Rüstungsmilliarden: Es geht nicht um die Ukraine

Symbol der "Zeitenwende": ein F-35-Bomber. Foto: U.S. Air Force photo/Senior Airman Julius Delos Reyes / CC0 1.0

Die Aufrüstungspläne der von Olaf Scholz verkündeten "Zeitenwende" schaffen keinen Frieden. Nicht in der Ukraine und nicht anderswo. Ein Kommentar

Im Juni entscheidet der Bundestag über eine Zeitenwende in der Militärpolitik, die vor nicht allzu langer Zeit zu einem massiven Protest einer breit verankerten Friedensbewegung geführt hätte. Vor rund vier Jahrzehnten appellierte Petra Kelly, pazifistische Mitbegründerin der Grünen vor Hunderttausenden: "Lassen wir uns nicht zu Tode verteidigen!"

In unseren Tagen erweckt die Ampel-Regierung mit maßgeblicher Beteiligung der Grünen und deutlicher Unterstützung in der Öffentlichkeit den täuschend echten Anschein, ihre Aufrüstungspläne seien eine notwendige und solidarische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Sinne der Menschenrechte und des Friedens. Und wer sich dagegenstellt, gerät in Gefahr, als Unterstützer von Kriegsherren, als "Putin-Versteher" an den Pranger gestellt zu werden.

Die "Zeitenwende", von der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum ersten Mal am 27. Februar dieses Jahres sprach, ließ viele Positionen kippen, nicht nur die Friedenshaltung vieler Deutscher. Lange Zeit galt, was dieser Tweet des Sozialdemokraten Mustafa Güngör ausdrückt: "Die Geschichte muss uns eine Lehre sein: … ‚Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts‘ - dieser mahnende Satz von Willy Brandt hat bis heute seine Berechtigung."

Wenn heute das Motto "Frieden schaffen mit immer mehr Waffen" breite Unterstützung gewinnt, wird die Gefahr greifbar, vor der Petra Kelly warnte. Den Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit hat die Propaganda der Macht dadurch erzielt, dass über Grausamkeiten fast nur noch dann berichtet wird, wenn sie Russland zugeschrieben werden.

Das Ergebnis ist entsprechend: "Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der F.A.Z. sprechen sich 56 Prozent für eine Abschreckung durch eigene militärische Stärke aus."

Gefahr durch Atomanlagen auch im konventionellen Krieg

Wie gefährlich dieser unbedachte Meinungsumschwung ist, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass Militarisierung bis hin zum Waffengang in einem Land wie Deutschland mit nuklearer, chemischer und schwerindustrieller Infrastruktur ein für alle Seiten unverantwortlich großes Risiko wäre: Die Atomanlagen in Greifswald, Ahaus/Lingen, Neckarwestheim, Gorleben und bei Landshut sowie die über 30 Forschungsreaktoren sowie die im Rückbau befindlichen alten Atommeiler bedeuten ein unkalkulierbares Risiko, das jedes Kriegsgeschehen in ein Selbstmordkommando auch für einen Angreifer verwandeln würde.

Bundeskanzler Olaf Scholz nutzte seine "Zeitenwende"-Rede, um den Angriff Russlands gegen die Ukraine für die Legitimation einer nie gekannten Militarisierung der Bundesrepublik Deutschland zu missbrauchen. Das Vorhaben wird voraussichtlich im Juni im Bundestag in dritter Lesung zum Hauhalt und mit einer Grundgesetz-Änderung für eine kontinuierliche Hochrüstung durchgewunken.

Olaf Scholz antwortete auf dem Katholikentag am 27. Mai 2022 auf die Frage, ob es wirklich so vieler neuer Waffen bedarf, mit einem kurzen "Ja". Eine Erläuterung für diese Antwort blieb er dort schuldig.

Die vorgesehene Aufrüstung wird "Ausrüstung" genannt und ist weniger als Unterstützung der Ukraine geplant, sondern die Ampel-Regierung nutzt den Ukraine-Krieg, um ganz andere strategische Ziele – im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" auch bis hin zur Option eines Atomkrieges – ohne Widerstand durchsetzen zu können. Der Militäretat steigt laut Ansatz um gut sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Ampel-Koalition und die CDU drücken bei allen Planungen für die Hochrüstung aufs Tempo, sie nutzen die aktuelle Stimmung: "‘Das Sondervermögen muss vor der Sommerpause ins Grundgesetz, weil wir sonst viel Zeit verlieren‘, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Alexander Müller."

