Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus

Bild: Malte Daniljuk, Daten: Ifem

Der Mythos in der Auslandsberichterstattung am Beispiel des Ukraine-Konflikts in deutschen Medien

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Die Krise um die Ukraine hat die deutsche Öffentlichkeit in bisher ungekannter Weise polarisiert. Allerdings standen sich nicht, wie in einem liberalen Schema von Öffentlichkeit vorgesehen, unterschiedliche Meinungen im Raum der medial abgebildeten Öffentlichkeit gegenüber. Die Gräben verliefen zwischen großen Teilen des Publikums und den professionellen Redaktionen. Die Netzmedien trugen wesentlich dazu bei, diese Meinungskluft in bisher ungekannter Weise zu repräsentieren.

Protest am 24. November 2013 in Kiew. Bild: Ivan Bandura/CC-BY-SA-2.0

Der Ukraine-Konflikt in den deutschen Medien

Als sich ab 21. November 2013 die ersten Demonstrationen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, sammelten, um dagegen zu protestieren, dass die Regierung Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union suspendiert hatte, waren die Redaktionen für Außenpolitik zunächst überrascht. Innerhalb weniger Tage setzte sich jedoch eine dominante Lesart der Ereignisse durch, die Kennern der innenpolitischen Situation in der Ukraine bereits als undifferenziert bzw. einseitig erscheinen musste. Diese Art der ersten Berichte legte bereits Schemen vor, die über das gesamte folgende Jahr weitererzählt werden sollten.

Vom ersten Tag an spielten Argumente gegen das betreffende Abkommen kaum eine Rolle. Dass es etwa auch Demonstrationen gegen eine EU-Assoziierung gab, wurde höchstens nebenbei erwähnt. Die Berichterstattung bildete keine gesellschaftliche Debatte um ein kontroverses Thema ab, sondern benannte polare Positionen - für oder gegen das Abkommen. Stellungsnahmen und Sichtweisen der damaligen Opposition nahmen unverhältnismäßig großen Raum ein. Berichte suggerierten teilweise, dass eine Gesamtheit ("die Hauptstadt Kiew", "die Ukraine") sich "gegen Präsident Wiktor Janukowitsch auflehnt". Als scheinbar unabhängige Experten bezeugten Vertreter prowestlicher Think-Thanks wie die Renaissance-Stiftung diese dominante Sichtweise.

Das politische Spektrum des Euro-Maidan wurde nicht vollständig abgebildet. So wurde zwar teilweise erwähnt, dass sich gemeinsam mit den Parteien von Vitali Klitschko und Julia Timoschenko auch Rechtsradikale von der Partei Swoboda an den Bündnis beteiligten, die unmittelbar militant gegen Institutionen der gewählten Regierung und die Polizei vorgingen. Sie wurden in der Berichterstattung jedoch beschönigt ("Nationalisten", "rechtspopulistisch"). Ihr Auftreten wurde später entweder unkommentiert hingenommen oder vollständig verschwiegen. Die teilweise extrem gewalttätige Formen des Protests wurde entweder ignoriert oder ungewöhnlich unkritisch als selbstverständlicher Ausdruck einer "demokratischen Opposition" gegen einen nicht-legitimierten Herrscher hingenommen.

Dieser starke Grad an negativer Personalisierung, anfänglich bezogen auf die Person von Präsident Wiktor Janukowitsch, bestimmte die Berichterstattung von Anfang an. Bei der Frage von dessen Legitimität hätte ein schneller Blick auf die regionale Stimmenverteilung bei den vergangenen Wahlen bereits ausgereicht, um zu erkennen, dass keine Regierungspartei in der jüngeren Geschichte der Ukraine über eine landesweite Anerkennung verfügte.

