Russland: Feindbild, Trugbild, Abbild?
Seite 3: Putin brach die Macht der Oligarchen
Mit dem hannoverschen Historiker Jens Binner sprach ein weiterer Putin-Kritiker bei der Veranstaltung. Binner, der für die Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten arbeitet, vertrat die These, dass sich die russische Außenpolitik nicht ohne die Innenpolitik verstehen lasse. Putin habe die Präsidentschaft in einer schweren Situation übernommen. Weite Teile der Bevölkerung seien infolge des Zusammenbruchs der UdSSR verarmt und die Privatisierung der Staatsbetriebe sei zu einem großen Raubzug verkommen gewesen.
Die hohen Erlöse aus Öl- und Gasverkäufen hätten Putin dann jedoch ermöglicht, sich mit sozialer Politik großen Rückhalt in der Bevölkerung zu verschaffen. Anschließend konnte er die Macht der Oligarchen brechen. Beispielsweise wurde der Milliardär Boris Beresowski aus dem Mediengeschäft gedrängt, in dem er mit dem TV-Sender ORT und der Wirtschaftszeitung Kommersant vertreten war. Dies sei in Deutschland begrüßt worden, weil es ja ein Oligarch war, der dort verjagt wurde, so Binner. Doch was nachfolgte, seien eben staatlich kontrollierte Nachrichten gewesen.
Putin habe die politische Macht wieder zentralisiert, konkurrierende Machtzentren ausgeschaltet und die öffentliche Meinung unter seine Kontrolle gebracht, fasste Binner zusammen.
Russland als "simulierte Demokratie"
Letztlich handele es sich bei Russland heute um eine "simulierte Demokratie", so seine These. Die demokratische Oberfläche werde zwar bestehen gelassen, doch habe man sie bereits entkernt. Es gebe verschiedene Parteien, TV-Sender, öffentliche Gerichtsverhandlungen, zivilgesellschaftliche Gruppen usw. aber auf alle übe die Partei "Einiges Russland" Druck aus. Sobald sich jemand zu einer ernsthaften Gefahr für Wladimir Putins Macht entwickele, werde er beseitigt.
Oligarch Michail Chodorkowskij und seine liberale Bewegung seien etwa eine politische Bedrohung für Wladimir Putin gewesen, sagte Binner. Deshalb wurde der Milliardär ins Gefängnis geworfen. Offiziell sei er jedoch wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilt worden. Auf Nachfrage räumte Binner ein, Chodorkowskij sei nie ein ernsthafter politischer Konkurrent für Putin gewesen. Er hätte es aber werden können, so der Historiker, und habe somit ein unkalkulierbares Machtrisiko dargestellt. Für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny heute gelte dasselbe.
Putin sehe sein politisches System durch die "Farbenrevolutionen" der vergangenen Jahre bedroht. Und gehe deshalb hart gegen oppositionelle Demonstrationen im Lande vor. Das gelte ebenso für ausländische Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs), die sich in Russland als "ausländische Agenten" registrieren lassen müssen. Betroffen seien davon nicht nur politische NGOs, sondern auch solche, die im kulturellen oder historischen Bereich arbeiteten. Wladimir Putins politisches System sei lediglich "scheinstabil", sagte der Historiker.