Russland: Noch ein hartes Rezessions-Jahr
Wegen nichtbezahlter Stromrechnungen fiel in der Millionenstadt Nischni-Nowgorod der öffentliche Nahverkehr zwei Tage fast komplett aus
Beim Besuch des Einkaufszentrums "Jewropejski" am Kiewer Bahnhof in Moskau staunt man nicht schlecht. Schon am 2. Januar war der 2007 gebaute, achtstöckige Einkaufstempel mit seinen 180.000 Quadratmetern wieder gerammelt voll. Ein Freund den ich zufällig traf, klärte mich auf. Zu Sowjetzeiten habe man sich nach dem Neujahrsfest draußen im Schnee getroffen, den Samowar zum Teetrinken aufgestellt und sich an der frischen Luft vergnügt. Wenn es damals modern war, sich draußen zu treffen, so sei es heute modern, Zeit im Einkaufszentrum zu verbringen. Denn zuhause sei es langweilig.
Das heißt nicht unbedingt, dass man im Einkaufszentrum etwas kauft. Die Menschen überlegen jetzt sehr genau, für was sie ihr Geld ausgeben. Denn die Löhne werden gekürzt, ihre Auszahlung zum Teil verschoben. Private und staatliche Unternehmen streichen Stellen. Dabei steigen Preise für Lebensmittel, Medikamente, öffentlichen Nahverkehr und Wohnungsnebenkosten. Die Indexierung der Renten, d.h. ihre Anpassung an die Inflation, wurde für die Rentner, welche noch einer Beschäftigung nachgehen, aufgehoben.
Feuerwehrleute warten auf ihr Gehalt
Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen klagen über Gehaltsrückstände. Den Feuerwehrleuten in der russischen Nordwest-Region und im russischen Fernen Osten wurde das Gehalt für Dezember 2015 nicht ausgezahlt, meldete das Internet-Portal Gazeta.ru. Der Leiter des Katastrophenschutzes im russischen Fernen Osten, Sergej Wiktorow, erklärte, die Nichtzahlung des Dezember-Gehalts hänge mit "der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Land zusammen". Man hoffe, den Feuerwehrleuten das Geld spätestens nach den russischen Neujahrsferien, am 11. Januar, auszahlen zu können.
Neue Abgaben machen den Bürgern Sorgen. Eine neue Steuer für Immobilieneigentum gilt auch für die Besitzer kleinster Hütten und Datschen. Millionen Russen wurden Anfang der 1990er Jahr zu Besitzern der Wohnungen in denen sie gemeldet waren. Nun sollen sich die Wohnungsbesitzer an den Kosten für eine Grundsanierung der Gebäude beteiligen, eine Aufgabe, welche bisher der Staat übernahm.
Die Zukunftsaussichten sind alles andere als rosig. 49 Prozent der Russen beklagen für das Jahr 2015 eine Verschlechterung ihrer materiellen Lage, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut FOM. 41 Prozent der Befragten erklärten, dass sich ihr Lebensniveau nicht verändert habe. Zehn Prozent erklärten, ihr Lebensniveau habe sich verbessert. 34 Prozent der Befragten erwarten eine Verschlechterung ihrer materiellen Lage.
Das Wirtschaftsblatt Wedomosti prognostizierte, dass das Jahr 2016 noch schwieriger werde als das Jahr 2015.
Der Ölpreis, so das Blatt, werde 2015 um weitere 15 Prozent fallen und der Wert des Rubel werde um weitere zehn Prozent abnehmen. "Bei einem Ölpreis unter 50 Dollar (im Dezember 2015 fiel der Ölpreis unter 40 Dollar pro Barrel, U.H.) wird es große Probleme geben", so die Wirtschaftszeitung. Die Reserven, die Russland noch habe, würden in diesem Fall nur noch bis 2017 reichen.
Kein Gas für Elektrizitätswerk im Fernen Osten
Die regionalen Budgets, welche bis zu 80 Prozent ihrer Ausgaben für Soziales leisten, sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Da wundert es nicht, dass Ende Dezember aus zwei russischen Regionen ernste Ausfälle in der öffentlichen Versorgung gemeldet wurden, Ausfälle, die es seit den 1990er Jahren nicht mehr gegeben hatte.
