Russland ringt um seine Machtrolle

Fussnoten

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Nachträglich, nach den blutigen Verlaufsformen der Demokratisierung der Ukraine, haben einige europäische Politiker das Vorgehen der EU als Fehler bedauert; ein billiges Bekenntnis, da der Lagerwechsel ja schon passiert und der Putsch als eine Form von freier Selbstbestimmung der Ukraine deklariert worden war. Daran, den besagten Fehler rückgängig zu machen, war natürlich nie gedacht.

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Nachzulesen in GegenStandpunkt 1-14: "EU-Osterweiterung zum Dritten: die 'östliche Partnerschaft' mit der Ukraine. Europa geht bis an die Grenzen seiner Methode friedlicher Eroberung und darüber hinaus" und GegenStandpunkt 2-14: "Ein Bürgerkrieg in der Ukraine und eine neue weltpolitische Konfrontation".

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Der russische Standpunkt wird im Folgenden ausführlich zitiert. Die deutsche Öffentlichkeit mit ihrem überragenden Ethos der freien Meinungsbildung hält es ja nicht für nötig, die Argumentation der anderen Seite bekannt zu machen, und billigt auch ausdrücklich die Unterbindung der Versuche russischer Medien, sich Gehör zu verschaffen, siehe die aktuelle Verhinderung eines deutschsprachigen Fernsehkanals von Russia Today. Mit der Identifizierung als Fake News, Desinformation, der modernen Fassung von auszuschaltender Feindpropaganda, ist das Thema erledigt.

Die Sache wäre leicht abzuhaken, wenn man es hier bloß mit der subjektiven Wahrnehmung der russischen Führung zu tun hätte. Es ist schlimmer: Hier nimmt eine militärische Weltmacht ihre strategische Lage wahr, in die ihr erklärter Gegner sie bringt, und erklärt dem, dass und warum sie die nicht aushält. Das für einen bloßen Wahn zu halten, ist eine parteiliche Dummheit der demokratischen Weltöffentlichkeit. Das zu ignorieren, ist nichts Geringeres als eine Gegen-Kriegserklärung der Verantwortlichen im Westen.

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Zwar bestehen etliche Defizite des ukrainischen Militärs, die die Nato-Betreuer beklagen, weiterhin; aufgrund des notorischen Geldmangels des ukrainischen Staats bleibt immer wieder einmal der Sold von Soldaten und Offizieren aus; auch die Subsumtion der Freiwilligenverbände unter eine strikte Befehlshierarchie ist keineswegs beendet. Aber die Westernization der ukrainischen Armee (siehe den Artikel in GegenStandpunkt 2-20: "Von Russland befreit, bis zum Ruin verwestlicht, von Krisen überrollt") hat gewirkt.
"Die Aufrüstung der Ukraine wird vor allem von den USA vorangetrieben, die dafür seit 2014 gut 2,5 Milliarden US-Dollar aufgewandt haben und im Gesetz für ihren nächsten Militäretat weitere 300 Millionen US-Dollar einplanen. Washington lieferte unter anderem mindestens 360 Javelin-Panzerabwehrraketen, 30 gepanzerte Fahrzeuge sowie 24 Aufklärungsdrohnen des Modells Raven. Das geht aus einem Bericht des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC) hervor... Tschechien hat der Ukraine 50 gebrauchte Schützenpanzer und 40 gebrauchte Selbstfahrlafetten geliefert, aus Polen erhielt sie laut dem BICC weitere 37 gebrauchte Schützenpanzer plus 54 gebrauchte gepanzerte Mannschaftstransporter... Die Türkei wiederum verkauft der Ukraine die unter anderem im aserbaidschanischen Krieg gegen Armenien erfolgreich erprobten bewaffneten Bayraktar-TB2-Drohnen." (junge Welt, 10.12.21)

"Ein weiteres Ziel der Streitkräfte war eine ansteigende Teilnahme an multinationalen Übungen, um die neu eingeführten Standards weiter zu verbessern und Nato-Erfahrungen zu sammeln... Die ukrainische Armee befindet sich im internationalen Ranking der Streitkräfte von Staaten auf Platz 29 mit einem Aktivstand von 250 000 und einem Reservestand von über 900 000 Personen (ukrainische Angaben). Das Verteidigungsbudget nimmt mittlerweile über fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes ein." (Michael Barthou, truppendienst.com, 26.8.18)

