Russland und die Ukraine: Über Selbstbestimmung und Annexion

Seite 3: Russland unternimmt nun, wogegen es einst widersprochen hat

Insbesondere Russland widersprach ausdrücklich. Denn gleichzeitig bestätigte der Gerichtshof die Gültigkeit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, in der die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien garantiert wird. Das Gericht schwieg sich auch über den endgültigen rechtlichen Status des Kosovo aus und umging die Frage, welchen Rechtsstatus er der kosovarischen Nationalversammlung zuerkennt, die die Unabhängigkeitserklärung ausgesprochen hatte. Bisher ist der Kosovo nur von 115 Staaten anerkannt; die UNO hat 193 Mitgliedsstaaten.

Dass die Ungültigkeit einseitiger Unabhängigkeitserklärungen dem Friedensauftrag des Völkerrechts entspricht, zeigen die zahlreichen Sezessionsbestrebungen in der Welt, ob der Basken und Katalanen in Spanien, der Einwohner von Quebec in Kanada, der Schotten oder ehemals der Kurden.

Sollte ihnen die Möglichkeit einseitiger Trennung aus ihren Staatsverbänden gegeben werden, würde eine Büchse der Pandora geöffnet, vor der schon Putin anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gewarnt hatte. Dass er nun selbst in sie gegriffen hat, mag vor dem Hintergrund der aggressiven Einkreisungs- und Eindämmungsstrategie der USA und Nato verständlich sein, die strenge Grenze der Legalität darf damit aber nicht überschritten werden.

Wie soll man der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Annexionspolitik der israelischen Regierungen entgegentreten, wenn sie mit der Unterstützung durch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Legitimität ihrer Politik beanspruchen?

Der einzige Grund dafür, diesen Prozess nur über den politischen Weg von gemeinsamen Verhandlungen und Verabredungen zu erlauben und in gemeinsamem Einverständnis zu beschließen, liegt in der Erhaltung friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Parteien.

Eritrea hat dreißig Jahre lang einen blutigen Kampf um seine Unabhängigkeit von Äthiopien gekämpft, gegen den Willen und ohne Unterstützung von OAU und UNO. Als es schließlich gesiegt hatte, dauerte es nicht lange und es wurde von beiden Organisationen aufgenommen. Der Ukraine wird ein solcher Krieg hoffentlich erspart bleiben

Doch wem gehört nun die Krim, wem der Donbass? Juristisch sind die Gebiete immer noch Teil der Ukraine, faktisch aber Teil der Russischen Föderation. Die Krim wird dort auch bleiben, denn offenbar will die Mehrheit der Bevölkerung weder zurück in die Ukraine, noch wird Putin sie der Ukraine im Gedenken an seinen sowjetischen Vorgänger Nikita Chruschtschow noch einmal schenken.

Das wird für eine gewisse Zeit schwierige diplomatische und juristische Verwicklungen mit sich bringen, denn die ukrainische Regierung wird diesen Zustand nicht akzeptieren. Die Zeit wird allerdings das bewirken, was die "normative Kraft des Faktischen" genannt wird – und die wird hoffentlich nicht allzu lange dauern. Letztlich ist also zu erwarten, dass das Selbstbestimmungsrecht über das Recht auf territoriale Integrität siegt. Ein Sieg, der allerdings den beschrittenen Weg nicht nachträglich rechtfertigt.

Anders bei den Oblasten des Donbass. Das ursprünglich als Friedensabkommen konzipierte Minsk-II-Abkommen vom Februar 2015 ist zwar schon kurz vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 21. Februar 2022 von Putin aufgehoben worden. Der anschließende Krieg hat es obsolet gemacht.

Dennoch sollte die in Punkt elf des Abkommens getroffene Absicht einer Verfassungsreform über den besonderen Status der beiden Oblaste ein Anknüpfungspunkt für Verhandlungen nach dem Krieg bieten. Das würde zum einen die Rückkehr der Gebiete unter die ukrainische Souveränität und zum anderen die Erfüllung der russischen Sicherheitsforderungen nach Neutralität der Ukraine und Stopp der Nato-Osterweiterung bedeuten.

Doch derzeit haben Verhandlungen offensichtlich keine Chance und der alte Satz von US-Präsident Johnson auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges erweist wieder seine Gültigkeit:

Es muss erst noch viel schlimmer werden, ehe es besser wird.

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