Hintergründe zum politischen und wirtschaftlichen System der Ukraine, ihren Politkern und Parteien, die angesichts der zumindest anfänglich häufig zitierten "Orangen Revolution" zum Grundlagenwissen gehören müssten, spielten kaum eine Rolle. Eine auffällige Auslassung stellt dies schon deshalb dar, weil Teile der EU, insbesondere Deutschland, mit dem Assoziierungsabkommen u.a. die Forderung verbunden hatten, die rechtskräftig verurteilte Politikerin Julia Timoschenko vorzeitig zu entlassen, wie anfänglich noch berichtet wurde. Der Konflikt war also unmittelbar mit dem widersprüchlichen Charakter der politischen Parteien verbunden.

Massive und konsonante Darstellung

Ein Vergleich der ersten Berichte über den sich abzeichnenden innenpolitischen Konflikt in der Ukraine zeigt bereits, dass in den verschiedenen professionellen Massenmedien, privat und öffentlich, in Radio, Print und Fernsehen, stark einheitlich berichtet wurde. Der absolut überwiegende Teil der Beiträge stammte von den großen Agenturen Reuters, AFP und DPA, was übergreifend über verschiedene Medien zu exakt gleichlautenden Berichten führte. Dort, wo eigene Korrespondenten berichteten, saßen diese zu diesem Zeitpunkt in Moskau und Warschau. Kein einziges deutsches Medium hatte einen eigenen dauerhaft stationierten Korrespondenten in der Ukraine.

Ab Dezember 2013 nahm der Anteil der Berichte über die Ukraine deutlich zu, ohne dass der bereits eingeführten Lesart des Konflikts wesentlich neue Sichtweisen hinzugefügt wurden. Laut Infomonitor des IFEM stellte das Land bereits im Dezember das mit Abstand wichtigste Auslandsthema. Die Berichterstattung war so außergewöhnlich massiv, dass sie den Anteil der deutschen Politikberichterstattung insgesamt nach oben trieb, obwohl der Dezember sonst ein politisch eher ereignisarmer Monat ist.

Bild: Malte Daniljuk, Daten: Ifem

In den folgenden sechs Monaten blieb der Konflikt nicht nur das bestimmende außenpolitische Thema, sondern das Hauptthema der Nachrichten überhaupt, wobei der März mit der Besetzung der Krim den absoluten Höhepunkt bildete. Erst ab Juni 2014 verdrängten zunächst die Fußballweltmeisterschaft und schließlich die Offensive der Organisation "Islamischer Staat" in Syrien und Irak das Thema von seinem Spitzenplatz. Seit September liegt der Umfang der Berichterstattung wieder auf dem bereits hohen Niveau des Dezember 2013.

Damit erreichte die Ukraine-Berichterstattung frühzeitig die beiden Merkmale, die ein Thema medienpolitisch besonders relevant werden lassen. Medial vermittelte Inhalte entfalten dann eine besondere Wirkung auf die Sichtweise von relevanten Teilen des Publikums, wenn sie sowohl massiv als auch konsonant auftreten. In einer liberal verfassten Mediendemokratie sollte dieser Fall theoretisch gar nicht eintreten können. Unterschiedliche Eigentumsformen und Eigentümer sowie verschiedene Einzelmedien mit ihren jeweiligen Redaktionen sollten eine Außenpluralität garantieren, dass also eine Vielfalt von Anbietern eine Ausgewogenheit in den erreichbaren Informationen gewährleistet.

Zudem sollte die Gestaltungs- und Meinungsfreiheit innerhalb einer Medienorganisation für eine gewisse Binnenpluralität sorgen. Damit ist gemeint, dass auch Nutzer eines Einzelmediums die Möglichkeit haben müssen, ein vielfältiges Spektrum von Informationen und Meinungen kennenzulernen. Der Grundsatz der Binnenpluralität besitzt Verfassungsrang besonders für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland.

