Russisches Erdöl: Warum Orbáns Heuchelei-Vorwurf gegen Polen die ganze EU trifft

Seite 2: Die EU weiter als viertgrößter Abnehmer

Auch in der ganzen EU zeigt sich wie in Polen, dass es bisher, zweieinhalb Jahre nach dem Ukraine-Krieg und den zahlreichen EU-Sanktionen auf fossile Brennstoffe aus Russland, nicht gelungen ist, sich von ihnen abzukoppeln.

Man konnte zwar die Einfuhren von Kohle, Gas und Öl aus Russland deutlich im Wert von 16 Milliarden Dollar pro Monat Anfang 2022 auf knapp zwei Milliarden im Juni dieses Jahres herunterfahren.

Die EU ist damit hinter China, Indien und der Türkei aber immer noch der viertgrößte Abnehmer russischer fossiler Brennstoffe, deren Einfuhren zwölf Prozent (1,6 Milliarden Euro) der fünf größten Abnehmer ausmachen. Den größten Anteil an den EU-Käufen fossiler Brennstoffe aus Russland hatte Pipelinegas (40 Prozent), gefolgt von Flüssiggas (38 Prozent).

Beim Gas ist Russland vorne

Tatsächlich zeigt sich beim Gas sogar eine zunehmende Abhängigkeit der EU von Russland. Trotz der konzertierten Bemühungen der Europäischen Union, sich beim Erdgas nach der Ukraine-Invasion von Russland abzukoppeln, stiegen die EU-Importe von dort in der ersten Hälfte des Jahres 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent an und brachten Russland Einnahmen in Höhe von 8,7 Milliarden Euro.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres machten die Einfuhren aus Russland 20 Prozent der gesamten Erdgasbezüge der EU aus (einschließlich Umschlag-Verladungen), was einem Anstieg von vier Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. Obwohl einige EU-Länder Sanktionen gegen russisches LNG (verflüssigtes Erdgas) verhängt haben, sind die LNG-Einfuhren der EU in der ersten Jahreshälfte im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen. Russisches LNG macht in diesem Jahr 43 Prozent der gesamten russischen Gaseinfuhren der EU aus.

Verflüssigtes Erdgas wird per Schiff über Belgien, Spanien und Frankreich in die Union importiert. Demgegenüber wird nur noch wenig Rohöl direkt in die EU aus Russland importiert – vor allem in die Slowakei.

Die Öl-Drehscheibe Türkei

Doch russisches Öl hat einen anderen, indirekten Weg in die Union gefunden. Im letzten Jahr wurde die Türkei der weltweit größte Abnehmer russischer fossiler Brennstoffe. So verdoppelten sich die Gesamteinfuhren der Türkei von Erdölerzeugnissen aus Russland im Jahr 2023 und belaufen sich nun auf insgesamt 17,6 Milliarden Euro, was schätzungsweise 5,4 Milliarden Euro an Steuereinnahmen für den Kreml bedeutet.

Die drei türkischen Häfen Ceyhan, Marmara Ereğlisi und Mersin, die über keine eigenen Raffineriekapazitäten verfügen, importieren damit 86 Prozent ihrer Ölprodukte aus Russland (bezogen auf den Wert der Importe).

Ein Bericht des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) und des Center for the Study of Democracy (CSD) zeigt nun, dass die EU-Mitgliedstaaten zeitgleich zu dieser Einfuhrsteigerung der Türkei zwischen Februar 2023, als das EU-Verbot und die G7-Preisobergrenze für russische raffinierte Erdölerzeugnisse in Kraft traten, und Februar 2024 5,16 Millionen Tonnen Erdölerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euro aus den drei türkischen Häfen importierten.

Aufgrund von konkreten Umschlagbewegungen an den Häfen, bei denen russische Ölimporte in die EU verschifft wurden, und der Tatsache, dass der türkische Verbrauch an Öl nicht wesentlich zunahm, geht man von einer russisch-türkischen Öl-Drehscheibe Richtung EU aus, wahrscheinlich sogar in Umgehung von EU-Verboten. Martin Vladimirov, Senior Energy Analyst am CSD und Co-Autor der Studie erklärt:

Die Türkei, der weltweit größte Abnehmer russischer raffinierter Erdölprodukte, hat sich zu einem strategischen "Boxenstopp" für russische Treibstoffprodukte entwickelt, die in die EU umgeleitet werden, was der Kriegskasse des Kremls wahrscheinlich Hunderte von Millionen an Steuereinnahmen beschert.

Schlupfloch Raffinerien: Ölprodukte mit russischem Rohöl

Zudem sind Ölprodukte wie Benzin, Diesel oder Kerosin aus anderen Ländern, selbst wenn sie russisches Rohöl raffiniert haben, nicht von dem EU-Importverbot betroffen. Kritiker sprechen von einem "Sanktionsschlupfloch".

So warnte ein weiterer CREA-Bericht vom Frühjahr 2023, dass das Volumen dieser Ölimporte in die Länder der Ölpreisdeckelung (EU, G7, Australia) im Vergleich zum Vorjahr um 44 Prozent gestiegen ist.

Die USA waren mit Einfuhren im Wert von schätzungsweise 1,6 Milliarden Euro der größte Abnehmer von Produkten, die aus russischem Rohöl hergestellt wurden. Die Niederlande, Frankreich und Italien importierten Erdölerzeugnisse russischen Ursprungs im Wert von insgesamt 1,3 Milliarden Euro, während sich die Gesamteinfuhren in der EU auf 2,6 Milliarden Euro beliefen. Im Bericht heißt es:

Diese Analyse zeigt, dass sich das Raffinerieschlupfloch im Jahr 2023 noch ausweiten wird, wodurch die Lücken in den Sanktionen gegen Russland vergrößert werden und größere Mengen an Öl aus russischem Rohöl in Ländern verwendet werden können, die als Verbündete der Ukraine gelten.

Großbritannien fliegt auch mit russischem Kerosin

Eine Untersuchung der Organisation Global Witness kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die EU im Jahr 2023 130 Millionen Barrel (ein Barrel = 159 Liter) Raffinerieprodukte – hauptsächlich Diesel – aus Raffinerien weltweit importierte (von Indien bis zur Türkei), die russisches Rohöl verarbeiten (wovon 35 Millionen Barrel direkt von russischem Öl stammen). Diese Käufe hätten dem Kreml schätzungsweise 1,1 Milliarden Euro an direkten Steuereinnahmen eingebracht.

Durch diese Raffinerieschlupflöcher gelange sogar russischer Treibstoff auch nach Großbritannien und in die USA. So berichtet Global Witness, dass einer von 20 Flügen in Großbritannien im letzten Jahr mit Kerosin aus russischem Öl durchgeführt wurde, und stellt fest, dass die USA 30 Millionen Barrel Kraftstoff aus Raffinerien importierten, die auf russisches Öl zurückgreifen.

All das legt nahe, dass es kaum möglich ist, sich von russischen fossilen Brennstoffen komplett unabhängig zu machen (vor allem angesichts der weiter blockierten Energiewende in der EU), solange russisches Öl und Gas auf den internationalen Märkten vertreten ist und gehandelt wird. Daran können selbst die USA und die EU nichts ändern.

Daher sind Vorwürfe gegen einzelne EU-Staaten wegen ihres mehr oder weniger direkten und unterschiedlich stark ausgeprägten Rückgriffs auf russische Importe nicht überzeugend, solange durch Hintertüren und Schlupflöcher die EU insgesamt still und heimlich Öl und durch die Vordertür weiter Gas bezieht.