Russlands Wissenschaft - Retten oder abwickeln?
Aufbau von Elite-Unis, Anwerbung von ausländischen Wissenschaftlern, Konzentration auf die Forschung in Naturwissenschaften, Rüstung und Raumfahrt - Teil 1
Wird sich der Streit zwischen Russland und dem Westen auch auf Bereiche auswirken, die mit der Ukraine nichts zu tun haben? Ist die Zusammenarbeit deutscher und russischer Wissenschaftler, die sich in den letzten Jahren merklich vertieft hat, gefährdet? "Zum jetzigen Zeitpunkt sollen Projekte weder gestoppt noch finanziell gekürzt werden", sagt Jörn Achterberg, Leiter des Moskauer Büros der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), gegenüber Telepolis. "Die Wissenschaft hat sicherlich eine Funktion, die wie Kultur und Bildung auch in schwierigen politischen Zeiten vermitteln kann", so der DFG-Vertreter.
Ähnlich äußert sich auch der Sprecher der Helmholtz-Gemeinschaft, Jan-Martin Wiarda, gegenüber Telepolis. "Auf die Aktivitäten der Helmholtz-Gemeinschaft hat die aktuelle Krise derzeit keine Auswirkungen. Alle unsere Kooperationen mit Russland laufen weiter wie bisher." Wie geplant werde Anfang April in Potsdam ein deutsch-russischer Workshop zum Thema Nachhaltigkeit stattfinden.
Ist das nun Wunschdenken von Wissenschafts-Managern? Oder sind die Bande zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern tatsächlich schon so stark und die Projekte so erfolgversprechend, dass sie politische Krisen überdauern? Zurzeit lässt sich diese Frage noch nicht beantworten. Es steht einiges auf dem Spiel. Denn wenige Jahre nachdem Wladimir Putin Präsident wurde, und Russland in ein stabileres Fahrwasser steuerte, bekam die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland festere Strukturen. 2003 eröffnete die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Büro in Moskau. Zwei Jahre später eröffnete auch die Helmholtz-Gemeinschaft eine Repräsentanz in der russischen Hauptstadt. . Was sich im Bereich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit tut, ist beachtlich. Die Helmholtz-Gemeinschaft hat in Russland seit 2006 zusammen mit deutschen Forschungszentren und der Russischen Stiftung für Grundlagenforschung (RFBR) 32 gemeinsame Projekte gefördert. Der Förderumfang beträgt ca. 150.000 Euro pro Jahr und Gruppe, bei einem Förderzeitraum von maximal drei Jahren.
Die russische Seite wirbt massiv um Wissenschaftler aus dem Westen. Beim russischen Projekt "Mega-Grant" bekamen in der bereits vierten Ausschreibung in diesem Jahr sechs deutsche Wissenschaftler die Möglichkeit, vom russischen Staat mit jeweils zwei Millionen Euro geförderte Forschungsprojekte in Russland durchzuführen. Zu den deutschen Wissenschaftlern, die in diesem Jahr über einen Mega-Grant in St. Petersburger Instituten mit Forschungsprojekten beginnen, gehören der Physiker Manfred Bayer von der TU Dortmund und der Chemiker Detlef Bahnemann von der Leibniz-Uni Hannover.
Einer der westlichen Forscher, der schon in der Stadt an der Newa forscht, ist der US-Amerikaner, James Butler. Ihn erkennt man schon von weitem an seinem schlohweißen Haar. Seit Oktober 2013 baut der US-Amerikaner an der St. Petersburger Elektrotechnischen Universität - abgekürzt "Leti" - ein Labor zur Erforschung von künstlichen Diamanten auf. Das russische Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat für dieses Forschungs-Projekt Sondermittel von 700.000 Euro bewilligt.
Butler ist einer der ausländischen Professoren, welche das russische Bildungsministerium in den letzten Jahren im Rahmen des "Mega-Grant"-Programms zur Modernisierung und Internationalisierung von Forschung und Lehre angeworben hat.