Produktion von Mainstream

Die Tendenz, bestimmte Interpretationen von Ereignissen zu vereinheitlichen, widerspricht zwar dem normativen Anspruch einer modernen und demokratischen Gesellschaft. Es handelt sich aber um eine feste soziale Konstante. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss stellte fest, dass menschliche Gesellschaften durch bestimmte Erzählungen verbunden sind, die für das Denken der Gruppe eine repräsentative Funktion ausüben.1

Um dieses zentrale Selbstverständnis, dass sich auf einen Satz mit Subjekt, Handlung und, wenn nötig, Objekt reduzieren lässt, werden alle weiteren Erzählungen und ihre Elemente gruppiert. Elementar für das geteilte Selbstverständnis und damit das Funktionieren der Gruppe ist, so Claude Lévi-Strauss, dass alle ihre Mitglieder diese konstitutive Erzählung, diesen Mythos, anerkennen und sich aktiv an seiner Forterzählung beteiligen.

Ein Mitglied der "Selbstverteidigungskräfte" des Maidan am 18. Februar in Kiew. Bild: Mstyslav Chernov/CC-BY-SA-3.0

Der Mythos, um den sich die mediale Darstellung des Ukraine-Konflikts gruppiert, lautet: "Eine demokratische Opposition verteidigt sich gegen einen autokratischen Herrscher." Die beiden Akteure bilden das für einen Mythos typische Gegensatzpaar - demokratisch vs. autokratisch - und schließen an den alles beherrschenden Mythos westlicher Gesellschaften an: "Wir = demokratisch". Der absolut überwiegende Teil der internationalen Konfliktberichterstattung, nicht nur im Fall der Ukraine, fügt diesem Mythos weitere Elemente hinzu, die darauf angelegt sind, das zentrale Selbstverständnis zu bestätigen und variantenreich immer wieder neu zu erzählen.

In den 1960er Jahren wendete Roland Barthes die Methode der strukturalen Analyse von Mythen erstmals auf ein modernes Mediensystem und seine Bildersprache an.2 Nicht ganz zufällig wählte er die Auslandsberichterstattung als Gegenstand seiner Untersuchung, da sich hier schematische Bilder von der Welt, das produzierte Weltbild, besonders deutlich abzeichnen. Die französischen Medien, so Roland Barthes, entfernen nicht die französische Imperialität aus ihrer Darstellung der Kolonien. Entfernt werden die Eigenschaften des Kolonialismus. Eine Funktion des Mythos besteht darin, ein Gesprächsthema anzubieten, aber das Thema zu bereinigen. "Die Dinge verlieren in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung. Der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage."

In der jüngeren Medien- und Kommunikationswissenschaft wird die Entstehung von dem, was Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes den Mythos nannten, also das Entstehen und die Folgen einer von Widersprüchen bereinigten schematische Aussage, unter den Begriffen Frame oder Mainstreaming3 behandelt. Der Journalismus beschreibt seine diesbezüglichen Tätigkeiten mit den einfachen Handlungen: Auswählen, Gewichten und Kommentieren. Letztlich bleiben es aber unterschiedliche Aspekte der gleichen Handlung - eine plausibel wirkende Erzählung für einen gruppenbezogenen Konsens herzustellen.

Inhaltliche Bereinigung der Ukraine

Anhand der drei Elemente des Ukraine-Mythos - "demokratische Opposition", "sich verteidigen gegen" und "autokratischer Herrscher" - können im Jahresverlauf unzählige Aspekte ausgemacht werden, welche die Plausibilität dieser zentralen Erzählung empfindlich hätten stören müssen. Einige Punkte, die den demokratischen Charakter der damaligen Opposition betreffen, wurden oben bereits benannt.

Im gesamten vergangenen Jahr schaffte es kein einziges deutsches Medium, eine kritische Analyse der jüngeren ukrainischen Geschichte vorzulegen, die auch nur andeutet, was alle in der Ukraine wissen und was sogar ein zentrales Motiv für viele Teilnehmer an den Maidan-Protesten war: Dass die Vertreter ausnahmslos aller etablierten Parteien Einflussfiguren der so genannten Oligarchen sind. Die so bezeichneten Unternehmer kamen zunächst ausschließlich aus den Branchen Energie und Stahl, welche aus wirtschaftlichen Gründen gute Gründe für enge Bindungen an Russland haben (u.a. Rinat Achmetow, Wiktor Pintschuk und Dmitrij Firtasch). Andere Oligarchen wie Pjotr Poroschenko traten in deutschen Medien hingegen unter der sachlichen Bezeichnung Milliardär, Magnat und "Unterstützer der Orangen Revolution" auf.

