Rückkehr nach Gaza
Nach fast einem Jahr sind in der Nacht zum Mittwoch wieder israelische Truppen in den Gazastreifen einmarschiert - um dort länger zu bleiben, vermuten Beobachter
Es war nicht das erste Mal, dass israelische Soldaten nach der Räumung der Siedlungen im Gazastreifen die Grenze überschritten hatten: Mehrmals waren kleinere Einheiten in den Landstrich eingedrungen, um dort Verhaftungen vorzunehmen oder im Grenzland nach Sprengstoff zu suchen. Doch nun ist es das erste Mal, dass die Armee eine großangelegte Offensive begonnen hat. Im Zentrum des Gazastreifens wurden in der Nacht drei Brücken und ein Elektrizitätswerk zerstört; im Süden rückten Truppen und Panzer ein und besetzten das Gebiet um den seit Jahren schon unbenutzten Flughafen. Operation Sommerregen soll die israelische Antwort auf „Operation schwindende Illusion“ sein, in deren Rahmen drei der Hamas nahe stehende Gruppen am Sonntagmorgen bei einem Angriff auf einen Armeeposten auf israelischem Gebiet außerhalb des Gazastreifens zwei Soldaten töteten und einen weiteren in den Gazastreifen verschleppt hatten (Nervenkrieg, Gaza-Streifen abgeriegelt)
Es ist kaum zum Aushalten: Immer wieder fliegen Kampfflugzeuge über die Stadt hinweg und durchbrechen die Schallmauer. Auch nach dem Dutzendsten Mal schreckt man zusammen, glaubt, irgendwo sei eine Rakete eingeschlagen, so wie zuvor immer einmal wieder anderswo im Gazastreifen in den vergangenen Wochen. In manchen Stadtvierteln haben die Menschen das Notwendigste zusammen gepackt und machen sich auf den Weg, weg von Rafah, dieser Ansammlung von grauen, überbewohnten Häusern, von denen Israels Geheimdienst glaubt, dass in einem von ihnen Gilad Schalit, der 19-jährige Soldat gefangen gehalten wird, der am vergangenen Sonntag von seinem Post außerhalb des Gazastreifens entführt worden war.
„Operation Sommerregen“, sagen die Sprecher der Armee, habe das Ziel den jungen Mann zu retten. Sie solle die Entführer unter Druck setzen, verhindern, dass sie den Unteroffizier woandershin, möglicherweise sogar nach Ägypten, verlegen und am Ende dafür sorgen, dass Schalit einigermaßen gesund wieder nach Hause kommt. Doch zunächst einmal haben sich die Einheiten am Mittwochmorgen rund um den seit Jahren schon unbenutzten Flughafen nieder gelassen, nachdem sie in der Nacht ohne den kleinsten Versuch der Gegenwehr dorthin vorgerückt waren, und scheinen abzuwarten – den Grund dafür kennt niemand: „Wenn die wollten, könnten die die Sache jetzt und hier zu Ende bringen“, sagt Abdul, der Übersetzer. Er kennt sich aus: Er war in Rafah, als das Militär im Mai 2004 im Rahmen von „Operation Regenbogen“ (Der Trennungskrieg) die Stadt belagerte und entlang der Grenze zu Ägypten Dutzende von Häusern zerstörte, um die sogenannte „Philadelphi-Straße“, damals eine rund 500 Meter breite Pufferzone mit Teerpiste in der Mitte, zu verbreitern. „Damals war hier von Anfang an die Hölle los. Die sind von Haus zu Haus gegangen und haben alles durchsucht.“