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"Die US-Luftwaffe hat einen ersten Aufklärungseinsatz über der Ostukraine nahe der Grenze zu Russland geflogen... Bei dem Flugzeug Northrop Grumman/Boeing E-8 Joint STARS (Joint Surveillance Target Attack Radar System) handelt es sich um einen Komplex zur Fernüberwachung und Zielzuweisung, zur Ortung und Klassifizierung von Bodenzielen rund um die Uhr bei beliebigen Wetterbedingungen sowie zur Koordinierung von Kampfhandlungen und zum bilateralen Austausch von Daten mit Bodenkräften in Echtzeit." (sna, 29.12.21)

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Die ukrainische Seite macht also kein Geheimnis daraus, dass das, was als friedensstiftende Rückholung legitimen ukrainischen Besitzstandes vorstellig gemacht wird – "Dabei, so Jermak, habe sein Chef Biden gegenüber bekräftigt, die Ukraine habe nicht vor, jemanden anzugreifen: 'Wir wollen nur Frieden in unser Land bringen, unser Territorium zurückholen und unsere Menschen.'" (de.rt.com, 10.12.21) –, auf ein Kriegsszenario der Nato mit Russland berechnet ist.

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Nachzulesen in GegenStandpunkt 3-21: "Wie die Ukraine die Szenerie eines drohenden Kriegsausbruchs produziert und die Welt um eine neue Anklage gegen Russland bereichert"

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"Die US-Regierung sei offen, über die Zahl ihrer in Zukunft stationierten Offensivraketen in der Ukraine zu sprechen, teilten ranghohe Mitarbeiter in einer Telefonschalte mit Journalisten mit" (Zeit Online, 9.1.22) – eine Aufrüstung, die bis gestern entschieden in Abrede gestellt worden ist.

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"Bei der Aufrüstung der ukrainischen Marine tut sich inzwischen besonders Großbritannien hervor. Im Juni 2021 unterzeichneten Vertreter beider Seiten eine Übereinkunft, die eine enge Kooperation nicht nur bei der Beschaffung neuer Kriegsschiffe, sondern auch bei der Ausbildung ukrainischer Marinesoldaten sowie beim Bau neuer Marinebasen vorsieht. Bei letzterem geht es konkret um eine Marinebasis in Berdjansk, deren Bau auch die USA sowie die EU unterstützen sollen. Weiter soll die Ukraine zwei Minenjagdboote erhalten, die die britische Marine im August außer Dienst gestellt hat. Zudem ist die gemeinsame Produktion von Schnellbooten und einer Fregatte geplant... 20 neue Patrouillenboote hat Kiew bei der französischen Werft Ocea bestellt, fünf von ihnen werden im ukrainischen Mikulajiw montiert." (junge Welt, 10.12.21)

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"Die Ukraine lässt ... in diesem Jahr mehr ausländische Soldaten auf ihrem Gebiet zu. Das entschied das Parlament am Dienstag in der Hauptstadt Kiew. Demnach dürfen sich 2021 bis zu 2000 US-Soldaten und weitere 2000 Militärs aus Nato-Staaten im ganzen Land dauerhaft aufhalten. Das sind 1000 mehr als im Vorjahr. Ganzjährig werden auch ausländisches Militärgerät und bis zu zehn Flugzeuge in den an Russland grenzenden Staat gelassen. Ziel seien taktische Übungen und das Training ukrainischer Soldaten, teilte die Rada mit. Darüber hinaus werden 2021 sechs Manöver mit ausländischer Beteiligung in der Ukraine abgehalten." (rnd.de, 26.1.21)

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"Finnland, das eine 1 340 Kilometer lange Landgrenze mit Russland hat, hat auf die militärische Aufrüstung des Kremls und das Muskelspiel in der Region reagiert, indem es seine Verteidigungsinfrastruktur verstärkt hat. Im Dezember 2021 unterzeichnete Finnland einen 11,2-Milliarden-Dollar-Vertrag mit Lockheed Martin über den Kauf von 64 F-35A-Flugzeugen, um seine alternde Flotte von Boeing F/A-18C-Hornets zu ersetzen." (defensenews.com, 6.1.22) "Finnlands sich vertiefende Verteidigungsbeziehungen mit der Nato wurden im Januar deutlich, als US-Flugzeuge im Rahmen eines internationalen Manövers unter der Leitung des Lappland-Geschwaders der finnischen Luftwaffe Luftbetankungsübungen über Nordfinnland durchführten. Bei der viertägigen Übung, die am 27. Januar stattfand, wurden finnische F/A-18-Hornets von einem KC-135-Stratotanker der US-Luftwaffe aufgetankt." (defensenews.com, 4.2.22)

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"Nicht erst unter Trump, unter Trump aber in neuer Entschiedenheit: Die amerikanische Weltmacht treibt die Entmachtung ihres russischen Rivalen voran". In: GegenStandpunkt 3-19