Rechtsextreme waren von Anfang an dabei: UNA-UNSO-Mitglieder in Kiew am 24. November 2013. Bild: CC-BY-SA-2.0

Ausgerechnet der Ausgang der "Orangen Revolution", die Machtergreifung von Wiktor Juschtschenko (Unsere Ukraine) und Julia Timoschenko, hatte das Land genau zehn Jahre zuvor in neue Untiefen von Korruption und Willkür gestürzt. Entsprechend wählte ein Großteil der Ukrainer sechs Jahre später mehrheitlich Wiktor Janukowitsch (Partei der Regionen). Die beiden offensichtlich beschädigten Protagonisten der Orangen Revolution traten in der Berichterstattung denn auch deutlich in den Hintergrund. Die erkennbaren Gesichter der aktuellen Konjunktur stellten unverbrauchte Figuren wie Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk aus der Vaterlandspartei von Timoschenko. Die "Gasprinzessin" selbst blieb auch dann noch im Hintergrund des medial vermittelten Geschehens, als sie am 18. März telefonisch kundtat, dass sie "diese verdammten Russen abknallen" und den "Bastard Putin in den Kopf schießen" wolle.

Das linguistische Prädikat des Ukraine-Mythos - "sich verteidigen gegen" - setzt darauf, dass die offensive und gewalttätige Strategie der Opposition, die sich über alle möglichen Gesetze stellte, als solches nicht gewürdigt wurde. Bis einschließlich Februar 2014 berichteten deutsche Journalisten vollkommen wertungsfrei darüber, dass die Opposition Barrikaden baut, öffentliche Gebäude besetzt oder anzündet oder den öffentlichen Verkehr unterbricht. Natürlich gehören auch körperliche Attacken auf Polizisten und politisch Andersdenkende zum scheinbar selbstverständlichen Inventar demokratischer Proteste. Der Angreifer war in der Sprache der Journalisten durchgehend "der Staat" ("Die Berkut greifen an"), während sich die Opposition grundsätzlich verteidigt. Darin wurde sie ab Mitte Dezember von höchster Stelle offiziell unterstützt: "US-Verteidigungsminister Chuck Hagel warnt die ukrainische Führung, Demonstranten militärisch zurückzudrängen."

Das Foto wurde am 2. Dezember 2013 auf der Seite der Partei Bratstwo gepostet. Bei dem schwarzen Zeichen auf der gelben Armbinde handelt es sich um die modifizierte Wolfsangel. Sie war das Symbol der SS-Division "Reich". Von 1991 bis 2003 war es das offizielle Symbol der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine (SNPU). Aus dieser Partei ging 2004 die von Oleg Tjagnibok geführte Partei "Swoboda" (Freiheit) hervor.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war für kritische Leser deutlich, dass es sich um einen Konflikt mit internationalen Dimensionen handelt. In der Ukraine traten zu diesem Zeitpunkt bereits Akteure wie US-Senator John McCain auf, der in den USA als Lobbyist des größten amerikanischen Energieunternehmens Exxon bekannt ist ("Exxon-John"). Auch die Staatssekretärin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, gehörte zu den frühesten internationalen Gästen auf dem Maidan. Eine Einordnung geopolitischer Interessen und insbesondere der USA an der Ukraine boten deutsche Medien kaum. Konkrete wirtschaftliche Vereinbarungen, etwa von Exxon und Chevron, sind bis heute kein Thema, ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise.

