Ruhe vor dem Delta-Lockdown?

Während derzeit Corona-Maßnahmen zurückgenommen werden, droht eine erneute Zuspitzung nach dem Sommer. Warum bereitet sich darauf niemand vor?

Deutschland macht sich locker: Bundesweit werden angesichts sinkender Infektionszahlen die restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 zurückgenommen. Vielerorts sind die Schulen vor den Sommerferien zum Präsenzunterricht zurückgekehrt, in Brandenburg fällt die Maskenpflicht im Freien, Konzerte und Kulturveranstaltungen finden wieder statt.

Doch wie nachhaltig ist die neue, alte Normalität? Bei dem Blick in die Schlagzeilen hat man ein Déjà-vu: Während sich auf der einen Seite Politiker für möglichst rasche und möglichst umfassende Öffnungen aussprechen, warnen Gesundheitspolitiker vor neuen Varianten des Virus. Gab es das nicht schon einmal, vor einem Jahr?

In Großbritannien sind die Infektionszahlen aufgrund der massiven Ausbreitung der sogenannten Delta-Variante wieder nach oben geschnellt, für den kommenden Montag geplante Öffnungen wurden abgesagt. Vor diesem Hintergrund sucht man in Deutschland vergeblich ein kohärentes Konzept der politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern gegen eine entsprechende Entwicklung auch hierzulande.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow gehört zu denjenigen Politikern, die für weitgehende Öffnungen auch nach dem Sommer plädieren. "Ich glaube, wir können das Risiko der kompletten Öffnung im Herbst eingehen", sagte der Linken-Politiker in der vergangenen Woche der Rheinischen Post. Um gleich wieder einzuschränken: Der Staat müsse aber Vorsorge für den Fall treffen, dass die Corona-Infektionszahlen wieder steigen. Dies solle aber nicht mit den Methoden geschehen, die vor eineinhalb Jahren Anwendung gefunden haben, fügte er an: "Die wir aus Unkenntnis angewandt haben. Da müssen wir uns weiterentwickeln."

Die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), forderte in derselben Zeitung bundeseinheitliche Regelungen etwa für Großveranstaltungen oder Reisen.

Versprechen paaren sich mit Hätte-Solle-Müsse-Formulierungen. Konkret ist bei den vergangenen Konferenzen der Bundesländer sowie von Bund und Ländern aber wenig geschehen.

Entwicklung durch neue Mutationen wird ignoriert

Dabei zeichnet sich eine neue Zuspitzung des Infektionsgeschehens ab. In Großbritannien wurde die Rücknahme aller restriktiven Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gerade zurückgenommen, nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz gerade von 20 auf 70 hochgeschnellt ist.

Grund ist die sogenannte Delta-Variante des Virus, die zuerst in Indien nachgewiesen worden war. Inzwischen sind gut 90 Prozent der Neuinfektionen in Großbritannien auf diese Mutation zurückzuführen. Die Variante soll, so heißt es, deutlich ansteckender als Vorgängertypen sein und damit eine schnellere Ausbreitung begünstigen.

Zugleich haben die Infektionen in einem stärkeren Maße erkältungsähnliche Symptome zur Folge, sodass sie weniger auffallen. Experten gehen davon aus, dass die Infektionszahlen – schreitet die Impfkampagne nicht massiv voran – auch in Deutschland und anderen Teilen Europas wieder ansteigen werden.

"Ich bin ganz sicher, dass wir in Deutschland auch noch die Deltavariante bekommen werden", sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach am Dienstag gegenüber dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Er sagte für den Herbst neue Probleme voraus. Die Virusmutation aus Großbritannien bringe neue Risiken mit sich, weil sie ansteckender sei und zu schweren Verläufen führe.

Nach ersten Beobachtungen schützt der Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca weniger gut gegen die Delta-Variante als das Vakzin von Biontech und Pfizer. Lauterbach sprach sich im rbb auch dafür aus, Kindern ein Impfangebot zu machen: "Gerade bei der Delta-Variante haben wir in England gesehen, dass von den infizierten Kindern ein Prozent so schwer erkranken, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Das ist keine Kleinigkeit."

Was bleibt, ist die Frage, welche dieser Erkenntnisse zu konkreten Maßnahmen in Deutschland geführt haben, um eine erneute Zuspitzung des Infektionsgeschehens und einer damit einhergehenden Einschränkung der Grund- und Bürgerrechte zu verhindern.

Impfungen, Schulen, Krankenhäuser: Probleme bestehen fort

Die Zwischenbilanz ist ernüchternd. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sind erst gut ein Viertel der Deutschen vollständig geimpft. Das Vakzin von Biontech und Pfizer macht zwar den Löwenanteil aus, der gegen die neue Gefahr aber offenbar weniger wirksame Impfstoff von Astrazeneca steht gleich auf Platz zwei. Verimpft wird, was gerade da ist und wo es gerade geht. Eine klare Strategie fehlt. Ohne sie aber zeichnet sich - wie schon nach der Sommeröffnungen im vergangenen Jahr - ein neuer Herbst- und Winterlockdown ab.

Dabei sind die Folgen der bisherigen Pandemie noch gar nicht bewältigt. Die Bundeskammer der Psychotherapeuten wies unlängst auf die Folgen der Lockdown-Politik für Kinder und Jugendliche hin. Sie forderte mehr Behandlungsmöglichkeiten für Minderjährige, weil der Bedarf in Folge von Corona gestiegen ist. Ist dabei etwas geschehen? Fehlanzeige?

Unzufriedenheit herrscht angesichts der Belastungen durch die Impfkampagne in den Arztpraxen. Doch bislang ist trotz entsprechender Forderungen aus Bundesländern wie Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern unklar, wie und ob der Bund die bestehenden Impfzentren über den September hinaus finanziert. Weil über den Sommer hinweg wegen der Ferienzeit und des beginnenden Wahlkampfes wenig geschehen wird, ist davon auszugehen, dass im September in letzter Minute eine Eilentscheidung unter Druck getroffen werden wird.

Verbessert hat sich auch die Situation in der Pflege nicht. Dabei ist dies auch für das Angebot der intensivmedizinischen Kapazitäten zentral. Denn es geht auf den Intensivstationen nicht primär um die Anzahl der Betten, wie in Medien und Politik immer wieder bar jedes Fachwissens behauptet wird, sondern um das Fachpersonal, dass die Intensivpatienten betreuen kann.

Aber gerade diese Kapazitäten wurden im profitorientierten Krankenhauswesen nicht aufgestockt. Und nach einer Umfrage der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di geben 52 Prozent der Pflegekräfte an, die täglichen Aufgaben nur eingeschränkt oder gar nicht bewältigen zu können; 78 Prozent können sich nicht vorstellen, den Job bis zur Rente auszuüben.

Schlechte Voraussetzungen also für die Zeit nach dem Sommer. Aber dann ist auch Bundestagswahl. Und danach, so scheinen die Verantwortlich zu glauben, mag die Sintflut kommen.

Oder eben die nächste Corona-Welle.

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