Russlands Brain Drain: Wenn Jungakademiker mit den Füßen abstimmen

Über Russlands Universitäten braut sich ein Problem zusammen. Hier Lomonossow Universität Moskau (Archivbild). Foto: Uwe Brodrecht / CC-BY-SA-2.0

Umfrage zeigt Auswanderungspläne gebildeter Russen. Einige haben das Land seit Kriegsbeginn verlassen. Warum das Problem größer werden könnte als gedacht.

Es ist bekannt, dass der Kreml über soziologische Institute Umfragen durchführen lässt, um die Stimmung der eigenen Bevölkerung zu erkunden. Der kreml-eigene Geheimdienst FSO, vergleichbar mit dem US-amerikanischen Secret Service unterhält zu diesem Zweck sogar eine eigene soziologische Abteilung.

Auch das staatliche Institut WZIOM und das regierungsnahe Privatinstitut FOM sind in diese Arbeit eingebunden. Die Ergebnisse der Umfragen werden nur zum Teil veröffentlicht, etwa wenn die Befragten mehrheitlich Regierungsnarrative unterstützen.

Ein ehemaliger FOM-Mitarbeiter schätzt gegenüber der exilrussischen Online-Zeitung Meduza, dass etwa 50 bis 70 Prozent der Umfragen unveröffentlicht bleiben.

Umfrage an 500 russischen Universitäten

Eine solche unveröffentlichte Umfrage von WZIOM in Zusammenarbeit mit dem Russischen Bildungsministerium und der sibirischen Universität Tomsk, durchgeführt im April 2023, wurde jetzt von der oppositionellen Online-Zeitung Waschnye Istorii geleakt geleakt. Ihre Ergebnisse zeigen, warum sie ohne diesen Leak nicht in die Öffentlichkeit gelangt wären.

Umfrageort waren 500 russische Universitäten, davon 30 in annektierten Regionen der Ukraine. Das Ergebnis dürfte russische Offizielle zumindest im Geheimen erschrocken haben: Etwa ein Drittel der Befragten erklärten, das Land lieber verlassen zu wollen. An der traditionell sehr kritischen Higher School of Economics in Moskau waren es sogar 58 Prozent der Befragten.

Befragt nach ihren aktuellen Emotionen war die häufigste Antwort der Studenten und Pädagogen "Angst und Furcht" mit 36 Prozent, hoffnungsvoll blickten nur 25 % in die Zukunft, "empört und enttäuscht" 20 Prozent. Interessanterweise erntete Putin selbst bei der Umfrage dennoch die Unterstützung von 64 Prozent der Teilnehmenden, wobei diese Frage an der kritischen Higher School of Economics aufgrund eines Beschlusses der Hochschulleitung nicht gestellt wurde.

Neben dieser Verfälschung muss man einschränkend sagen, dass nichteinverstandene Russen etwa nach Einschätzunh des Moskauer Soziologen Boris Kagarlizky ihnen persönlich unbekannten Interviewern nur selten wahre Antworten geben.

Die Umfrage ist auch in regionalen innerrussischen Medien dokumentiert:https://59.ru/text/education/2023/04/27/72257171. Die Onlinezeitung 59.ru aus der Ural-Großstadt Perm etwa gibt an, die Universitätsmitarbeiter hätten an ihrem Arbeitsplatz teilgenommen und gewusst, dass es sich nicht um eine lokale, sondern um eine russlandweite Befragung handele.

Ihre persönlichen Daten sind laut einem örtlichen Professor festgehalten worden – er sei gebeten worden "richtige" Antworten zu geben, was gegenüber 59.ru die örtliche Uni-Leitung gleich dementierte.

Dass unter solchen Umständen ein solch für Russlands Offizielle negatives Ergebnis heraus kommt, ist bedenklich. Allerdings ist bekannt, dass sich unter den jungen, akademisch gebildeten Russen der höchste Anteil an Personen befindet, die der Regierung und dem Krieg kritisch gegenüber stehen, während vor allem ältere Russen vom Lande die "Fanbase" des Kreml bilden.

Ideologischer Umbau des Bildungssystems

Die kritische Einstellung vieler Akademiker gegenüber dem politischen System hat auch mit der aktuellen Entwicklung an Russlands Hochschulen zu tun. Dabei ist hauptsächlich nicht der ideologische Unterricht ausschlaggebend, der nun überall einziehen soll.