Das linguistische Objekt, der "autokratischer Herrscher", machte im Verlauf der Berichterstattung interessante Wandlungen durch. Überflüssig festzustellen, dass die Entscheidung des gewählten Präsidenten, ein zweifelhaftes Abkommen mit der EU zu unterzeichnen, im journalistischen Verständnis ebenso eine Angriffshandlung darstellt wie seine Weigerung, vorzeitig zurückzutreten. Der Begriff Paradigma bezeichnet in der Linguistik einen Gegenstand, der ohne inhaltliche Verluste durch andere Objekte ausgetauscht werden kann. Ab Mitte Dezember wurde das Paradigma "autokratischer Herrscher" zusehends von einem anderen Politiker besetzt: Wladimir Putin. Dabei wurden in normalen nachrichtlichen Beiträgen frühzeitig emotionale bzw. psychologisierende Kategorien zur Anwendung gebracht ("Kalt, skrupellos, erfolgreich: Was treibt den Mann im Kreml?") Ab diesem Zeitpunkt gestaltete sich der Ukraine-Konflikt für deutsche Leser zunehmend als ein Konflikt mit Russland und nicht mehr als innerukrainisches Problem (siehe: Die wahrhaften Putin-Versteher).

Oppositionelle Lesarten internationaler Politik

In den 1970er Jahren setzte der jamaikanisch-britische Soziologe Stuart Hall die strukturalistische Methode der Mediananalyse fort. Die Diskussionen der Cultural Studies räumten vor allem mit dem Bild vom passiven Rezipienten auf. Ausgehend von der "relativen Autonomie" der übermittelten Nachricht stellte Stuart Hall fest, dass die Empfänger unterschiedlich mit ihrem Inhalt umgehen und ihn keineswegs immer in der beabsichtigten dominanten Lesart übernehmen. Daneben besteht eine "ausgehandelte Position". Der Zuschauer erkennt zwar die Legitimität der hegemonialen Position grundsätzlich an, zweifelt aber aufgrund der eigenen Erfahrungen an ihrer generellen Gültigkeit.

Ein drittes Zuschauerverhalten beschreibt Hall als oppositionelle Lesart: Zuschauer können die Nachricht auf völlig gegensätzliche Weise verstehen. "Einer der wesentlichen politischen Momente (sie fallen übrigens aus offensichtlichen Gründen mit den Krisensituationen innerhalb der Sendeanstalten selbst zusammen) wird von dem Punkt markiert, an dem Ereignissen, die normalerweise in ausgehandelter Form bezeichnet und dekodiert werden, eine oppositionelle Lesart zugeschrieben wird."4

Bisher war die Frage, wie welche Teile des Publikums auf Medieninhalte reagieren, ob sie die dominante Lesart internalisieren oder gar ein oppositionelles Verständnis entwickeln, Gegenstand von Spekulationen oder aufwendigen repräsentativen Befragungen. Eine öffentliche Repräsentation oppositioneller Diskurse fehlte weitgehend, wenn der Medienwissenschaft auch klar war, dass unterhalb der medial vermittelten Öffentlichkeit eine andere, eine Encounter- bzw. eine Mund-zu-Mund-Öffentlichkeit besteht, die sich gefährlich weit von den hegemonialen Diskursen entfernen kann.

Das wichtigste medienpolitische Ereignis des vergangenen Jahres besteht darin, dass große Teile des deutschen Publikums mithilfe der Netzmedien ihre oppositionelle Lesart, in diesem Fall des Ukraine-Konflikts, drastisch und unmissverständlich öffentlich Ausdruck verliehen haben. In den sozialen Netzwerken und den Online-Foren der großen Inhalteanbieter entlud sich Widerspruch in bisher ungekannter Form. Das, was ich an anderer Stelle als "Götterdämmerung des Auslandsjournalismus" bezeichnet habe, wird zukünftig die politische Kommunikation im Zusammenhang mit internationalen Konflikten massiv beeinflussen, zumal ein derartiger Vertrauensverlust normalerweise einen sehr nachhaltigen Charakter aufweist. Für große Teile des Publikums ist der Kaiser nackt (siehe: Meinungskluft um die Ukraine).