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"Das Auftauchen von taktischen Atomwaffen in der Ukraine ist eine strategische Bedrohung für uns. Denn die Reichweite kann von 110 Kilometern auf 300, auf 500 Kilometer erweitert werden – und schon ist Moskau in der Reichweite von Militärschlägen. Das ist eine strategische Bedrohung für uns. Und so haben wir es auch verstanden. Wir müssen und werden sie auf jeden Fall sehr ernst nehmen." (Wladimir Putin, 22.2.22)

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"Rüstungsdiplomatie unter Trump und Biden: INF, Open Skies et al. gekündigt, New START verlängert. Fortschritte in der amerikanischen Friedenspolitik gegen den Rivalen in Moskau". In: GegenStandpunkt 3-21

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Nachzulesen in GegenStandpunkt 1-07: "Putin auf der Sicherheitskonferenz: Wir können auch anders".

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"Dazu gehören der Sonderstatus des Donezbeckens, der mit den Republiken abgestimmt wurde, sowie die Festigung dieses Sonderstatus in der Verfassung der Ukraine, in der das Element der Föderalisierung, Dezentralisierung, wie es in den Minsker Vereinbarungen festgeschrieben ist, enthalten ist. Auch die bedingungslose Amnestie und Durchführung von Wahlen nach den Regeln, die zwischen Kiew und Donezk und Lugansk auf Grundlage der OSZE-Prinzipien abgestimmt wurden. Danach wird die vollwertige Kontrolle der Führung des ukrainischen Staates über den von ihm jetzt nicht kontrollierten Teil der Grenze zu Russland wiederhergestellt. Das ist schwarz auf weiß in den Minsker Vereinbarungen geschrieben." (Sergej Lawrow, 18.11.21) Lawrow zitiert "... die Sabotage, die vom ukrainischen Regime bezüglich der Minsker Abkommen kontinuierlich erfolgt. Sie wollen sie nicht erfüllen, [sie] wollen sie neu schreiben. Dazu versuchen sie, Ministertreffen und Treffen auf der höchsten Ebene in der Hoffnung einzuberufen, dass man sich an den Verhandlungstisch setzt, Tee trinkt und Sergej Lawrow bzw. Wladimir Putin dazu überredet, 'hier ein bisschen zu revidieren', weil Kiew dies gar nicht erfüllen kann." (Ebd.)

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"Oleksiy Danilov, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine ... 'Die Erfüllung des Minsker Abkommens bedeutet die Zerstörung des Landes... Als sie unter russischen Gewehrläufen unterzeichnet wurden – und die Deutschen und die Franzosen zusahen – war es bereits für alle vernünftigen Menschen klar, dass es unmöglich ist, diese Dokumente umzusetzen'... Danilow rief dazu auf, ein neues, realistisch umsetzbares Dokument auszuhandeln, und fügte hinzu, dass es 'Putin zwingen sollte, seine Truppen und Panzer einfach zurückzuziehen'." (USNews, 31.1.22)

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Russland versucht auch immer wieder, die europäischen Schutzmächte der Ukraine darauf hinzuweisen, wie großzügig sie über den Umgang der Ukraine mit hohen demokratischen Werten wie u.a. der Meinungsfreiheit hinwegsehen: "Was die Medien betrifft, so haben wir, als drei Fernsehsender in Kiew verboten wurden, die Angelegenheit unseren französischen Kollegen vorgetragen. Sie sagten, sie seien alle für die Meinungsfreiheit, aber diese Kanäle wurden in Übereinstimmung mit der ukrainischen Gesetzgebung verboten. Das ist bezeichnend. Wir wollen, dass die EU eine unabhängige Rolle spielt. Hier ist ein weiteres Beispiel, das die Ukraine betrifft. Die EU fungierte als Garant für das Abkommen zwischen Viktor Janukowitsch und der Opposition vom Februar 2014. Doch schon am nächsten Tag warf die Opposition die Vereinbarung über den Haufen. Brüssel hat geschwiegen, und nun bezeichnen manche diesen Aufstand als 'demokratischen Prozess'." (Sergej Lawrow, 14.1.22)

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Man sieht: Die schlechte Gewohnheit des gesunden Menschenverstandes, in der eigenen Vorstellung kriegerische Maßnahmen der Staaten gegeneinander aufzurechnen, um aus einem geglaubten Ungleichgewicht oder mittels der Kindergartenfrage "Wer hat angefangen?" die eigene höchstpersönliche Entscheidung darüber abzuleiten, welcher Seite ein moralisches Recht auf Krieg zuzubilligen sei – ein Verfahren, mit dem eine ganz anders begründete Parteilichkeit bloß sich selber rechtfertigt –, findet ihre Anhaltspunkte allemal in den praktischen Rechnungen der Strategen beider Seiten mit den militärischen Fortschritten ihres Gegners.