Die Leti-Uni liegt in einem Gewirr von Büro- und Industriegebäuden, nördlich vom St. Petersburger Stadtzentrum im Petrogradski Rayon. An der Uni, die den Namen von Revolutionsführer Lenin im Namen trägt, ist man mächtig stolz auf den Amerikaner. Denn Butler arbeitete bisher als Experte für Diamanten-Beschichtungsverfahren an dem Naval Research Laboratory, dem zentralen Forschungslabor der US-Marine.
Zu Sowjetzeiten war die Universität auf Rüstungsforschung spezialisiert. In den 1980er Jahren entstanden im Keller der Uni Clean-Räume und Labore zur Erforschung von künstlichen Diamanten, die in der Halbleitertechnik eingesetzt werden. In diesen Laboren wird Butler nun mit seiner Forschergruppe arbeiten.
Noch ist keine russische Uni unter den "Top 100" weltweit
Die ausreichende Finanzierung sei einer der Gründe gewesen, warum es ihn gereizt habe, nach Russland zu kommen, erklärt Butler gegenüber Telepolis. Außerdem habe er sich auf die Zusammenarbeit mit den "sehr talentierten und erfahrenen" russischen Wissenschaftlern und die motivierten Studenten gefreut.
Russland liege bei der Erforschung künstlicher Diamanten-Materialien weltweit nur im Durchschnitt, meinte der Amerikaner. Damit die "Leti"-Uni unter die ersten 100 Top-Unis der Welt kommt - wie es die russische Regierung anstrebt -, brauche man "etwa zehn Jahre" und "eine vernünftige Strategie".
Butler, der schon in vielen Ländern gearbeitet hat, erzählt, dass er sich in St. Petersburg als Ausländer sicher fühle. Er wohnt in einem Haus nicht weit von der "Leti", wo die Hochschule für ausländische Gäste eine ganze Etage angemietet hat. Das Verhältnis zu seinen russischen Kollegen beschreibt er als "ausgezeichnet". Und seine Kollegen in den USA? Die hätten ihn zu der Entscheidung, vier Monate im Jahr in Russland zu arbeiten, gratuliert. Was die Zusammenarbeit zwischen russischen Universitäten und dem Westen noch behindere, seien bürokratische Hürden, meint Butler.
"Ohne ausländische Wissenschaftler schaffen wir es nicht"
Die "Leti"-Uni muss sich jetzt anstrengen. Die Hochschule gehört zu den 15 russischen Unis, die in ein ehrgeiziges Förderprogramm der Regierung aufgenommen wurde. Das Förderprogramm mit dem Namen "5-100-2020" soll bewirken, dass es in sechs Jahren fünf russische Universitäten unter die 100 Top-Unis weltweit schaffen. Heute ist keine einzige russische Uni unter den "Top 100". Die bekannteste russische Hochschule, die Moskauer MGU, steht nur auf Platz 116.
Das Bildungsministerium hat die "Leti"-Uni zwar in den erlauchten Kreis der 15 förderungswürdigen Hochschulen aufgenommen und James Butler bekommt das Geld für seine Forschung. Doch weitere Fördergelder fließen erst, wenn sich die Leti-Uni - die mit ihren 7.000 Studenten als "kleine" Hochschule gilt - "freiwillig" mit einer anderen Uni vereinigt und "Lenin" aus ihrem Namen streicht, so die Bedingung des russischen Bildungsministeriums.
Ein neuer, moderner Name für die Leti-Uni und James Butler mit seiner Forscher-Gruppe sollen helfen, die Uni für mehr ausländische Forscher und Studenten attraktiv zu machen und die Zahl der Veröffentlichungen in internationalen Fachzeitschriften zu erhöhen.