Auch wenn es zu früh ist, die inneren Logiken und Auswirkungen dieser Protestwelle detailliert zu beschreiben, lassen sich einige Hypothesen formulieren. Die massive und konsonante Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt hat - erstens - keineswegs dazu geführt, dass das Publikum die intendierte Lesart verinnerlichte, sondern sie hat das Vertrauen in die traditionellen Massenmedien, auch das Selbstvertrauen innerhalb der Medienapparate, massiv geschädigt. Dies beschreibt etwa Annette Milz, Chefredakteurin des Medium-Magazin, wenn sie von einer "Parallelwelt der Meinungen" spricht, die die "Glaubwürdigkeit der etablierten Medien ins Wanken bringt".

Das Publikum hat es - zweitens - gelernt, eigene Sichtweisen effektiv öffentlich vorzubringen. Allerdings nutzt nur eine Minderheit dafür eigene Publikationskanäle. Zum absolut überwiegenden Teil befinden sich die oppositionellen Meinungsäußerungen unter der technischen Hoheit der traditionellen Medien, in ihren Kommentarspalten und Foren. Die Medienwissenschaftler Christian Baden und Nina Springer untersuchten die Leserkommentare auf dem Höhepunkt der europäischen Schuldenkrise im Jahr 2012. Sie fanden heraus, dass die Kommentare damals größtenteils innerhalb des interpretativen Repertoires der genutzten Medien blieben: "Allerdings nutzen sie den Medienframe ziemlich frei, um ihre eigene Sichtweise zu entwickeln, den Fokus zu verlagern und neue Aspekte herauszuarbeiten." Zwar seien damals - anders als aktuell in der Ukraine-Kommentierung - keine "einheitlichen alternativen Repertoires" entwickelt worden, aber die Nutzer ergänzten auf wertvolle Weise die Vielfalt von den Anliegen, die auf den großen Nachrichtenseiten diskutiert wurden.

Die etablierten Medien haben sich - drittens - als unfähig und unwillig erwiesen, oppositionelle Lesarten auch nur ansatzweise zu integrieren, um etwa eine ausgehandelte Position zurückzugewinnen. Weder führte die öffentliche Kritik dazu, dass sich die redaktionelle Linie hinsichtlich der Ukraine-Berichterstattung substantiell änderte. Noch wurde die Fehlerhaftigkeit der eigenen Arbeit auch nur eingeräumt. Innerhalb der privaten Medien dominiert öffentlich eine aggressive Abwehrhaltung. Die zuständigen Redakteure versuchen, die Kritik durch das Publikum als "gesteuerte Kampagne" zu rationalisieren.

Inzwischen nutzen die großen Anbieter ihre Verfügungsmacht, um die Möglichkeit zu kommentieren grundsätzlich einzuschränken oder unangepasste Meinungsbeiträge zu zensieren. Auch bei den privaten Netzwerken Facebook und Twitter wurden Nutzer aus politischen Gründen zensiert oder vollständig gesperrt. Die öffentlich rechtlichen Medien sahen sich teilweise gezwungen, Probleme einzuräumen, wobei sie ihren systematischen Charakter in Abrede stellten und auf bedauerliche Einzelfälle verwiesen (siehe: Glasnost bei ARD-Aktuell).

Von der Kriegsberichterstattung zur kriegerischen Berichterstattung

Im Kern bietet der journalistische Umgang mit der Ukraine ein Modell dafür, wann Kriegsberichterstattung zu kriegerischer Berichterstattung wird, die Journalisten also nicht mehr als Reporter, sondern als Teilnehmer des Konflikts eingestuft werden müssen, dafür, wann Medien als kriegführende Partei wahrgenommen werden sollten. Insofern kann der Nutzen einer ansonsten äußerst beschämenden Situation darin bestehen, Warnhinweise abzuleiten, die es den Zuschauern ermöglichen, rechtzeitig Maßnahmen zur Auto-Immunisierung einzuleiten.

Ein zentrales Warnsignal besteht sicher im erzählerischen Motiv: "Demokratische Opposition verteidigt sich gegen autokratischen Herrscher". Dieser Mythos erweist sich bei einem genaueren Rückblick als ein Paradigma, das im Zusammenhang mit zahlreichen Fällen von westlichen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder auftritt. Da mythische Erzählungen sich im Wesentlichen aus dem Selbstverständnis der Erzähler speisen und nur teilweise bewusst gestaltet sind, lässt sich sicher vorhersagen, dass wir diese Geschichte auch in Zukunft noch häufiger hören werden.

