabei ist auch das Krisenland Italien immer noch Nettozahler.
Wie verworren die Lage ist, macht das Gastgeberland Belgien deutlich. Obwohl Ratspräsident Van Rompuy ein Belgier (Flame) ist, wies der belgische Premier Di Rupo (ein Wallone) dessen ersten Kompromissentwurf zurück. Er sei "unausgeglichen" und liege viel zu weit unter den Vorgaben des letzten Sieben-Jahres-Plans, so der sozialistische Politiker. Damit stand Belgier gegen Belgier - bisher übten die beiden den Schulterschluss.
Letztlich geht der Riss durch alle EU-Länder. Weniger EU-Ausgaben bedeuten nämlich auch weniger EU-Hilfen - sogar im reichen Deutschland. Wird das Budget, wie sich am späten Abend abzeichnete, auf 960 Mrd. Euro gekürzt, so werden auch weniger EU-Fonds in strukturschwache Regionen etwa in Ostdeutschland fließen. Gleichzeitig muss Deutschland aber mehr zahlen - da es, verglichen mit den Krisenländern des Südens, mehr einnimmt.
Merkels Hin und Her stiftet Verwirrung
Dieses Dilemma ließe sich nur lösen, wenn sich die EU nicht mehr vorwiegend aus Beiträgen der Mitgliedsländer, sondern aus Eigenmitteln finanzieren würde. Genau dies sieht auch der Lissabon-Vertrag vor. Das Europaparlament fordert deshalb, die geplante Finanztransaktionssteuer solle direkt in das EU-Budget fließen. Doch das blockiert nicht nur Cameron. Auch Merkel ist dagegen, obwohl sie bei der neuen "Tobin Tax" nach viel Hin und Her mitmacht.
Widersprüchlich ist auch die deutsche Haltung zu Großbritannien. Beim ersten Budgetgipfel im November hat Merkel sich noch ganz auf die Seite der Briten geschlagen. Nun, beim zweiten Anlauf, suchte sie hingegen eine gemeinsame Linie mit dem Franzosen Hollande. Mit dem Hin und Her wolle sich die Kanzlerin als unparteiische Vermittlerin positionieren, heißt es in Berlin.
Zunächst stiftete Merkel aber vor allem Verwirrung. Und ob ihre Taktik aufgeht, ist alles andere als sicher. Der Flirt mit Cameron birgt nämlich die Gefahr, dass dieser sich in seiner harten Linie bestätigt fühlt und am Ende völlig verrennt. Seit Camerons Europarede und der Ankündigung eines EU-Referendums ist diese Gefahr sogar noch einmal gewachsen.
Drohende Kürzungen
Doch Merkel hat es versäumt, den Briten zur Ordnung zu rufen. Stattdessen heizte sie - genau wie Cameron - eine emotionale Debatte über überhöhte EU-Beamtengehälter an (Populistische Ablenkungsmanöver). Das Ergebnis dürfte sein, dass das Budget für die EU-Verwaltung kräftig zusammengestrichen wird. Dabei macht es mit 62,6 Mrd. nur rund 6,1 Prozent des gesamten EU-Haushalts aus.
Die Kürzungen kommen zudem in einer Zeit, in der Brüssel - wegen der Eurokrise - immer mehr Aufgaben zugeschoben werden. Schon beim nächsten EU-Gipfel im März will Merkel durchsetzen, dass die EU-Kommission noch mehr Durchgriffsrechte auf nationale Haushalte bekommt - wofür eigentlich mehr Personal und Geld nötig wäre.
Kürzungen drohen auch beim Studentenaustauschprogramm Erasmus, bei mehreren großen Forschungsprojekten sowie bei Energie und Infrastruktur. Sollten die geforderten Schnitte tatsächlich umgesetzt werden, könnte die EU zum ersten Mal ein Budgetdefizit bekommen, warnte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Joseph Daul. Sozialdemokraten und Grüne drohten sogar mit Ablehnung, falls das Budget am Ende sozial unausgewogen sei.
"Wenn hier heute gesagt wird: 'Vogel, friss oder stirb!', dann glaube ich nicht, dass sich die europäischen Parlamentarier das gefallen lassen", warnte Parlamentspräsident Martin Schulz, ein deutscher SPD-Politiker. Im Klartext: Selbst wenn sich die EU-Chefs doch noch einigen - wonach es am ersten Gipfelabend nicht aussah - könnte das neue EU-Budget immer noch scheitern.
Im schlimmsten Fall würde der Haushalt dann nur noch von Jahr zu Jahr fortgeschrieben - mit einem zweiprozentigen Inflationsaufschlag. Für Deutschland wäre das ein Problem, denn es würde nicht nur sein Veto-Recht, sondern auch noch einen speziellen Rabatt auf seine Nettozahlungen verlieren. Merkels Flirt mit Cameron hätte sich dann nicht nur nicht ausgezahlt - er könnte sogar massive finanzielle Nachteile für Deutschland bringen.