Rüsselsheim ist überall

General Motors: 18 Jahre "soziale Verantwortung"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Michael Moore hat mit "Roger & Me" vor nunmehr 18 Jahren aus persönlichem Interesse einen Dokumentarfilm gedreht, der heute genauso aktuell ist wie damals

Jugendjahre eines Dokumentarfilmers: Michael Moore

Rüsselsheim? Das war in meiner Kindheit im Taunus der Ort, wo die Elefanten des Opel-Zoos herkamen, was dann auch den Ortsnamen für einen Dreiährigen absolut schlüssig erklärte, obwohl nur die Autofabriken von Opel in Rüsselsheim waren, der Zoo dagegen in Kronberg. Die Adam Opel AG, Inhaber der Autofabriken in Rüsselsheim, hat mit dem gemeinnützigen Zoo von Gregor von Opel heute auch wenig gemein. Sie wird von General Motors regiert. Und da herrscht ein rauher Wind.

Michael Moore erlebte dies 1986 hautnah mit. Er war in Flint in Michigan aufgewachsen, einer Stadt, in der eigentlich alle im dortigen General-Motors-Werk arbeiteten. So auch seine gesamte Familie. Nur der kleine Michael dachte, lediglich Pat Boone, Diane Shore und sein Vater würden für General Motors arbeiten – die ersten beiden kannte er als Werbeträger für General Motors.

Aufstand der General-Motors-Arbeiter 1936

Kurz vor dem Jahresende 1936 hatte es bei General Motors einen großen Streik gegeben, in Laufe dessen Tausende Arbeiter die Arbeit niederlegten und einige sich 44 Tage lang im Werk einschlossen. Sogar die Nationalgarde wurde zu Hilfe gerufen. Am 11. Februar 1937 gab General Motors nach und die Gewerkschaft der Automobilarbeiter wurde in dieser Zeit gegründet. Daraufhin wurden die Arbeitsbedingungen deutlich verbessert, doch dabei blieb es dann die nächsten 50 Jahre: Man ging morgens in die Fabrik, abends heim, den Rest regelte General Motors.

Aus besseren Zeiten: General Motors Zündkerzen-Parade in Flint

Moore schlug auch später nicht nach der Familie, sondern hatte andere Vorbilder, die Flint entkamen, wie Grandfunk Railroad oder Casey Casem. Statt am Fließband zu arbeiten, was er schon zu Schulzeiten als Ferienjob abgelehnt hatte, gab Michael seine eigene Zeitung heraus, die Michigan Voice. Dummerweise ließ er sich jedoch von einem kalifornischen Millionär nach San Franzisco locken, um dort einen Redakteursjob anzutreten und schloss sein Blatt. Doch mit dem Leben in San Franzisco, wo man 35 Kaffeesorten bestellen konnte und er über Kräutertees statt der Probleme der Arbeiter schreiben sollte, kam er nicht klar.

Michael Moore’s "Michigan Voice"

Also ging er zurück nach Flint – um dort zu erfahren, dass General Motors trotz guter Gewinne 11 Werke – darunter das in Flint – schließen und 35.000 Arbeiter entlassen will, wobei die Gewerkschaften sich auch noch zu Lohnverzichten der Arbeiter bereiterklärten, um die Produktion nach Mexico zu verlagern und vom zusätzlichen Gewinn High-Tech-Firmen und Waffenhersteller zuzukaufen.

Michael organisierte eine Filmkamera und gab sich zusammen mit Freunden und Kollegen als Fernsehteam aus Toledo aus, um die Produktion des letzten LKW im Werk zu filmen – und die Arbeiter, die in die Kamera jubelten, obwohl sie soeben ihren Job verloren hatten. Michael Moore versucht auch, Roger Smith, den damaligen Präsidenten von General Motors, zu einem Statement vor der Kamera zu bekommen – sein fortlaufendes Scheitern und abgeblockt werden zieht sich als roter Faden durch den Film und gibt ihm schließlich den Titel "Roger und ich".

Verlassene Eigenheime in Flint, Michigan

Mit den fortgesetzten Massenentlassungen werden immer mehr arbeitslose Bürger Flints aus ihren Wohnungen geworfen, Hausinhaber ziehen in andere Landesteile, die noch Jobs bieten, die leeren Häuser verfallen, Flint wird zu einer Geisterstadt. Die Stadt verkündet schließlich, dass die Anzahl von Ratten in der Stadt die der Einwohner nun um 50.000 übersteigt, zumal die Müllabfuhr wegen Budgetkürzungen eingeschränkt werden muss.

Ronald Reagan kommt schließlich im Wahlkampf nach Flint und lädt 12 Arbeitslose zu einem Essen mit Gespräch ein. Er empfiehlt den Arbeitslosen, nach Texas zu gehen. Keiner der 12 bekommt dadurch wieder einen Job oder sonst irgendeinen Vorteil; einen Gewinn macht nur der Unbekannte, der den Medienrummel um Reagan nutzt, um die Kasse des Restaurants mitgehen zu lassen.

