Russland-Nato-Krise: Entspannt euch mal!

Vielleicht hilfreich: Delfinschwimmen in Kuba statt eskalieren in Europa. Bild: kremlin.ru, CC BY 3.0

Europa in einer skurrilen Situation: Offiziell will niemand einen Krieg im Osten, tatsächlich aber schreiben und reden ihn alle herbei. Aber es gibt noch besonnene Stimmen. Ein Kommentar

Wissen Sie schon, was Sie diesen Mittwoch vorhaben? Wissen Sie noch nicht? Da hat Ihnen der US-Auslandsgeheimdienst CIA vielleicht etwas voraus. In Langley, Virginia, kennt man schließlich sogar die Terminplanung von über 100.000 Russen: Sie werden an diesem Mittwoch die Ukraine angreifen. Und das ist nur eine der Meldungen, die zuletzt zu einer merkwürdig aufgekratzten Stimmung in Politik und Medien Westeuropas beigetragen haben.

Ob solche Pläne bestehen, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen – auch ich nicht. Merk- bis fragwürdig aber ist die Art, in der entsprechende Warnungen von Geheimdiensten weitgehend unkritisch übernommen werden. Dabei ist es keine neue Erkenntnis, dass in einer tatsächlichen oder gefühlten Vorkriegssituation die psychologischen Kampagnen auf Hochtouren laufen.

Diese Erkenntnis würde zu einer kritischen Lesart vieler geheimdienstlicher "Erkenntnisse" führen. Wenn britische Nachrichtendienste etwa berichten, Russland wolle eine kremltreue Regierung in Kiew installieren. Bewahrheitet sich die Meldung, haben die Schlapphüte Ihrer Majestät recht behalten. Findet das Ereignis nicht statt, können sie für sich reklamieren, es durch ihre "Enthüllung" verhindert zu haben. Gleiches gilt für die geheimdienstlichen Warnungen vor einer False-Flag-Aktion Russlands an der Grenze, um eine Invasion zu rechtfertigen.

Dabei sollten sich alle relevanten Kräfte und vor allem die Medien zur nüchternen Analyse zwingen. Die Frage nach einem russischen Interesse an einem Angriff, das von sicherheitspolitischen Experten durchaus in Abrede gestellt wird, etwa würde zwingendermaßen zu einer Diskussion der westlichen Verweigerung von Sicherheitsgarantien für Russland führen. Bislang jedenfalls wurden entsprechende Forderungen aus Moskau weitgehend und mit empörtem Unterton zurückgewiesen.

Zu den Paradoxa dieser Tage zählt, dass US-Akteure und ihre westeuropäischen Alliierten fest von einem Krieg ausgehen und sich zu konkreten Schritten verleiten lassen. Die könnten dann ihrerseits als Vorbereitung einer militärischen Konfrontation gedeutet werden, so etwa der Abzug diplomatischen Personals und der Aufforderung an die eigenen Staatsbürger, die Ukraine zu verlassen.

Zunehmender Konformitätsdruck in der Debatte

Die Warnungen vor einem Krieg droht auf diese Weise zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Dazu trägt auch bei, dass Vertreter der Gegenseite in spe immer weniger zu Wort kommen und an Kritik der eigenen Seite gespart wird, um nicht eines Dolchstoßes beschuldigt zu werden. Der Konformitätsdruck ist groß – und er nimmt zu.

Sollte es uns nicht zu denken geben, wenn selbst eine Überschrift wie die der Frankfurter Rundschau mutig erscheint, die unlängst in roten Lettern titelte: "Sofort alle Truppen abziehen – auch die der Nato".

Mit dem propagierten Bild eines kaum mehr abwendbaren Krieges bricht auch die Wortmeldung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der unlängst vor überzogenen Warnungen angesichts eines Konflikts mit Russland Abstand genommen hat. Zugleich warf der Präsident des Landes, das die USA und die Nato zu beschützen vorgeben, den USA und der Nato vor, mit ihrem Alarmismus erst zur Eskalation beizutragen:

Sie beteiligen sich an dieser Informationssituation, die an unseren Grenzen geschaffen wird, (sie) verstehen, dass es Risiken gibt, sie artikulieren das immer wieder, sie stellen es so akut und brennend wie möglich dar. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler.

Wolodymyr Selenskyj

Offenbar ist die Wahrheit vielschichtiger und komplexer, als von den Meinungsmachern in Washington, Brüssel und durchaus auch Moskau dargestellt. Annalena Baerbock jedenfalls musste ein Gespräch mit Selenskyj jüngst von ihrer Agenda streichen, US-Präsident Joseph Biden schlug eine Einladung des Präsidenten nach Kiew aus.

Diese Interessendivergenzen werden zu wenig beachtet. Offenbar, weil sie das gängige Schwarz-Weiß-Bild stören.

Wer hört eigentlich auf die Ukraine?

Der diplomatische Druck Russlands und das militärische Bedrohungsszenario seien nur eine Seite der Medaille, zugleich nämlich gebe es ja diplomatische Aktionen, sagte der ukrainische Soziologe Wolodymyr Ischtschenko im Interview mit dem Magazin Jacobin. Der Direktor des Zentrums für Gesellschaftsforschung in Kiew bekräftigte, dass "Medienkampagne über eine bevorstehende Invasion, die ihre eigene Logik hat und von unterschiedlichen Interessen angetrieben wird, nicht als objektiver Spiegel russischer Handlungen betrachtet werden sollte".

Das Hauptziel dieser Kampagne sei wahrscheinlich nicht einmal Russland oder die Ukraine, sondern Deutschland, das sich seinen Nato-Verbündeten annähern soll.

Die Ukraine hat diese Kampagne in den westlichen Medien zunächst nicht einmal bemerkt. Sie versuchte dann, die Kampagne auszunutzen, indem sie mehr Waffen und vorbeugende Sanktionen gegen Russland forderte. Erst vor etwa zwei oder drei Wochen begann die ukrainische Regierung, sehr explizite Erklärungen abzugeben, dass die Invasion nicht unmittelbar bevorsteht, dass wir seit 2014 unter russischer Bedrohung stehen und daran gewöhnt sind. (…) Diese westliche Medienkampagne hatte sehr materielle und negative Folgen für die ukrainische Wirtschaft.

Soziologe Wolodymyr Ischtschenko

Kaum wahrgenommen – weil vielleicht weniger aufsehenerregend – werden zudem Appelle zur Deeskalation an beide Seiten. Ein solcher Vorstoß kommt von dem Konfliktforscher und Telepolis-Autor Leo Ensel sowie Ruslan Grinberg von der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Das gegenwärtige "Fahren auf Sicht" aller Akteure reiche nicht mehr, schreiben Ensel und Ginsberg:

"Benötigt wird stattdessen nichts weniger als ein kompletter Neustart in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Daher fordern wir vom Westen und Russland, eine neue euroantlantische Sicherheitsstruktur von Vancouver bis Wladiwostok unter Einbeziehung Russlands auf Augenhöhe zu entwickeln", heißt es in dem Appell, den Telepolis heute dokumentiert und der von Regierungen und Bürgern beider Seiten Schritte zur Deeskalation sowie eine kritische Haltung einfordert.