Ohne das Anwerben von ausländischen Wissenschaftlern sei es kaum möglich, die Uni auf internationales Niveau zu bringen, meinte "Leti"-Rektor, Wladimir Kutusow, im Gespräch mit Telepolis. In den chaotischen 1990er Jahren, als die Unis keine oder nur sehr geringe Gehälter zahlen konnten, setzten sich zehntausende russischer Wissenschaftler in den Westen ab, um sich dort Arbeit zu suchen. Ein anderer Teil blieb in Russland und suchte sich neue Jobs im Handel und im Dienstleistungssektor. Wiederum andere versuchten, kleine Firmen zu gründen und neue Produkte zu entwickeln. So entstand an der Leti in den 1990er Jahren ein "Technopark" zu dem heute fast 50 kleine Unternehmen gehören. Diese Klein-Unternehmen entwickelten alle möglichen Produkte, Werkstoffe für Allweg-Fahrzeug-Karosserien, Messgeräte für den Landeanflug von Flugzeugen, armgroße Röntgengeräte, mit denen Zahnärzte in abgelegenen Gebieten Menschen untersuchen können, sowie Geräte, die das Relief des Meeresbodens vermessen.
Doch die Erfolge bei der Vermarktung sind bescheiden. Das liegt auch daran, dass in Russland die Produktionskapazitäten für High-Tech-Produkte fehlen, so Kutusow. So entwickelt das 1990 in St. Petersburg gegründete IT-Unternehmen Transas zwar Ortungsgeräte und Simulatoren zum Training von Schiffs- und Flugzeugbesatzungen. Doch die Komponenten für die Simulatoren werden auf den Philippinen gebaut, "weil es dort billiger ist".
Haferbrei und Uniformen aus der Zarenzeit
Der große Bruder der "Leti" ist die Polytechnische Universität von St. Petersburg, abgekürzt "Polytech". Die 1899 gegründete Hochschule liegt noch etwas weiter nördlich des Stadtzentrums im Kalininski Rayon umgeben von einem Park. Die Hochschule mit den 30.000 Studenten und 3.300 Lehrkräfte gehört ebenfalls zu den 15 russischen Unis, welche die russische Regierung zu Elite-Einrichtungen ausbauen will.
Es ist sechs Uhr abends. Trotzdem herrscht im "Fabrikations-Labor" (FabLab) der Polytech noch ein Höllenlärm. Das "FabLab" ist in einer großen Fabrik-Halle der Uni untergebracht. Die stellvertretende Direktorin des Kreativ-Zentrums, die blonde, junge Anna Kusnezowa, ist stolz auf die neueste Errungenschaft ihrer Uni. Denn die "Polytech", wie die Studenten ihre Uni nennen, ist die erste Hochschule Russlands, in der es ein FabLab gibt. In der mit Zeichentischen, Computern, Fräsmaschinen und 3-D-Druckern vollgestopften Halle können Schüler und Studenten unter Aufsicht von Ingenieuren eigene Produkt-Ideen entwickeln, produzieren und testen.
Das produktive Chaos in der großen Halle wirkt fast fremd in dem hierarchisch strukturierten Uni-System. Ungewöhnlich für einen russischen Uni-Rektor ist auch Andrej Rudskoj. Der 56-Jährige ist umgänglich und alles andere als ein steifer Bürokrat. Fast täglich empfängt der Rektor ausländische Gäste und versucht neue Forschungs-Aufträge von in- und ausländischen Industrie-Unternehmen und neue Kooperationen mit ausländischen Unis aufzubauen.
Rudskoj setzt auf eine Mischung aus Tradition und Modernität. Die historischen Säle der Hochschule wurden sorgfältig restauriert. Auf dem 200 Hektar großen Campus wird über Lautsprecher klassische Musik übertragen und manche Studenten tragen aus Begeisterung für die Tradition dunkelblaue Studenten-Uniformen aus der Zarenzeit. Damit kein Student die erste Vorlesung verpasst, hat Rudskoj angeordnet, dass die Mensa den traditionellen russischen Haferbrei ("Kascha") zum Frühstück kostenlos ausgibt.