In dem Gesetzesentwurf geht es nicht um die Ukraine, sondern um die "Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit" und "komplexe überjährige Maßnahmen".. Dazu zählt laut einem Bericht der taz das Raketenabwehrsystem "Arrow 3" aus Israel, das mehrere Milliarden Euro kostet.

Schon alleine dieses System offenbart die gefährliche Vorgehensweise der Militärs und ihrer Lobby: Arrow 3 könnte im Kriegsfall, für den es vorgesehen wäre, nicht das verhindern, was es offiziell soll: Es kann keinen vollständigen Schutz vor Angriffen bieten. Das wäre nur mit einer Friedenspolitik präventiver Kriegsvermeidung möglich.

Als Nachfolger des Schützenpanzers Marder und des Kampfpanzers Leopard II soll ebenfalls für mehrere Milliarden Euro das "Main Ground Combat System" mit Anbindung an Systeme künstlicher Intelligenz folgen. Sein Einsatz auf einem möglichen Schlachtfeld Deutschland und Europa würde das Risiko eines Totalzusammenbruchs der empfindlichen high-tech-gesteuerten Ver- und Entsorgungssysteme und damit der Lebensfähigkeit unserer Gesellschaft bedeuten, ein Ende, ab dem nichts mehr ist.

Fünf Milliarden soll ein neuer Transporthubschrauber für diverse "Kriegsszenarien", wie die taz schrieb, kosten. Zehn Kriegsschiffe mittlerer Größe - Korvette K130 – sollen die Marine für mehrere Milliarden Euro verstärken.

Zur Munition zitiere ich die taz hier ausführlich:

Besonders teuer könnte die Beschaffung neuer Munition werden: In einer Wunschliste des Verteidigungsministeriums aus dem Herbst waren 20 Milliarden Euro vorgesehen, um langfristig über alle Waffengattungen hinweg die Vorräte aufzufüllen. Für den Kriegsfall sollten die Reserven 30 Tage ausreichen.

Was für ein Kriegsgeschehen haben die Strategen vor Augen, die Munition für diese Unsumme in einem Monat verschießen wollen?

Verbündete hätten "Zugriff auf US-Atombomben"

Rund 35 Bomber F-35, die als Tarnkappen-Jet für den gegnerischen Radar nur schwer zu erkennen und deshalb für Atomschläge im Inneren Russlands besonders geeignet sind, stehen auf der Wunschliste des militärisch-industriellen Komplexes. Dies, obwohl die existenzielle Gefahr, die ein Atomkrieg für die Menschheit darstellt, offensichtlich ist.

Der Preis für eine Maschine inklusive Triebwerk liegt (…) bei rund 100 Millionen Euro. Der Jet soll die nukleare Teilhabe Deutschlands sichern. "Verbündete" hätten dabei "Zugriff auf US-Atombomben". (https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.bewaffnung-der-bundeswehr-was-kostet-ein-f-35-kampfjet.0be790b1-82e4-4d5a-9682-9378ec8c21f7.html).

Zu den Anschaffungskosten kommen die Milliarden der Unterhaltung und zum Betrieb der Atombomber über ihre Nutzungsdauer hinzu.

Weitere Milliarden Kosten sind für die über zwanzig Kampfdrohnen im Plan. Sie sind Instrumente zu außergerichtlichen Tötungen, verursachen eine Vielzahl an sogenannten Kollateral-Toten, lösen dadurch posttraumatische Belastungsstörungen und oft Suizide beim Personal der Fernsteuerung der Tötungsmaschinen aus, und sie verwischen die Gerenze zwischen Krieg und Frieden, die Ingeborg Bachmann in vor fast sieben Jahrzehnten folgendermaßen vorhersagte:

Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt.


Ingeborg Bachmann

Die Friedensbewegung jedenfalls wird im Juni 2022, dem Monat der Haushaltsberatungen und der Gesetzgebung über die grundgesetzliche Verankerung dieses Wahnsinns weiter aufklären und mobilisieren. Auch der Liedermacher Konstantin Wecker unterstützt das Engagement.