Den kann man über sich ergehen lassen, wenn man, wie viele Russen, politisch einfach nicht interessiert ist. Auch die Streichung und Zusammenlegung einiger Studiengänge, die früher recht viele kritische Geister hervorgebracht haben, betrifft die Mehrzahl der Studenierenden und Professoren nicht.

Breite Kritik bis in regierungsnahe Bereiche erntet dagegen der ideologisch motivierte russische Ausstieg aus dem internationalen Bologna-System. Dieses ist unter anderem unter maßgeblicher westlicher Beteiligung entstanden und gilt aktuell ideologisierten politischen Führern in Russland als Teufelszeug.

Die Abkopplung Russlands im Wege einer "patriotischen Reform" könnte nach Meinung des Sonderbeauftragten Putins für internationale kulturelle Zusammenarbeit Michail Schwydkoi mit einer kompletten Abschaffung der Bachelor- und Masterstudiengänge einhergehen.

Die Chefforscherin der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung, Gulnara Krasnowa, veröffentlichte auf der inländischen Expertenseite Russian Council zu solchen Plänen eine sehr kritische Analyse.

Sie weist darauf hin, dass das Bologna-System nicht nur im Westen ein internationaler Bildungsstandard ist, sondern etwa auch in China oder dem Iran – insgesamt in 95 Prozent der Staaten der Welt.

Ein russischer Ausstieg verringere nicht nur "die Attraktivität russischer Hochschulabschlüsse für ausländische Studierende" und schwäche den "Export russischer Bildung". Es schade auch der internationalen Anerkennung russischer Bildungsabschlüsse. "Wenn ein Diplom es nicht ermöglicht, auf dem globalen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist es nutzlos" stellt die Expertin fest.

Russland koppelt sich vom Wissenschaftsaustausch ab

Von solchen Nachteilen ideologischer Planungen sind alle Studenten und Lehrkräfte betroffen. Sie haben gerade im ersten Kriegsjahr erlebt, wie der Westen alle internationalen Studien- und Forschungsaustauschprogramme mit ihren Hochschulen beendet hat.

Doch auch die russischen Beamten lassen Zweifel aufkommen, ob ihnen die Tragweite der Einschränkungen des internationalen Wissensaustauschs bewusst ist. Schlagzeilen in der russischen Presse machen aktuell die Fälle von drei Wissenschaftlern aus dem Bereich der Aerodynamik, die nach der Weitergabe von Forschungsergebnissen wegen "Hochverrats" festgenommen worden sind.

Alle drei haben, wie aus einem offenen Brief von Kollegen ihres Instituts hervor geht, ihre Berichte lediglich im Rahmen des üblichen auf internationalen Seminare präsentiert. Wissenschaftler wüssten nicht mehr "wie sie ihre Arbeit machen" sollen, wenn ein solcher Austausch nicht mehr möglich sei, zitiert das russische Medienportal RBK dieses Schreibens.

Den drei Naturwissenschaftlern drohe laut RBK nun jeweils lebenslange Haft. Dass sich unter solchen Arbeitsbedingungen und Perspektiven der Wissenschaftsnachwuchs mit Auswanderungsgedanken trägt, ist nicht verwunderlich. Auch nicht, dass von den zahlreichen bereits 2022 ausgewanderten jungen Russen viele Uni-Absolventen aus dem technisch-naturwissenschaftlichen oder dem IT-Bereich sind.

In russischen Regierungskreisen sieht es aktuell nicht danach aus, als wollten sie ihren ideologisch-reaktionären Kurs in der Bildungspolitik ändern. Ist er doch ein zentraler Baustein der sogenannten "russischen Welt", die man unter Abkehr vom Westen und Europa als neue Grundlage des Lebens im Lande schaffen will. Auswanderungswellen begegnete man zunächst mit repressiven Ideen.

So wollte man für im Ausland für russische Firmen arbeitende Spezialisten den Steuersatz nahezu verdoppeln. Ein Plan, den das Russische Finanzministerium nun gerade wieder eingestampft hat.

Offiziell, weil man oft nicht so genau sagen könne, wer so im Ausland sei und von dort aus "Remote" arbeite. Der reale Grund dürfte eine anderer sein: Ausgewanderte Spezialisten, die für ihr Einkommen für den russischen Arbeitgeber eine Strafsteuer zahlen müssten, würden wohl andernfalls das Naheliegendste tun: Alle Brücken hinter sich abbrechen und gleich zu ausländischen Arbeitgebern wechseln.