19. Fenruar in Kiew.

Es handelt sich um ein Motiv dessen Aktanten austauschbar sind, egal ob es sich um Georgien, Irak, Iran, Libyen, Sudan, Syrien, Russland oder Venezuela handelt. Dabei funktioniert die Erzählung völlig unabhängig davon, wie demokratisch oder autokratisch die Regierungsform des jeweiligen Landes ist, wie demokratisch oder gar faschistoid die Opposition verfasst ist - Stichwort Libyen, Syrien, Sudan und Ukraine. Für das Publikum sollte die goldene Regel gelten: Menschenrechte waren noch nie ein handlungsleitendes Motiv für außenpolitische Entscheidungen und schon gar kein Grund dafür, einen Krieg zu entfesseln.

Ein zweiter deutlicher Warnhinweis besteht in einer aggressiven Personalisierung bei der Beschreibung gesellschaftlicher Probleme. Wenn Menschen, die sich professionell mit Politik beschäftigen, seien es Journalisten oder Politiker, auch nur versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass ein manifester gesellschaftlicher Missstand maßgeblich von einer einzelnen Person verantwortet wird, sollte man ihnen sofort das Misstrauen aussprechen und das Abonnement kündigen.

Eine derartig defizitäre Problembeschreibung ist nicht einfach beleidigend unprofessionell, sondern dient in der Regel dazu, von anderen, verdeckten Interessens- und Konfliktlagen abzulenken. Politik ist organisiertes Gruppenhandeln. Die offensive Stigmatisierung einzelner gegnerischer Repräsentanten zielt darauf ab, einen Konflikt zu eskalieren.

Damit haben sich die Signale im eigentlichen Sinn schon erschöpft, denn weitere Hinweise bestehen vor allem darin, dass etwas nicht berichtet wird. Auslassungen und Lücken bei der Beschreibung eines Konflikts bieten zwar zuverlässige Hinweise auf strategische Absichten der berichtenden Person. Sie sind aber ihrer Natur nach schwerer zu erkennen, weil sie genau in der Abwesenheit von etwas bestehen.

Eine strategische Auslassung lässt sich etwa aus dem für Konflikte typischen Verlauf ableiten. Sie eskalieren normalerweise zwischen zwei Parteien in einer spiralförmigen Schaukelbewegung. Wenn eine berichtende Person in ihrer Darstellung das Aggressions- und Gewaltpotential einer der beteiligten Parteien herunterspielt bzw. ausgeblendet und eventuelle Gewaltmaßnahmen dieser Partei als notwendiges Verteidigungshandeln rechtfertigt, liegt häufig - nicht immer - eine Parteinahme vor.

Dieser Verdacht sollte auch bei einer polarisierenden Darstellung überprüft werden, wenn also über gesellschaftliche Zwischenpositionen nicht berichtet wird. In allen gesellschaftlichen Konflikten bestehen zusätzlich zu den beiden dominanten Antagonisten dritte Positionen, die anfänglich sogar die schweigende Mehrheit ausmachen. Im Verlaufe einer Eskalation werden sie häufig zu Minderheitspositionen. Medien, die eine solche Polarisierung durch ihre Berichterstattung unterstützen, sind - freiwillig oder unfreiwillig - Kriegspartei.

Zum Bereich verdächtig taktisches Verhalten kann es schließlich auch gehören, wenn die Berichterstattung ausschließlich auf den jeweils aktuellen Zustand eines Konflikts fokussiert und den Vorlauf, relevante Hintergründe und externe Interessen nicht benennt.

Spätestens wenn alle drei Haltungen in der Berichterstattung auftauchen - Positionierung, Polarisierung und Aktualitätsfixierung - sollten bewusst andere Quellen herangezogen werden.