Russische Protestbewegung zeigt Putin die Harke

Die Wahlfälschungen und der Ämtertausch von Medwedew und Putin haben eine Protestbewegung ausgelöst, gegen die der Kreml bisher hilflos agiert

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Es war, als sei der Korken einer Sektflasche abgeflogen, so spritzig war die Stimmung auf der Kundgebung gegen die Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl in Moskau. Etwa 50.000 Menschen waren auf den Bolotnaja-Platz (Moor-Platz) im Stadtzentrum gekommen. Die Veranstalter sprachen von 100.000 Teilnehmern.

Eine solch große Demonstration hatte es in Moskau zuletzt 2001 gegeben. Damals hatten 20.000 Menschen gegen die Kündigung der Redaktion des kritischen Fernsehkanals NTW protestiert. Bild: Ridus.ru

Auch in zahlreichen anderen Städten von St. Petersburg bis Wladiwostok demonstrierten am Sonnabend teilweise mehrere Tausend Menschen. In den russischen Regionen hatte es die letzte große Protestbewegung 2005 gegeben, als Rentner und Schwerbehinderte gegen die Streichung von sozialen Vergünstigungen (Lgoty) protestierten.

Rechtsradikaler Sprecher wurde ausgepfiffen

Zu den Teilnehmern in Moskau sprachen bekannte liberale Intellektuelle und Politiker, Vertreter der sozialdemokratischen Partei "Gerechtes Russland", ein Sprecher der KPRF (Kommunisten) sowie der rechtsradikale Chef-Ideologe Konstantin Krylow. Als dieser in seiner Rede versuchte, die Kundgebung als Beginn einer "russischen Revolution" umzudeuten, gab es ein Pfeifkonzert. Die Demonstranten wollen ihre Ziele friedlich durchsetzen.

Immer wieder forderten die Kundgebungsteilnehmer in Sprechchören den Rücktritt von Putin und Neuwahlen. In einer Resolution wurden auch die Untersuchung der Wahlfälschungen und die Zulassung oppositioneller Parteien gefordert. Falls der Kreml nicht reagiert, will man am 24. Dezember, der in Russland kein Feiertag ist, erneut eine Protestkundgebung durchführen.

Die russische Regierung hat bisher auf die Kundgebung nicht reagiert. Dmitri Peskow, der Pressesprecher von Ministerpräsident Putin, erklärte am Sonnabendabend, dass die Regierung "ihre Position noch nicht kommentiert".

Abgeordneter will Mandat zurückgeben

Gennadi Gudkow von der Partei "Gerechtes Russland" kündigte unter dem Jubel der Kundgebung an, er werde sein Abgeordneten-Mandat für die Duma zurückgeben, wenn die Regierung keine Neuwahlen ansetze. Der bekannte Abgeordnete, der in der Sowjetunion zehn Jahre dem Geheimdienst diente, gehört wegen seiner scharfen Erklärungen zu den Wahlfälschungen mit zu den wichtigsten Sprechern der neuen Protestbewegung. Ob dem mutigen Schritt von Gudkow jedoch andere Abgeordnete folgen, ist unklar.

Auf dem Moor-Platz hatten sich viele ältere Menschen aber auch sehr viele junge Leute und Angehörige der städtischen Mittelschicht versammelt. Die Protestbewegung war in den letzten Tag in Moskau plötzlich "in" geworden. Selbst Angehörige der Moskauer Schickeria, wie der Fernseh-Star Ksenia Sobtschak, wurden auf der Kundgebung gesichtet.

Viele Teilnehmer hatten sich das Erkennungszeichen der neuen Bewegung, eine weiße Schleife, an die Jacke geheftet. Manche trugen auch weiße Rosen oder Chrysanthemen. Die Stimmung war zornig, aber friedlich. Immer wieder forderte die Menge in Sprechchören Neuwahlen, den Rücktritt von Putin und "ein freies Russland".

Buntes Fahnenmeer

Bis auf eine kleine Gruppe von vermummten Anarchisten, die gegen Ende der Kundgebung versuchten, mit schwarz-roten Fahnen bis zur Redner-Tribüne vorzudringen, war niemand maskiert. Viele Demonstranten trugen selbstgemalte Plakate auf denen sie Putin und Medwedew verulkten oder sich einfach nur über das Ende des Schweigens freuten.

Ein Großteil der Menschen war das erste Mal auf einer Kundgebung. Viele dieser Menschen äußerten im persönlichen Gespräch, mit den Wahlfälschungen sei "das Fass übergelaufen". Die Macht nehme sich zu viel heraus. Außer dieser großen Gruppe der politisch nicht Festgelegten gab es jedoch noch zahlreiche Anhänger diverser Gruppen und Parteien. Man sah rote Fahnen kommunistischer Gruppen, orangene der liberalen Solidarnost-Bewegung und schwarz-gelb-weiße der rechtsradikalen Organisation "Russkije" (Russen). Auch eine schwarze Flagge der russischen Piratenpartei und die Regenbogenfahne der LGTB-Bewegung waren zu sehen.