Vermutlich aber hat das Militär am Mittwoch noch vor allem die Aufgaben zu drohen, die möglichen Konsequenzen vor Augen zu führen: „Der diplomatische Weg ist ausgeschöpft“, sagt ein Regierungssprecher in Jerusalem in den Morgenstunden mit Blick auf die Vermittlungsversuche der ägyptischen und französischen Botschaften in den vergangenen Tagen: „Alle Versuche, diese Krise auf dem Gesprächsweg zu lösen sind fehl geschlagen, und uns bleibt nur noch der Weg eines Militäreinsatzes, von dem wir hoffen, dass er räumlich begrenzt bleiben wird.“ Er appellierte an die palästinensische Zivilbevölkerung, ihre Haltung zu ändern und sich für die bedingungslose Freilassung des Soldaten einzusetzen: „Der Soldat hat auf israelischem Gebiet seinen Dienst versehen und hat kein Verbrechen begangen. Seine Entführung ist ein Verbrechen. Möchten sie alle dafür bezahlen?“
Ein Gedanke, den auch der palästinensische Präsident Machmud Abbas aufgreift, als er wenig später auf die Offensive reagiert: Die Invasion sei ein „Kriegsverbrechen“, die „kollektive Bestrafung eines ganzen Volkes“, sagt er: „Die israelische Regierung behauptet, sie gehe gegen terroristische Infrastruktur vor, aber bis jetzt hat sie nur wichtige Bestandteile der zivilen Infrastruktur: Brücken und ein Elektrizitätswerk zerstört.“
Für Generalmajor Joav Galant sind dies allerdings notwendige Kollateralschäden, die, so der Chef des Armeekommandos Süd, das Ziel gehabt hätten, die Zahl der Opfer auf beiden Seiten so gering wie möglich zu halten. Bei einer Pressekonferenz in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen sagt er, die Armee werde alles Notwendige tun, um Gilad Schalit zurück nach Israel zu bringen: „Diese Operation hat geheime und öffentliche Aspekte, wie es bei solchen Ereignissen üblich ist.“ Eine dieser verdeckten Operationen wurde bereits am Morgen bekannt: In Gaza war ein Elitekommando eingerückt, um zwei Hamas-Funktionäre festzunehmen, denen vorgeworfen wird, Anschläge in Israel geplant zu haben. Um wen es sich dabei handelt, ist noch nicht bekannt. Galant kündigt an, es werde in den kommenden Tagen eine Reihe von ähnlichen Operationen folgen: „Leider kann unsere Antwort dazu führen, dass auch die Zivilbevölkerung leiden muss.“
Der Weg durch den Gazastreifen ist am Mittwoch morgen äußerst beschwerlich: Rafah im Süden ist von Gaza-Stadt im Norden abgeschnitten; der Weg von einem Teil des Landstrichs in den anderen ist nur in Verbindung mit einem Fußmarsch über die Trümmer der drei zerstörten Brücken möglich. Zudem fährt immer auch die Angst mit, in eine der Bombenfallen zu geraten, von denen die Essedin al Kassam-Brigaden behaupten, dass sie sie in den vergangenen Tagen aufgebaut haben. Wo sie sind, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar und auch die Taxifahrer können die Frage nach ihnen nicht beantworten: „Wenn hier welche wären, würde da schon ein Warnschild vorstehen. Oder glauben sie, die Brigaden wollen uns alle in die Luft jagen?“, sagt einer von ihnen mit einem Ton, als würde es ihn nicht sonderlich interessieren.