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Dass die OSZE-Verträge sowohl die Sicherheit der einzelnen Staaten als deren Recht festschreiben, die unter Staatsgewalten eben von ihresgleichen infrage gestellt wird, wie auch allen zusammen eine gemeinsame unteilbare Sicherheit zusichern, also diesen Widerspruch für gut vereinbar erklären, ist eine sehr konstruktive Anwendung des Prinzips des Völkerrechts, die Gewalt der Staaten als ihr Recht festzuschreiben.

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"Artikel 6: Die Vertragsparteien verpflichten sich, bodengestützte Mittel- und Kurzstreckenraketen weder außerhalb ihres Territoriums zu stationieren noch in solchen Gebieten innerhalb ihres Territoriums, von denen aus diese Waffen Ziele im Territorium der anderen Vertragspartei erreichen können.

Artikel 7: Die Vertragsparteien verzichten darauf, Nuklearwaffen außerhalb ihres Territoriums zu stationieren, und werden solche Waffen, die bereits außerhalb ihres Territoriums stationiert sind, mit Inkrafttreten dieses Vertrages zurückführen. Die Vertragsparteien werden jegliche bestehende Infrastruktur für die Dislokation von Nuklearwaffen außerhalb ihres Territoriums vernichten.

Die Vertragsparteien werden weder militärisches noch ziviles Personal von Nicht-Atom-Staaten im Gebrauch von Nuklearwaffen ausbilden. Die Vertragsparteien werden weder Manöver noch Übungen der Allgemein-Streitkräfte durchführen, die Szenarios mit Atomwaffengebrauch einschließen." (Vorschlag für einen Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation über Sicherheitsgarantien, mid.ru, 17.12.21)

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Auch Russland will nicht auf eine Legitimationsveranstaltung der völkerrechtlichen Art verzichten und möchte das daher bitte schriftlich bestätigt haben, dass USA und Nato gegen die Bestimmung der OSZE-Verträge verstoßen – "dies wird ein weiteres Eingeständnis von ihrer Seite sein". Schließlich ist es selbst auf dieser Ebene immerzu den Angriffen der Vertreter der regelbasierten Weltordnung ausgesetzt, die ihre Interessen in der Fassung verbindlicher, völkerrechtskonformer Bestimmungen geltend machen und umgekehrt auf der völkerrechtlichen Delegitimierung der russischen Interessen bestehen, damit sich die Staatenwelt in die amerikanisch geführte Front einreiht.

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Das russische Militär verstärkt seine Präsenz insbesondere an der Westgrenze und im Schwarzmeerraum so massiv, dass die Gegendrohung auch glaubhaft wird, führt seinerseits ständig Manöver durch, beweist per Satellitenabschuss, dass es auch die Kriegführung im Weltraum beherrscht, lässt strategische Bomber patrouillieren und feuert – ein kriegstechnisches Novum – Salven einer neuen Hyperschallwaffe ab, damit die andere Seite gut versteht, wozu man bereit ist.

"Der Salvenstart von zwölf Hyperschall-Antischiffsraketen des Modells Zirkon in der Weihnachtsnacht [war] durchaus ein Präsent eigener Art an die Adresse Washingtons. Denn wenige Tage vor dem Fest war den USA ein weiterer Test einer eigenen Hyperschallwaffe schiefgegangen. Die Zirkon hat nach russischen Medienberichten das Potential, den Flugzeugträgerformationen, durch die die USA ihre Herrschaft über die Weltmeere ausüben, zumindest sehr empfindliche Schläge zuzufügen." (junge Welt, 5.1.22)

"Russland antwortet mit Satelliten-Abschuss... Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ... Der Test sei besorgniserregend, weil er zeige, dass Russland neue Waffensysteme entwickele, die auch die Infrastruktur für zivile Navigations- und Kommunikationssysteme auf der Erde zerstören könnten... Die Nato hatte bereits im Juni beschlossen, dass Angriffe aus dem oder im Weltraum künftig nach Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung als Bündnisfall behandelt werden können. Das gilt bisher für Angriffe am Boden oder im Luft-, See- oder Cyberraum. Begründet wurde der Schritt unter anderem damit, dass Angriffe auf Satelliten im Fall eines Krieges genutzt werden könnten, um Teile des öffentlichen Lebens lahmzulegen. So könnten die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, Handynetze oder Navigationssysteme für den Straßen-, See- und Luftverkehr schwer beeinträchtigt werden." (DWN, 16.11.21)

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