Über der Menge kreiste eine von Bloggern selbstgesteuerte Drohne, die Fotos von der Kundgebung machte. Mit den Luftaufnahmen wollten die Aktivisten verhindern, dass die Kundgebung vom staatlichen Fernsehen kleingeredet wird.

Tage der Angst

Dass sich plötzlich so viele Menschen auf die mit der Stadtverwaltung angemeldete Demonstration gewagt hatten, war am Tag zuvor noch gar nicht absehbar gewesen. Denn angesichts der Verhaftungen auf den Protestkundgebungen in der vergangenen Woche, fürchteten viele Menschen, dass die Sicherheitskräfte auch am Sonnabend willkürlich Menschen festnehmen werden.

Die Gerüchteküche wurde angeheizt durch Meldungen im Internet, nach denen der Staat bezahlte Provokateure angeheuert habe. Dass die Schulbehörde die Schüler daran hindern wollte, an der Protestkundgebung teilzunehmen, indem sie für Sonnabendnachmittag Russischtests für alle Abgangsklassen anordnete, war im Vergleich zu dem befürchteten Vorgehen der Sicherheitskräfte noch eine der geringeren Sorgen.

Die Polizei hielt sich diesmal zurück …

Doch offenbar erkannte der Kreml, dass eine weitere Steigerung der Repressionen keinen Sinn macht. Vielleicht hofft man auch, dass sich die Protestbewegung nach einem ersten Aufbäumen totläuft und sich nicht weiter in die Tiefe des Landes ausweitet. In Moskau gab es am Sonnabend keine Übergriffe der Polizei.

Allerdings befanden sich während der Kundgebung immer noch verschiedene Personen in Haft, die in den letzten Tagen von der Polizei bei Protestaktionen gegen Wahlfälschungen festgenommen worden waren, darunter auch der bekannte Blogger Aleksej Nawalny, der sich in Russland mit seiner Kampagne gegen die Korruption einen Namen gemacht hat. Nawalny ist allerdings in der Protestbewegung auch nicht unumstritten, denn er sucht aktiv das Bündnis mit den Rechtsradikalen ("Russischer Marsch" droht mit arabischen Verhältnissen).

… und das russische Staatsfernsehen berichtet überraschend ausführlich

Dass der Kreml ein Kursschwenk vollzog, wurde auch an der diesmal überraschend neutralen und ausführlichen Berichterstattung in den staatlichen Fernsehkanälen deutlich. So brachte der Fernsehkanal NTW eine ausführliche Reportage.Allerdings hatte der stellvertretende NTW-Chefredakteur Aleksej Piwowarow am Vortag der Großkundgebung die Leitung seines Fernsehsenders ultimativ aufgefordert, dass über die Kundgebung berichtet werden müsse. Dass es am Sonnabend zu keinen Übergriffen der Polizei kam, hing auch damit zusammen, dass die bekannten liberalen Politiker Boris Nemzow und Wladimir Ryschkow einen Kompromiss mit der Stadtverwaltung geschlossen hatten. Ursprünglich sollte die Kundgebung in direkter Kreml-Nähe auf dem "Platz der Revolution" stattfinden. Der Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow, und ein Vertreter der liberalen Solidarnost-Bewegung hatten diese Kundgebung auf dem Revolutions-Platz angemeldet, die aber von der Stadtverwaltung auf eine Teilnehmerzahl von 300 Personen begrenzt wurde. Als sich dann auf der Facebook-Seite für die Kundgebung über 30.000 Menschen anmeldeten, bot die Stadtverwaltung den etwas abseits der großen Straßen gelegenen Moor-Platz als Alternative an. Auf dieses Angebot gingen dann am Donnerstagabend Nemzow und Ryschkow ein.

Ihr Eingehen auf das Angebot der Stadtverwaltung, brachte den beiden bekannten Politikern harte Kritik von Liberalen und Linken ein. Auch von "Verrat" und "Spaltung" war die Rede. Der "Platz der Revolution" hätte ohne Probleme 50.000 Menschen Platz geboten, meinten die Kritiker. Tatsächlich war der "Platz der Revolution" für eine Protestkundgebung strategisch günstiger gelegen, da er sich sehr nah am Kreml befindet. Der Moor-Platz, den die Stadtverwaltung anbot, ist dagegen durch den Moskwa-Fluss vom Kreml getrennt.

Offenbar um zukünftigem Einknicken vorzubeugen, forderte der bekannte Schriftsteller Boris Akunin auf der Kundgebung, dass die Vertreter der neuen Protestbewegung ihre Beratungen in Zukunft online – also öffentlich – durchführen sollen.

Ob die neue russische Bewegung ihren Schwung behält, wird sich schon in den nächsten Tagen zeigen. Für Wladimir Putin ist mit der wachsenden Kritik an den Wahlfälschungen ein großes Problem entstanden, dass ihm bei seinem Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl noch schwer zu schaffen machen wird.

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