Russlands Krieg gegen die Ukraine: Von Frieden und Mythen

Seite 2: Putin hat kein Interesse an einer diplomatischen Lösung

So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach baldigem Frieden auch sein mag, gilt es auch für die deutschen Pazifisten am 633. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, nach den Untaten von Butscha, Kramatorsk, Mariupol, unzähligen zerstörten Orten der Ukraine und knapp 10.000 Opfern unter der Zivilbevölkerung die schlichte Wahrheit radikaler Erwartungen des Kremls ernst zu nehmen.

Nach fruchtlosen Friedensbemühungen und zahllosen enttäuschter Hoffnungen kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Anbeginn an keinerlei Interesse an einer ehrlichen diplomatischen Lösung hatte.

Vielmehr dienten die Verhandlungsgespräche Russland als ein diplomatisches Instrument zur Stärkung eigener Positionen gegenüber dem Westen, zur Unterstützung der eigenen Narrative sowie zur Begleitung der breitangelegten Desinformationskampagne im Westen.

Kein belastbares Indiz deutet auch nur ansatzweise darauf hin, dass Moskau das Maximalziel einer prorussischen Regierung in Kiew aufgegeben hat.

Bereits im Juli 2022 hat der russische Außenminister Sergej Lawrow im Rahmen der gemeinsamen Pressekonferenz mit den ständigen Vertretern bei der Arabischen Liga in Kairo erstmals öffentlich zugegeben, dass der Kreml die aktuelle politische Führung in Kiew stürzen und gegen ein prorussisches Marionettenregime austauschen möchte.

Vor wenigen Tagen schrieb der ehemalige Präsident und Regierungschef Dmitri Medwedew in seinem Telegram-Kanal, dass die Nato erkennen müsse, dass die ukrainische Sprache "keine [eigenständige] Sprache" bilde, sondern nur einen Dialekt des Russischen und die Ukraine "kein Land" sei, sondern "künstlich zusammengetragene Territorien" darstelle.

Die zahllosen vor Aggressivität triefenden Interviews und Beiträge auf unterschiedlichen Sozialmedienkanälen hochrangiger russischer Politiker und Kreml-naher Intellektueller sowie die überdeutlichen Worte Wladimir Putins seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass die russische Führung in einer selbstgerechten Filterblase eigener abstruser Weltanschauung gefangen bleibt.

Der absolut überwiegende Teil der russischen Eliten ist von der feindlichen Gesinnung des Westens überzeugt, sieht sich im Zugzwang und glaubt, durch eine konstruktive, auf eine ernstzunehmende diplomatische Lösung abzielende Haltung im Krieg gegen die Ukraine nichts zu gewinnen, aber nur noch mehr zu verlieren.

Doch ist die Hoffnung der Pazifisten auf Frieden mit Russland tatsächlich vergebens? Freilich gibt es eine politisch-diplomatische Lösung, die Moskau nur zu gern akzeptieren würde.

Diese besteht aus der Sicht der russischen Führung in einem Diktatfrieden, einer bedingungslosen Kapitulation und der voraussetzungslosen Unterwerfung Kiews unter die Willkür Moskaus mit darauffolgender schrittweise Auflösung der Ukraine als unabhängiger Staat und der Auslöschung der ukrainischen Kultur.

Die "berechtigten" russischen Sicherheitsinteressen

Doch wie ist es dann mit der Akzeptanz der "berechtigten" russischen Sicherheitsinteressen? Insbesondere die gerade in Deutschland weitverbreitete Mär von objektiven russischen Sicherheitsinteressen, die vom Westen über zwei Jahrzehnte grob missachtet wurden und den "Ukraine-Konflikt" auslösten, stellt ein ernstzunehmendes Problem dar.

So übt beispielsweise der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg in seinem Beitrag für das Magazin Emma am 1. März 2022 zwar Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, behauptet jedoch zugleich, dass auch den Westen eine "schwere Schuld" für das "jahrzehntelange Ignorieren der Sicherheitsinteressen Russlands" treffe.

