Russland im Krieg: Debatten "wegen des Ganzen"

Seite 2: Zeiten der Unsicherheit

Es sind die kleinen Unterschiede, die irritieren: Tampons müssen inzwischen online bestellt werden, weil sie im Supermarkt oder in der Apotheke nicht mehr erhältlich sind und an den Eingängen zu Fitnessstudios oder Sporteinrichtungen bilden sich ungewöhnlich lange Schlangen.

Sei es, weil die Menschen wegen Arbeitsverlust mehr Zeit haben oder zum Stressabbau - Sport scheint unerlässlich. Und worin sich alle einig sind: Es sind Zeiten der Unsicherheit.

Viele von D.s Freund:innen haben bei Adidas, Ikea oder Apple gearbeitet, es galt als cool; für internationale Firmen tätig zu sein, jetzt wurden sie bis Mai zwangspausiert. Dann wollen die Firmen entscheiden, ob sie das Geschäft in Russland wieder aufnehmen oder sich grundsätzlich aus dem russischen Markt verabschieden. Niemand glaubt daran, dass sich die Lage entspannt. Wer jetzt einen Job bei einer russischen Firma kriegen kann, nimmt ihn.

Aber so viele offene Stellen wie bedürftige Menschen gibt es natürlich nicht. Der russische Ersatz für Instagram, Rossgram, ist bereits auf dem Weg, was wird es für McDonalds werden?

D. ist nicht die einzige, die sich am Vorabend der Schließung von McDonalds mit ihren Freund:innen zu einer McDonald-Abschiedsrunde getroffen und Cheeseburger bestellt hat.

In der Geflüchteten-Unterkunft gibt es Streit, weil die ukrainischen Geflüchteten Schweine-Schinken gekauft haben. Den ganzen Tag läuft der Toastmaker auf Hochtouren. Käse-Schinken-Toasts gehören hier zu den Favoriten ebenso wie Cornflakes mit löffelweise Zucker. Dass es sich bei dem Schinken um Schweineschinken handelt, stößt bei den Geflüchteten aus dem arabischen Raum auf Missbilligung.

Für das Abendessen muss von den Betreuer:innen darauf geachtet werden, dass halal gekocht wird. Vegetarisches Essen, das von einer Großküche gespendet wird, wird nicht akzeptiert, da sind sich alle Geflüchteten ausnahmsweise mal einig. Sie mussten ihr Zuhause zurücklassen, das heute vielleicht nicht mehr existiert, und ihre Familien... und jetzt sollen sie Gemüse essen? Das macht doch nicht satt.

"Warum eigentlich Chile?", frage ich V., als sie S. und mir von ihren Auswanderungsplänen erzählt. V. spricht kein Spanisch und ihr einziger Sohn plant, in Deutschland zu leben und ist überhaupt nicht happy zu hören, dass seine Mutter ans andere Ende der Welt ziehen will.

Drei Gründe, sagt V.: Erstens, weil man nach fünf Jahren problemlos einen chilenischen Reisepass beantragen kann, der einem weit mehr Reisefreiheit einräumt als ein russischer, zweitens, weil das Leben dort billiger ist und ergo genau das Richtige für den Ruhestand und drittens, weil das Land nicht so dicht bevölkert ist wie Europa – die russische Community dort ist klein und die Russophobie lange nicht so verbreitet wie in Deutschland.

S. widerspricht. Seitdem er mit Kriegsbeginn nach Berlin gekommen ist, hat er keinerlei Aggression oder Zurückhaltung in seine Richtung erlebt, eher im Gegenteil: Zweimal wurde er auf ein Bier eingeladen, sein ehemaliger Chef hat ihm in seinem Büro einen Platz zum Co-Worken angeboten. In seinem Umfeld herrscht ein Bewusstsein dafür, dass auch Russ:innen, wenn auch ganz anders als Ukrainer:innen, unter ihrem Präsidenten und dem Krieg leiden.

V. lässt sich davon nicht überzeugen, sie ist sich sicher, dass es sich mit der Russophobie in ihrer Generation anders verhält. Neben Chile sieht V. momentan nur Kasachstan als Alternative. Sie hat dort mehrere Jahre gelebt und liebt das Land. Das sei, ähnlich wie vielleicht Chile, ein Land, in dem, im Gegensatz zu Deutschland, noch nicht alles so etabliert und festgefahren sei; ein Land mit chaotischen Strukturen. In solchen fühlt sich V. wohl, weil sie Handlungsspielraum ermöglichen.

Handlungsspielraum ist, was V. seit ein paar Wochen am meisten fehlt. Sie fühlt sich wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis, "eingeklemmt, unmöglich da herauszukommen", sagt sie. Auf der einen Seite der belgische Shareholder, für den sie arbeitet und der die russische Außenstelle mit Sanktionen belegt hat, sodass die Produktion eingestellt wurde und ein Lieferengpass entstanden ist, und auf der anderen Seite der russische Staat, der per neu verfasstem Gesetz verbietet, den europäischen Sanktionen zu folgen.

Es beiden Seiten recht zu machen, ist unmöglich. Weil V. die legale Haftung für die russische Außenstelle trägt, fürchtet sie juristische Konsequenzen vonseiten der russischen Behörden.

Zwei syrische Jugendliche fragen mich mit Google Translate, warum sie von der Telekom keine freie Sim-Karte ausgestellt bekommen. Ich ringe nach Worten. Ohne, dass es klar so formuliert wurde, haben sich in der Geflüchteten-Unterkunft zwei Gruppen gebildet: Die Ukrainer:innen und die Nicht-Ukrainer:innen.

Dass diese beiden Gruppen jeweils untereinander sehr heterogen sind, scheint dabei weniger eine Rolle zu spielen. Denn wenn die Telekom verkündet, dass nur ukrainische Geflüchtete kostenlose Sim-Karten bekommen oder die BVG Ukrainer:innen die kostenlose Benutzung ihrer Verkehrsmittel anbietet, lässt sich diese Zwei-Gruppen-Bildung schwer vermeiden. Wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis in der Unterkunft mit Sim-Karten gefeilscht wird.