Russland: Feindbild, Trugbild, Abbild?
Seite 6: Weltpolitische Einordnung
Der hannoversche Osteuropahistoriker Hans-Heinrich Nolte hatte die Veranstaltung organisiert und ordnete in seinem Vortrag Deutschland und Russland in das gegenwärtige System der Mächte weltweit ein. Kein Zweifel bestehe daran, dass die USA der Welt-Hegemon seien. Es gehe um die Frage, wie sich Deutschland und Russland dazu verhalten. Russland sei laut Nolte im Weltsystem eine souveräne Macht zweiten Ranges; Deutschland eine nicht ganz so souveräne Macht dritten Ranges.
Deutschland überschätze sich gern selbst, sagte er. "Wir haben uns an die US-Position angeschlossen und wollen die Demokratie in der Welt verbreiten." Dies erscheine in vielen Teilen der Welt jedoch nicht überzeugend. Beim Blick in die Geschichte beginne man hierzulande oft erst mit 1949 und blende das Deutschland davor aus.
Der emeritierte Professor verglich die großen Mächte (darunter auch China und das Vereinigte Königreich) nach Kategorien von Wirtschaftsleistung über Militär bis hin zu Forschung und Bündnissen. Militärisch seien die USA unangefochten. Russland sei von den Rüstungsausgaben her zwar ungefähr nur auf einer Stufe mit Deutschland, habe aber zudem noch beachtliche militärische Kapazitäten, etwa was Atomwaffen und die Fähigkeiten des Cyberkrieges angeht. Doch auch was die Interventionsfähigkeit in fremde Computer betrifft, hätten die USA das weitaus größte Potenzial. Deutsche Medien vergessen dies gern. Nolte erinnerte an die US-Computerangriffe auf persische Uran-Zentrifugen und das Abhören der Bundeskanzlerin durch den US-Geheimdienst NSA. "Warum die nordkoreanischen Raketen jetzt platzen, ist auch nicht ganz klar."
Militär bleibt entscheidend
Das Militär sei weltweit weiterhin sehr wichtig. Vieles werde militärisch entschieden. Russland erscheint Nolte heute "militaristisch". Er war Anfang Mai vor den Paraden zum Tag des Sieges in Russland und habe diesen Eindruck gewonnen, erzählte er. Deutsche Kritik an dem Militarismus wirke jedoch hochmütig, weil die Bundesrepublik selbst keine bedeutende Armee habe und man nicht wisse, wie Deutschland heute selbst im gegensätzlichen Falle handeln würde.
Bündnisse seien für die meisten Staaten wichtig, auch für Russland, um in der Globalisierung besser bestehen zu können, erläuterte Nolte. Dementsprechend finde er auch die Idee der "Eurasischen Union" (früher Zollunion) vernünftig. "Die Opposition der EU gegen die Eurasische Union verstehe ich deswegen überhaupt nicht."
Die Siegermächte von 1945 haben sich Sonderrechte eingeräumt, kritisierte Nolte. Sie intervenierten militärisch und ignorierten oft das Völkerrecht und die UNO. Der Historiker verwies dabei unter anderem auf den Kosovo und die Krim, die jeweils ohne Zustimmung des übergeordneten Nationalstaats (Serbien und Ukraine) herausgelöst wurden. Es gebe ein Recht auf autonome Entwicklung aber kein Recht auf autonome Sezession. "Das gilt genauso für den Kosovo wie für die Ostukraine oder Schottland." Die USA hätten kein Recht zu sagen, das Kosovo ist jetzt unabhängig, aber Abchasien nicht. Dies habe nichts mit Völkerrecht, sondern nur mit Machtpolitik zu tun.
Auch Russland ignoriere das Völkerrecht, wenn es ihm nicht passe. Deutschland betone zwar oft die Rechtslage, habe sich aber ebenfalls schon an mehreren Nato-Einsätzen ohne UN-Mandat beteiligt.
Fazit: Unversöhnliche Perspektiven
Eine klare Kontroverse wurde deutlich zwischen denjenigen, die Russlands Politik vor allem aus sich selbst heraus oder gar ausschließlich mit Wladimir Putin erklären wollen - und denjenigen, die Russlands Politik als Teil eines dynamischen internationalen Weltsystems sehen, in dessen kapitalistische, geostrategische und militärische Normen sich Russland lediglich einfügt.
Beides sind kritische Perspektiven auf Russland, die aber unversöhnlich bleiben, weil erstere, die Anti-Putin-Perspektive, diese internationale Dimension nicht mitdenkt oder deren Bedeutung gar explizit verneint. Russische Politik wird dann nie in einem historisch gewachsenen System der Wechselwirkung zu anderen Mächten verstanden, sondern immer als grundlose, geradezu bösartige Handlung. Russlands Handlungen im Ukraine-Konflikt lassen sich eben nicht mit russischer Innenpolitik, sondern nur geopolitisch erklären. Die Krim-Abspaltung im März 2014 kann nur zusammen mit dem vorherigen westlich unterstützten Staatsstreich des Maidan verstanden werden.
Es zeigt sich, dass für Teile der deutschen Eliten das Feindbild Russland zwingend weiterbestehen muss, solange eine russische Staatsführung herrscht, die nationale Interessen innerhalb des vorherrschenden kapitalistisch-militaristischen Systems selbstbewusst vertritt. Um Russlands Politik besser zu verstehen oder gar zu ändern, wäre es für diesen Teil der Machtelite und der Intellektuellen zwingend nötig, sich selbst zu ändern und damit auch die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik sowie die oft unkritische Haltung gegenüber USA und NATO zu hinterfragen. Der Schlüssel für ein anderes Russlandbild liegt nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland.