Russland im Krieg: Debatten "wegen des Ganzen"

Moskau Metro; Symbolbild: Dekler Ph/Unsplash

Weil man "Krieg" nicht sagen darf, sagen Russen jetzt "Потому что вот это все". Das ist wie ein Code und alle wissen, was gemeint ist. Persönliche Beobachtungen

Semjon Semjonowitsch setzt die Brille auf, schaut zur Kiefer und sieht: auf der Kiefer sitzt ein Kerl und droht ihm mit der Faust.

Semjon Semjonowitsch nimmt die Brille ab, schaut zur Kiefer und sieht, dass auf der Kiefer niemand sitzt.

Semjon Semjonowitsch setzt die Brille auf, schaut zur Kiefer und sieht wieder: auf der Kiefer sitzt ein Kerl und droht ihm mit der Faust.

Semjon Semjonowitsch nimmt die Brille ab und sieht wieder, dass auf der Kiefer niemand sitzt.

Semjon Semjonowitsch setzt die Brille wieder auf, schaut zur Kiefer und sieht wieder: auf der Kiefer sitzt ein Kerl und droht ihm mit der Faust.

Semjon Semjonowitsch will dieser Erscheinung nicht glauben und hält sie für eine optische Täuschung.

Daniil Charms: Fälle

Sonntagnacht erhalte ich eine panische Nachricht von einer befreundeten Videokünstlerin, I., aus Moskau, die sich für eine Residency in Berlin bewerben will. Die Deadline ist schon in zwei Tagen und sie braucht dringend Hilfe bei der Übersetzung ihres Portfolios. Ihr künstlerisches Vorhaben umfasst die Adaption von Charms "Optischer Täuschung".

Dass sie sich seit einem Jahr mit dem Animieren von Kinderfilmen für Russia Today finanziell über Wasser hält, erwähnt sie in ihrer Bewerbung nicht – aus Angst, direkt dem Pro-Putin-Lager zugeordnet zu werden. Viele Freund:innen, die im medialen, kreativen Sektor arbeiten und regime-kritische Kunst machen, fürchten, dass ihre Arbeit immer mehr zensiert werden wird.

Das ist nicht neu: Mit einer gewissen Zensur zu leben und diese geschickt zu umgehen, ist hier normal, daran hat man sich gewöhnt. Aber die Angst wird größer aufzufallen und mit juristischen Konsequenzen rechnen zu müssen. Und Kunst, die nicht kritisch ist und vom russischen Staat als russisches Kulturgut vereinnahmt werden könnte, das wollen sie auf keinen Fall produzieren.

"Darin steckt die russische Seele"

Ich erinnere mich an den Geburtstag von S. im Mai letzten Jahres in Moskau. Weil es draußen in Strömen regnete, waren wir in einer Bar gestrandet. Irgendjemand hatte eine Gitarre aufgetrieben und russische Volkslieder angestimmt. I. saß neben mir und übersetzte mir die Texte, wobei sie immer wieder eine Pause machte, um mit ganzem Herzen mitzusingen. Ihre Backen waren gerötet, ihre Augen leuchteten. Während ihres ersten Studiums hatte sie zwei Jahre in Paris gelebt, aber dort zu bleiben, das hatte sie nicht gewollt.

"My heart belongs to Russia", kreischt sie mir über die Gitarre hinweg ins Ohr. Sie liebt die russische Sprache, die Literatur, die Kunst. Niemals könnte sie mit einem Mann zusammensein, der die russischen Volkslieder nicht versteht, sagt sie. "Darin steckt die russische Seele, das sitzt so tief, das kannst du nicht begreifen." Dabei schaut sie zu ihrem Mann rüber, der neben ihr sitzt und mit ebenso gerötetem Kopf den Text mit trällert. Selten habe ich die beiden so ausgelassen erlebt. Eine kollektive Identität? Ein kollektives Gedächtnis?

Ich erinnere mich, dass ich mich in diesem Moment plötzlich fremd gefühlt habe in der Runde. Und dass ich S. und seine Freunde, die sich in den Armen lagen und sangen, beobachtete, während ich nicht verstand, um was es ging. Und das lag nicht an der lückenhaften Übersetzung.

Jetzt bewirbt sich I. für die Residency in Berlin und ihr Mann sucht einen Job in Deutschland. Die beiden sprechen kein Wort Deutsch, beide sind traurig, ihre Heimat hinter sich zu lassen, aber in Moskau bleiben wollen sie auch nicht. Das, was sie als Heimat begreifen, wird gerade zerstört. Und dagegen tun können sie nichts, sagen sie.

Der Kontrast

Seitdem ich aus Moskau abgereist und nach Berlin zurückgekommen bin, versuche ich mit diesem Kontrast zu leben, dass in mir drin alles über Kopf ist und nichts mehr wie zuvor und sich dieses Gefühl aber nicht in der Realität um mich herum widerspiegelt.

Dieser Kontrast wird für einen Moment kleiner, wenn ich zum Hauptbahnhof fahre, um ankommenden Ukrainer:innen eine Übernachtungsmöglichkeit zu organisieren, ein Zugticket zu besorgen oder einfach den Weg zur Toilette zu zeigen.

Er wird auch kleiner, wenn ich in der Geflüchteten-Unterkunft für unbegleitete Jugendliche Wäsche wasche, Ofengemüse koche oder Corona Schnelltests durchführe, damit die Jugendlichen in den Zoo, ins Schwimmbad oder einfach ins Café gehen können. Und er wird kleiner, wenn ich mit Freund:innen aus Moskau im Kontakt stehe und Neuigkeiten austausche.

Eine andere Freundin D. erzählt, dass in der Metro in Moskau schwarzgekleidete Männer mit großem Z auf dem Rücken, die nach inoffizieller Polizei aussahen, rumgegangen sind und mit ihrer Präsenz das Abteil dominiert haben. Die Männer waren jung, wenn man ihnen einzeln auf der Straße begegnen würde, würden sie nicht weiter auffallen, aber als Gruppe waren sie angsteinflößend.

D. hatte Sorge, dass sie ihr Handy checken würden. Seit Instagram zu einer extremistischen Firma erklärt wurde, hat sie das Instagram-Icon durch ein Baby-Icon ersetzt und es kasha genannt, übersetzt: Haferschleim, weil Instagram bei zu langem Gebrauch genau das mit ihrem Kopf macht.

Aber die Männer gehen an D. vorbei. Trotzdem steigt sie bei der nächsten Station aus, obwohl es noch vier Stationen bis zu ihrem Ziel wären. Sie nimmt lieber das Taxi. Von dort aus ruft sie mich an. Das Wort "Krieg" will sie vor dem Fahrer lieber nicht verwenden, überhaupt achtet sie in der Öffentlichkeit und im professionellen Kontext auf ihre Wortwahl, das heißt darauf, wie sie über Dinge spricht und was sie überhaupt zur Sprache bringt.

Weil man "Krieg" nicht sagen darf, sagt man jetzt "Потому что вот это все", was von der Bedeutung in die Richtung geht: "Wegen des Ganzen", um über die politische Lage zu sprechen. Das ist wie ein Code und alle wissen, was gemeint ist.

"Zombified"

D. hadert. Selbst wenn in ihrer Blase niemand "zombified" ist, sollte man besser aufpassen – man weiß ja nie. "Zombified" nennt sie Menschen, die den Krieg für eine Spezialoperation halten, die eins zu eins glauben, was im Fernsehen erzählt wird; Putin-Unterstützer:innen eben. Und davon gibt es gar nicht so wenige.

Von vielen Freund:innen hat sie bereits gehört, dass sie sich komplett mit Eltern, Onkeln, Tanten oder Großeltern überworfen haben. Ein Generationenkonflikt? Sie weiß es nicht. Fakt ist, dass man immer häufiger ein Z hinter der Frontscheibe von Autos sieht.

Nur im Freundeskreis wird offen geredet. Die ersten zwei bis drei Wochen nach Kriegsbeginn standen alle unter Schock. Da wurde geweint, sich in den Armen gelegen und über nichts anderes geredet als über den Krieg. Stories auf Instagram zu posten schien unangebracht, auch ausgegangen wurde nicht, man war in Trauer. Innerhalb von wenigen Tagen verließ die Hälfte von D.s Freund:innen überstürzt das Land.

Es war diese Panik, nicht mehr rauszukommen, mit allem zu rechnen, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringen würde, die auch S. und ich so stark empfunden hatten und die uns dazu bewegt hatte, nach Berlin zu gehen.

Diese erste Bewegung an Ausreisen hat sich ein wenig gelegt, wer jetzt plant zu gehen, handelt überlegter. Auch D. will weg. "Jetzt werden dir in Moskau, wo es sonst so schwer ist; eine bezahlbare Wohnung zu finden, die Wohnungen hinterher geschmissen", scherzt D. Nur mit Mühe hat sie einen Nachmieter gefunden, der die Kaution übernimmt.

D. will zurück nach Almaty, wo ihre Familie wohnt. Über acht Jahre hat D. in Moskau gelebt, sie liebt die Stadt und hätte nie gedacht nach Kasachstan zurückzukehren. Aber irgendetwas verschiebt sich gerade in ihr, so ganz hat sie das selbst noch nicht begriffen. Vielleicht hat es etwas mit dem Gespräch zu tun, das sie vor ein paar Tagen mit einer Freundin geführt hat, die in Almaty einen Techno-Club betreibt?

Die hat erzählt, dass diese Tage besonders viele Moskauer:innen zum Tanzen zu ihr kommen und ihren Club "Klein-Mutabor" nennen, bezogen auf den Club Mutabor, dem als subversiv und queer geltenden Elektro-Club in Moskau, den ich schon spaßeshalber "Klein-Berghain" genannt habe. Irgendwas daran stört die beiden Freundinnen und als D. dieses Gefühl mit ihrem Moskauer Freundeskreis teilt, stößt sie auf Gegenwehr, weil plötzlich zur Frage steht, ob Russ:innen in ehemaligen Sowjetländern mit einer gewissen imperialistischen Haltung auftreten.

D. wird entgegen gehalten, dass es nie ein Problem war in Kasachstan, Georgien oder in der Ukraine Russisch zu sprechen, erst jetzt würde es zum Problem, weil Menschen grundsätzlich kritischer auf Russ:innen reagierten. D. weiß es auch nicht: Als im Januar in Almaty die Revolution ausgerufen wurde und sie mit ihrer Mutter in ihrer Wohnung im Zentrum festsaß und den Schüssen lauschte, die sie fälschlicherweise zuerst für ein Feuerwerk gehalten hatte - so fern war in ihrem Kopf die Möglichkeit eines offenen Feuers auf der Straße - hat sie sich über das russische Militär gefreut, das "Ordnung" geschaffen hat. Heute schmunzelt sie darüber, sie weiß, dass sie sich widerspricht.

Inzwischen ist die Grabesstimmung der ersten zwei bis drei Wochen nach Kriegsbeginn einer gewissen Normalität gewichen und das ist eigentlich am Beunruhigendsten. Zwar trifft man sich weiterhin lieber Zuhause als in Bars oder Restaurants, weil es sich, mal abgesehen davon, dass jetzt alle sparen müssen, pietätlos anfühlt; auszugehen und Spaß zu haben.

Aber es werden auch wieder Themen abseits vom Krieg diskutiert, Beziehungsprobleme oder ein Film, den man gemeinsam gesehen hat. Ganz oben auf der Liste der zu sehenden Filme steht zurzeit "Der große Diktator". Wenn man nicht aufpasst, kriegt man den Krieg hier nicht mit, sagt D., auf der Oberfläche geht alles seinen gewohnten Gang.