In der Stadt Petropawlowsk - sie liegt auf der Halbinsel Kamtschatka im Fernen Osten - stellte Gasprom wegen unbezahlter Rechnungen die Gaslieferung für das örtliche Heizkraftwerk TEZ-1 ein. Die Stromversorgung für 25.000 Menschen war gefährdet. Wie ein Sprecher des Elektrizitätsunternehmens Kamtschatskenergo gegenüber der Nachrichtenagentur Tass mitteilte, entstanden die Schulden bei Gasprom vor allem dadurch, dass Standorte des russischen Militärs auf der Halbinsel Kamtschatka ihre Stromrechnungen nicht bezahlten. Das Militär habe Schulden für gelieferte Elektrizität in Höhe von 5,1 Millionen Euro.
Das Kraftwerk konnte den Lieferausfall mit gebunkerten Heizöl-Reserven überbrücken. Nachdem sich die Leitung des Kraftwerkes verpflichtet hatte, die Schulden für Gaslieferungen im Oktober 2015 in Höhe von 1,3 Millionen Euro zu zahlen, nahm Gasprom die Lieferungen wieder auf.
Improvisieren in Nischni-Nowgorod
Noch dramatischer war die Lage an der Wolga in der Stadt Nischni-Nowgorod, der mit 1,2 Millionen Einwohnern fünftgrößten Stadt Russlands. Ende Dezember rückten in Nischni-Nowgorod zwei Tage lang 70 Prozent der Straßenbahnen und der Trolleybusse nicht aus ihren Depots aus. Der Grund: Die Stadt hatte Stromrechnungen für den Nahverkehr nicht bezahlt.
Die Menschen waren über den Ausfall des Nahverkehrs nicht informiert und warteten mit ihren Kindern und den gerade gekauften Geschenken bei zehn Grad Minus an den Haltestellen, berichtete erstaunlich ausführlich der staatliche Fernsehkanal Pervi. Eine etwa 55 Jahre alte Frau mit grauem Haar sagte dem Fernsehkanal: "Natürlich will man sich bei Jemandem beschweren. Aber man weiß nicht bei wem. Niemand ist schuld (sie lächelt, U.H.). Alle sind gut. Allen (gemeint sind offenbar die Beamten, U.H.) geht es gut. Und das Volk steht an den Haltestellen und wartet."
Nur Autobusse fuhren in Nischni-Nowgorod noch. Doch sie fuhren nur, weil das städtische Verkehrsunternehmen den Fahrern erlaubte hatte, die Busse mit dem beim Ticketverkauf eingenommenen Geld aufzutanken. Denn das Unternehmen, welches für die Versorgung der Busse mit Treibstoff zuständig ist, hatte die Lieferungen wegen unbezahlter Rechnungen in Höhe von 1,6 Millionen Euro eingestellt.
Nach Gesprächen mit der Stadtverwaltung entschied die Stromgesellschaft, die Stromversorgung für Trolleybusse und Straßenbahnen wieder aufzunehmen. Allerdings verpflichtete sich die Stadtverwaltung, bis zum Jahresende umgerechnet 512.000 Euro Schulden für Stromrechnungen zu bezahlen. Über eine Umstrukturierung der Gesamtschulden für Elektrizität in Höhe von 1,9 Millionen Euro soll nach den Neujahrsfeiertagen verhandelt werden.
Wie der bei der Stadtverwaltung für den Nahverkehr zuständige Beamte, Anatoli Gusew, gegenüber den Fernsehkanal 1TV erklärte, bräuchte der Nahverkehr mehr staatliche Subventionen. Denn der Fahrpreis sei "sozial". Ein kostendeckender Fahrpreis müsste höher sein.
Der Fernsehzuschauer konnte aus der Reportage des Pervi-Kanals nur den Schluss ziehen, dass in den staatlichen Strukturen etwas falsch läuft. Putin wird von den Russen für derartige Missstände nicht verantwortlich gemacht, eher die Regierung, in der zahlreiche Vertreter einer wirtschaftsliberalen Politik sitzen. Und diese Regierung betreibt eine strikte Haushaltspolitik.
