Russlands Wirtschaft: Vom Aufschwung in den Abschwung?
Die russische Wirtschaft hat den Sanktionen bislang getrotzt. Das BIP dürfte auch dieses Jahr wachsen. Doch nun droht die Zentralbank den Aufschwung abzuwürgen.
Mit über 20.000 Sanktionen belegt, ist die Russische Föderation das mit Abstand am stärksten sanktionierte Land der Welt.
Die seit dem Beginn des Ukrainekriegs 2022 verhängten Wirtschafts- und Finanzsanktionen westlicher Staaten gegen Russland zielten auf einen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft ab. So versicherte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 25. Februar 2022: "Das wird Russland ruinieren".
Sanktionen treffen auf Kriegsökonomie
Diese Prophezeiung bestätigte sich nicht. Nach einem ersten heftigen Schock, verursacht durch die Flucht zahlreicher westlicher Unternehmen sowie die Isolierung des Landes vom internationalen Finanzverkehr, hat die russische Wirtschaft schnell eine deutliche Anpassungsfähigkeit bewiesen.
Ein ausschlaggebender Faktor dürfte dabei die Gewöhnung im Umgang mit Krisen seitens russischer Unternehmerinnen und Unternehmer einerseits und des staatlichen Beamtentums auf der anderen Seiten gewesen sein.
Nach dem Abzug der hauptsächlich europäischen Unternehmen haben russische Firmen vielfach die zurückgelassenen Vermögenswerte (sogenannte "Assets") aufgekauft, neue Produktionsstandorte erschlossen und sich auf verschiedenen Wegen die benötigten Produktionsanlagen beschafft.
So gelang es ihnen in vielen Branchen, die nun vakanten Bereiche zu besetzen und neue Sparten zu erschließen. Ebenso wurde ein Großteil der weggefallenen Importe durch in Russland hergestellte Produkte ersetzt.
Angaben des russischen Finanzministers, Anton Siluanow, zufolge wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 3,6 Prozent. Für das Jahr 2024 ist die Erwartung ähnlich.
Zudem hat sich die russische Wirtschaft, vor dem Hintergrund der anhaltenden Kriegshandlungen sowie der Weiterbewaffnung der Ukraine durch westliche Staaten, seit Herbst 2022 auf eine Kriegsökonomie umgestellt.
Russlands "Kriegskeynesianismus"
Dies wird häufig als "Kriegskeynesianismus" bezeichnet und bezieht sich auf eine volkswirtschaftliche Politik, die durch die Erhöhung der Militärausgaben versucht, die gesamtwirtschaftliche Produktion und Nachfrage zu steigern.
Seit 2022 haben sich die Militärausgaben der Russischen Föderation nahezu verdreifacht. Auf den Militäretat entfallen derzeit etwa 40 Prozent der Staatsausgaben.
Dieses Geld fließt neben Rüstungsgütern und Besoldung der Mobilisierten sowie Vertrags- und Berufssoldaten in den Aufbau der notwendigen Infrastruktur wie Straßen, Brücken und Gebäude; auch in den sogenannten neuen Gebieten in der Ostukraine.
Der Anstieg der staatlichen Aufträge für die Rüstungsindustrie zog eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften nach sich, der wiederum Lohnsteigerungen folgten.
Durch den Arbeitskräftemangel, der durch Mobilisierung und Emigration noch gefördert wurde, sahen sich die Unternehmen der Zivilwirtschaft gezwungen, ebenfalls deutliche Lohnerhöhungen vorzunehmen, um der Abwanderung der Arbeitskräfte vorzubeugen.
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Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Andrei Yakovlev, der bis 2023 an der "Higher School of Economics" in Moskau beschäftigt war und nun als Gastwissenschaftler in Harvard tätig ist, beträgt der Anteil der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie rund 1,5 Millionen gegenüber rund 73 Millionen in der übrigen Wirtschaft.
Der Statistikbehörde Rosstat zufolge kam es im Jahr 2023 im Landesdurchschnitt zu Reallohnsteigerungen von fast acht Prozent.
Dieser Faktor wirkte sich unmittelbar auf die Verbrauchernachfrage aus, die sich merklich erhöhte ̶ ein anhaltender Effekt, trotz zunehmender Inflation, die allein bei Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs spürbar ist.
Gründe der Inflation sind die Isolierung des Landes vom westlichen Markt, allen voran aber die hohen Staatsausgaben bei vergleichsweise geringer Produktionsleistung.
Leitzinserhöhung führt zu Kritik und Zweifel
Vor diesem Hintergrund hat die Chefin der russischen Zentralbank, Elwira Nabiullina, vor wenigen Tagen den Leitzins von 19 auf 21 Prozent angehoben und im Raum steht eine Anhebung auf 23 Prozent. Nabiullina, seit 11 Jahren im Amt und im Westen lange Zeit beliebt, ist für eine monetäre, im Grunde neoliberale, Wirtschaftspolitik bekannt ist.
Ihr Mittel im Kampf gegen die Inflation ist eine restriktive Geldpolitik, welche die Kreditlast für die Unternehmen in die Höhe treibt und im Ergebnis die heimische Produktion schwächt.
Die Führung der russischen Zentralbank steht daher derzeit unter massiver Kritik und Zweifel.
Das Institut für volkswirtschaftliche Prognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften hat kürzlich Berechnungen über den Einfluss der Zentralbankrate angestellt, denen zufolge eine Erhöhung des Leitzinses um einen Prozentpunkt die Wachstumsrate der Verbrauchernachfrage um 0,2 Prozentpunkte verringert und die der Investitionen um 0,1 Prozentpunkte.
Gleichzeitig verringere jeder Prozentpunkt der Erhöhung des Leitzinses die Haushaltseinnahmen um 200 Milliarden Rubel.
Stepan Lvov, Direktor für strategische Entwicklung beim russischen Meinungsforschungsinstitut VCIOM, bringt eine zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der derzeitigen Lage in Verbindung:
"Der Rückgang des Glücksindex im Herbst 2024 erklärt sich nicht nur durch den saisonalen Faktor (Beginn der kalten Jahreszeit), sondern auch durch sozioökonomische Umstände. Einerseits ist es die immer noch hohe Inflation, die einen großen Teil des positiven Effekts des Einkommenszuwachses der Bevölkerung auffrisst. Auf der anderen Seite ist es die repressive Politik der Zentralbank, die versucht, die Wirtschaft 'abzukühlen'. (...) Wenn die Politik des 'Schockgefrierens' der Wirtschaft fortgesetzt wird, müssen wir mit einem weiteren Rückgang des Anteils glücklicher Menschen unter unseren Landsleuten rechnen."