Dabei wird aber eine Tatsache übersehen. Im Rahmen der lügenhaften Erfahrungswelt des russischen Regimes zählt nicht die historische faktenbasierte Wahrheit, sondern die tiefe Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der eigenen geistigen Konstrukte.

Denn es ging Wladimir Putin bei der Invasion der Ukraine nie um die objektiven Sicherheitsinteressen Russlands. Auch die Nato-Erweiterung war niemals das Hauptproblem.

Widrigenfalls wären die russischen Reaktionen auf die durch den Überfall auf die Ukraine erst möglich gemachte Nato-Norderweiterung auf Finnland und Schweden und die damit einhergehende Verdoppelung der Nato-Russland Grenze ungleich schärfer ausgefallen.

Überhaupt besteht der Krux an der Sache mit den "objektiven Sicherheitsinteressen Russlands" ja gerade darin, dass diese "objektiven Sicherheitsinteressen" mittlerweile durch Putin allein auf eine äußerst subjektive Weise definiert werden und außerhalb seiner Denkkonstrukte nicht zu bestehen vermögen.

Letztlich führt diese klandestine Herangehensweise Wladimir Putins zum schockierenden Ergebnis, dass selbst erfahrene und in den Machtstrukturen des heutigen Russlands hervorragend vernetzte russische Diplomaten die konkreten Bedingungen für ein Ende der Kriegshandlungen gegen die Ukraine unmöglich in Worte fassen können.

Was die "Track-1,5-Diplomatie" bedeutete

Die Moscow Times berichtete am 26. Juli 2023, unter Verweis auf ein Mitglied der US-Delegation, von den Versuchen der USA, gegenüber der russischen Führung Gesprächskanäle offenzuhalten.

Diese als Track-1,5-Diplomatie bekannten verdeckten Gespräche ermöglichen es beiden Seiten, die roten Linien der jeweils anderen Seite zu verstehen, potenzielle Konflikte zu entschärfen, und dienen als wichtiges Bindeglied zwischen offiziellen Regierungsverhandlungen (Track-1-Diplomatie) und inoffiziellen Expertendialogen (Track-2-Diplomatie).

Einen wesentlichen Erkenntnisgewinn der bisherigen Verhandlungen fasst im ansonsten recht konfusen Gespräch mit Moscow Times ein nicht näher genanntes Mitglied der US-Delegation wie folgt zusammen: "Sie (die Russen; Anm. d. Autors) wissen nicht, wie sie Sieg oder Niederlage definieren sollen."

Doch genügt es lediglich der Russischen Föderation ein mehr oder weniger gesichtswahrendes Ausstiegsszenario zu ermöglichen?

Denn angesichts der Misserfolge im Angriffskrieg gegen die Ukraine und der explodierenden Kriegskosten müsse ja Putin über kurz oder lang unweigerlich seine Ambitionen und Zielsetzungen mäßigen, um sich diesem gescheiterten Abenteuer zu entziehen.

Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein. Denn ungeachtet aller Schwierigkeiten kann der Krieg für Wladimir Putin als Katalysator für bemerkenswerte innen- und außenpolitische Erfolge gewertet werden.

Solange Wladimir Putin an der Macht bleibt, ist ein wie auch immer geartetes Kriegsende kaum zu erwarten.

Dr. Alexander Dubowy verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in Forschung und Beratung zu internationalen Politik- und Sicherheitsfragen.

Er arbeitet interdisziplinär zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik und ist Autor von Strategie- und Regionalstudien sowie Analysen zu internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Osteuropa, Russland und GUS. Darüber hinaus ist Dubowy in der Politikberatung und Policy-Analyse tätig, wobei er sich methodisch der Trend-, Akteurs- und Stakeholderanalyse sowie der Szenarienentwicklung bedient.

Geboren in Semipalatinsk (Semei im heutigen Kasachstan), wuchs Dubowy in Estland und Österreich auf. Der promovierte Jurist studierte Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Wien und Moskau.

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