Putin fordert von Regierung Steuererleichterungen für LKWs
Demonstrationen und Streiks gibt es in Russland wegen der Auswirkungen der Krise nicht. Aber die Menschen reagieren gereizt auf neue Abgaben. Seit Monaten rumort es im Internet, weil die Moskauer Stadtverwaltung das Parken in der Innenstadt fast komplett kostenpflichtig machte. Die einzigen, die es wagten, in den Streik zu treten, waren die Lastwagenfahrer kleiner Speditionen. Anfang Dezember machten sie mit Protestaktion gegen die Einführung einer Maut auf Fernstraßen von sich reden. Diese Maut würde kleine Speditionen in den Ruin treiben, hieß es von Seiten der Streikenden (Russische Fernfahrer mucken auf).
Putin forderte die Regierung Ende Dezember auf, die dreifache Steuerbelastung der LKW-Transporte (Benzin- und Transportsteuer sowie Maut) durch die Streichung der Transportsteuer für LKWs über zwölf Tonnen zu mindern. Seitdem sind die Proteste abgeebt. Doch noch immer stehen 15 LKWs als Streikposten vor den Einkaufszentren Ikea und Aschan in Chimki, einem Stadtteil im Norden Moskaus. Polizisten verhindern, dass dort weitere Protest-LKWs parken.
Gegen Kritiker greift der Staat hart durch. In der sibirischen Stadt Tomsk wurde der 35 Jahre alte Blogger Wadim Tjumenzew wegen "Extremismus" zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Er hatte im Internet zwei Videos veröffentlicht. In dem einen Video hatte er zu Straßenblockaden gegen die Erhöhung der Nahverkehrspreise aufgerufen. In einem zweiten Video hatte der Blogger behauptet, dass die Behörden Flüchtlingen aus der Ukraine mehr helfen als der eigenen Bevölkerung.
Möbel aus weißrussischer Produktion
Wie wird es mit der Wirtschaft weiter gehen? Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung rechnet für 2015 mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums um 3,7 Prozent. Für 2016 prognostiziert das Ministerium dagegen ein Wachstum von 0,7 Prozent.
Für Russland, als ein sich entwickelndes Land, wäre ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent normal, meint der Generaldirektor der Finanzgruppe "Otkritie", Ruben Aganbegjan, im Interview mit Gazeta.ru. Um die Wirtschaft zu beleben, brauche man Investitionen. Da es aus dem Ausland keine Kredite gäbe, komme man nicht darum herum, die Rentenkassen zu beleihen.
Diese Idee stößt bei linkspatriotischen Ökonomen, wie Michail Deljagin und Sergej Glasew, die im Kreml über Einfluss verfügen, auf harte Kritik. Glasew empfiehlt als Anti-Krisen-Rezept, eine Kontrolle des Handels mit Fremdwährungen, eine Erhöhung der Geldmenge, Kredite des Staates für Investitionen und eine "strategische Planung".
Ein hartes Urteil über die Krisen-Politik der russischen Regierung fällt der liberale Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew. Sie kämpfe nicht gegen die Krise, sondern habe sich "an sie gewöhnt" und lehre nun auch das Volk, "mit der Krise zu leben". Anstatt die Einkommen der Staatsangestellten zu erhöhen und neue Investitionsprojekte zu starten, versuche die Regierung die Staatsreserven bis zum Jahr 2018 zu sichern, damit man im Jahr der nächste Präsidentenwahl noch einen finanziellen Spielraum hat.
Politisch befänden sich die Russen in einem "Winterschlaf". Russland müsse damit rechnen, dass die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen nicht aufgehoben werden. Die Menschen müssten sich auf eine Senkung des Lebensniveaus auf "mehrere Jahre hin" einstellen. Das bedeute Möbel aus weißrussischer und Käse aus russischer Produktion. Davor graust vor allem der Mittelschicht in den Großstädten, die sich an Möbel aus Italien und Käse aus Frankreich gewöhnt hat. Doch für den Großteil der Bevölkerung waren diese Genüsse schon in der Vergangenheit unbekannt.