In Jerusalem absolviert Premierminister Ehud Olmert derweil einen Telefonmarathon, in dessen Verlauf er besorgten Staats- und Regierungschefs aus aller Welt erklärt, dass Israel keinerlei Absicht habe, dauerhaft im Gazastreifen zu bleiben. Doch viele Beobachter haben genau daran Zweifel. Sie sehen die Operation als Beginn einer langen Militärpräsenz im Gazastreifen. „Es wäre nicht das erste Mal, dass aus einer zeitlich begrenzt angelegten Operation eine andauernde Besatzung wird“, sagt beispielsweise Zeew Schiff von der Zeitung HaAretz: „Der Libanon-Feldzug sollte uns da einige Lektionen lehren: Anfangs als zeitlich begrenzte Invasion gedacht, um den Beschuss des israelischen Nordens vom Südlibanon zu beenden, wurde daraus ein 18-jähriges Abenteuer.“
Mit dem Einmarsch will die israelische Armee gegen den Beschuss durch Kassam-Raketen vorgehen
Im Moment sei das Operationsziel noch, den entführten Soldaten freizubekommen, sagt er: „Aber in der nahen Zukunft könnten Politiker und Bürger feststellen, dass man auch gegen den Raketenbeschuss von israelischen Städten vorgehen könnte, wenn man schon mal da ist.“
Seitdem vor allem der Islamische Dschihad seit Wochen Tag für Tag eine große Zahl von Kassam-Raketen, ein palästinensischer Eigenbau, auf die direkt an der Grenze zum Gazastreifen gelegene Stadt Sderot abfeuerte, wurde der Ruf nach einer militärischen Intervention über die gezielten Tötungen von Funktionären des Islamischen Dschihad hinaus immer lauter. Dass zumindest Olmert auch daran gedacht haben könnte, als er die Invasion gegen den Rat der Militärführung und den Willen einiger seiner Minister anordnete, zeichnete sich am Mittwoch gleich mehrmals ab. So gab Staatspräsident Mosche Katzaw seine Zurückhaltung in politischen Fragen auf, um den Abzug aus dem Gazastreifen vor fast einem Jahr als „großen Fehler“ zu bezeichnen: „Wir sollten uns keine Illusion machen, dass einseitige Schritte irgendeine diplomatische Lösung mit sich bringen wird“, sagte er der Zeitung Jerusalem Post: „Wir haben keine Gegenleistungen für Zugeständnisse bekommen.“
Außenministerin Tzipi Livni nahm in einem Treffen mit dem amerikanischen Generalstaatsanwalt Alberto R. Gonzalez direkt Bezug auf das Kassam-Feuer: „Israel kann keine Situation akzeptieren, in der seine Bürger Tag und Nacht in ihrem eigenen Land angegriffen werden; der Staat handelt aus Selbstverteidigung.“ Und die Zeitung Jedioth Ahronoth zitiert in ihrer Donnerstagsausgabe einen anonymen Regierungsmitarbeiter mit den Worten, die Operation sei auch dazu gedacht, die Infrastruktur der Hamas zu treffen: „Es wurde entschieden, mit der Gaza-Offensive zu beginnen, nachdem israelische Bürger wochenlang mit Kassam-Raketen beschossen wurden und alle diplomatischen Bemühungen gescheitert sind.“ Am Mittwochabend erklärte schließlich der Verteidigungsminister Amir Peretz, dass Truppen bald im Norden des Gazastreifens einmarschieren werden. Die Bewohner von Beit Hanun, von wo aus noch am Mittwoch Kassam-Raketen abgeschossen wurden, würden über Flugblätter aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Danach würde man mit Präzisionsschlägen die Raketenstellungen in den bewohnten Gebieten zerstören.
Am Mittwoch flog die israelische Luftwaffe nach Angaben des Militärs auch mit Kampfjets in Überschallgeschwindigkeit über den Palast des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad in Latakia. Damit will man auf Syrien Druck ausüben, den dort lebenden Hamas-Führer Khaled Mashaal auszuliefern. Er wird von der israelischen Regierung für die Entführung von Schalid verantwortlich gemacht. Zuvor hatte der israelische Justizminister Haim Ramon bereits erklärt, dass Mashaal, der schon mehrmals im Visier der Israelis stand, ein „Ziel“ sei.
Auf der palästinensischen Seite wird aber dennoch auch nach dem Beginn der Invasion die Hoffnung auf einen Gefangenenaustausch gehegt: Das Hamas-nahe Volkswiderstandskomitee droht auch am Mittwoch wieder damit, den Soldaten zu töten, falls Israel nicht auf die Forderung nach einem Gefangenenaustausch nachkommt. Dabei wähnen die Extremisten mittlerweile einen weiteren Triumph in ihrer Hand: Seit Sonntag wird ein 18-jähriger Amerikaner aus der israelischen Siedlung Itamar im Westjordanland vermisst. Am Mittwochmorgen präsentierte Abu Abir, ein Sprecher der Gruppe, bei einer Pressekonferenz den Reisepass des Jugendlichen: „Sollte sich Israel nicht umgehend aus Gaza zurück ziehen, wird er sterben. Wir meinen es ernst.“