Der Rauswurf kam noch vor Weihnachten

Während die reichen GM-Gründer eine "Great Gatsby"-Party feiern und ihr soziales Gewissen dadurch beruhigen, dass sie einige Arbeitslose als "menschliche Statuen" für die Party anheuern, die aber natürlich nicht mit den Gästen reden oder sich gar am Buffet bedienen dürfen, hat Michael Moore einen Mann mit einem sicheren Job in Flint entdeckt: Fred Ross, Sheriff Deputy. Er hat die Aufgabe, täglich Familien aus Wohnungen zu werfen, die ihre Miete nicht mehr zahlen können – bis zu 24 an einem Tag. Zu dem Job ist er einst gekommen, weil er nicht am General-Motors-Fließband stehen, sondern mit Menschen zu tun haben wollte. Nun ist er ein Fließband-Rauswerfer geworden und setzt sogar einen einstigen Mitschüler von Michael Moore auf die Straße, der auch noch "James Bond" heißt.

Dabei versucht Ross, den Anstand zu wahren und den Auf-die-Straße-gesetzten zumindest noch einen Umzugswagen zu beschaffen. Dies scheitert jedoch meist, da Umzugsfirmen diese Aufträge nicht haben wollen und der LKW-Verleih U-Haul längst keine LKWs in Flint mehr hat: Alle, die nach Florida oder Texas ausgewandert sind, haben diese One-Way geliehen und sie stehen nun in den dortigen U-Haul-Filialen. Der Rest nimmt Jobs bei Fastfood-Ketten an oder als Amway-Multilevel-Marketing-Verkäufer und Farbberater. Amway, der "American Way of life", bei dem man seinen Freunden solange Waschpulver und Shampoo verkauft, bis man keine Freunde mehr hat, als Ersatz für einen richtigen Job? Oder gar Fabriken für Fusselroller aus Selbstklebepapier, wie sie der PR-Vertreter von General Motors als Alternative vorschlägt?

"Möchten Sie den Hasen zum Kuscheln…

Eine Frau verkauft schließlich 4-5 Monate alte Kaninchen – wahlweise lebend als Kuscheltier oder mit abgezogenem Fell zum Essen. In diesem Alter kann man sie noch braten, danach taugen sie nur noch zum Kochen, werden aggressiv und beißen sich gegenseitig die Eier ab. Damit macht sie mitunter nur 10 bis 15 Dollar in der Woche zusätzlich zur Sozialhilfe, was aber besser ist als nichts – bis ihr die Gesundheitsbehörde das Hasenschlachten im Garten untersagt. Andere gehen täglich zum Blutspenden – nur nicht samstags und sonntags, da ist geschlossen. Massenhaft Nadeleinstiche im Arm kommen also nicht nur von Drogen.

…oder zum Essen?

Dennoch nimmt die Kriminalität zu – also wird ein neues, größeres Gefängnis gebaut. Das gibt nicht nur Anlass für eine ausgelassene Einweihungsparty unter dem Motto "Jailhouse Rock", sondern auch weitere schöne neue Arbeitsplätze – für Gefängniswärter. Wer keinen Job als Wärter bekommt, wird halt Insasse. Weniger erfolgreich sind dagegen Versuche, den Tourismus mittels eines Luxushotels, eines Vergnügungsparks und "Autoworld" – eine Art Disneyworld der Autoindustrie – nach Flint zu holen: Ein Arbeiter, der zusammen mit dem Roboter, der seinen Job am Fließband übernommen hat, das Lied "Me and my Buddy" singt, trifft das Verständnis von Spaß und Vergnügen halt nur bedingt. Im Touristenbüro ist die häufigste Frage der Besucher denn auch "Wo ist denn hier das Klo?".

Nur immer schön positiv denken…

Als ABC live aus Flint berichten will, fällt der Beitrag aus, weil ein Arbeitsloser den Übertragungswagen samt Satellitenuplink klaut. Flint wird die Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit des Landes und zur lebensunwertesten Stadt von 300 in "Money" gewählt. Als Michael Moore als Aktionär von General Motors auf der jährlichen Hauptversammlung eine Frage an Roger Smith stellen will, wird die Versammlung abrupt beendet – doch sind die Mikrofone noch offen, als die Vorstände meinen "den haben wir aber gut überrascht". 1989 kam "Roger & Me" schließlich im Verleih von Warner Brothers in die Kinos. Warner Brothers hatte Moore den Zuschlag für die Vertriebsrechte des selbst finanzierten Films gegeben, weil dieses Studio zusagte, den im Film auf die Straße gesetzten Familien einige Jahre Miete zu zahlen und den Film in Kinos in ganz Amerika zu zeigen. Außer in Flint – dort hatten längst alle Kinos schließen müssen.

Terroranschlag? General Motors-Werk in Flint heute

Heute ist "Roger & Me" zwar nicht mehr im Kino zu sehen, aber als DVD mit wahlweise deutscher Synchronisation sowie 2003 von Michael Moore nachgelieferten Autorenkommentar zu haben und aktueller, als einem lieb ist. Denn in den knapp 20 Jahren seit den Werksschließungen in Flint hat sich am Vorgehen von General Motors und anderen Großkonzernen nichts geändert. Dank Hartz IV ist auch das deutsche Sozialsystem auf dem Weg, sich dem amerikanischen anzunähern. Wer wissen will, welche Zukunft Rüsselsheim, Kaiserslautern und Bochum erwartet, wo mit 10.000 ein Drittel der Automobilarbeiter ihren Job verlieren werden, 4000 davon allein in Rüsselsheim, muss sich nur Flint in Michigan ansehen: 60.000, 3/4 der Belegschaft, mussten über mehrere Jahre gehen und heute noch liegt die Arbeitslosigkeit dort doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Schuld sind natürlich damals wie heute "die Japaner". Deutschland ist ebenso wie Amerika zu teuer für die Globalisierer.