45 Prozent der Einkünfte erwirtschaftet die Uni selbst
Die Polytech finanziert sich zu 45 Prozent aus selbst erwirtschafteten Einnahmen. Das Geld kommt vor allem über kostenpflichtige Studienplätze in die Uni-Kasse. 3.000 Studenten kommen aus dem Ausland, vor allem aus China und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Aber nicht nur Ausländer, auch viele Russen müssen für ihren Studienplatz bezahlen.
Nur 543 Studenten kommen aus Europa und den USA. Nun will man die Zahl der Studenten aus westlichen Ländern erhöhen. Doch dafür muss der Unterricht auf Englisch ausgebaut werden. Die Lehrkräfte, die über 50 Jahre alt sind, könnten Englisch wohl verstehen, aber nicht sprechen. "Sie hatten ein anderes Leben", meint Rektor Rudskoj und spielt dabei auf die Sowjetunion an, wo es überhaupt keine Vorlesungen auf Englisch gab.
Die Zusammenarbeit mit ausländischen Unis laufe gut, so der Rektor. Besonders intensiv sei die Zusammenarbeit mit der Leibniz-Universität in Hannover. Die Zusammenarbeit werde vom Deutschen Akademischen Austauschdienst mit einem auf vier Jahre angelegten Programm und einer Million Euro unterstützt.
"Als wir in den 1990er Jahren Deutschland besuchten, mussten wir noch in Bundeswehrkasernen in Doppelstockbetten schlafen", erinnert sich Vize-Rektor Alexej Borokow beim gemütlichen Abendessen mit unserer Journalisten-Gruppe. In 1990er Jahren galten die russischen Wissenschaftler, die nach Europa kamen, als talentierte, aber arme Leute. Während der chaotisch laufenden Wirtschaftsreformen mussten Dozenten und Professoren oft monatelang auf ihre kümmerlichen Gehälter warten. Jetzt liegen die Gehälter der Lehrkräfte, die heute nach Leistung bezahlt werden, zwischen 440 und 1.300 Euro. Inzwischen werde man im Ausland als Konkurrent wahrgenommen, etwa wenn es um Forschungs-Aufträge bekannter Firmen wie BMW geht, erzählt Pro-Rektor Borokow und schmunzelt zufrieden.
Emigrierte Wissenschaftler kehren zurück
Dass das Verhältnis zwischen der EU und Russland politisch schwieriger geworden ist, scheint die Annäherung auf dem Gebiet der Wissenschaft nicht zu stören. Seit 2011 sind an allen russischen Unis - außer einigen Theater- und Kunstakademien - Bachelor- und Magister-Abschlüsse Pflicht. Diese Abschlüsse hat Russland als Teilnehmer des Bologna-Prozesses übernommen, was den Austausch von Fachkräften mit Europa erleichtern soll. Doch über eine Statistik, wie viele Absolventen der Polytech in Europa weiterstudieren, verfügt die Uni-Verwaltung nicht.
Während sich das russische Uni-System dem System in der EU anpasst, ist die große Lücke, die durch die chaotischen Wirtschaftsreformen in den 1990er Jahren entstanden ist, nach wie vor spürbar. Unter den Dozenten und Professoren sind die mittleren Jahrgänge schwach vertreten. Bis heute lebt die russische Wissenschaft von dem guten Ruf, den sie in der Sowjetzeit mit exzellent ausgebildeten Wissenschaftlern und zahlreichen Nobelpreisträgern erworben hat.
Die russische Regierung will nun mit gezielten Geldspritzen für besonders leistungsfähige Unis einen neuen Aufschwung in der Wissenschaft einleiten. Und wer durch die Forschungslabors der "Polytech"-Institute läuft, kommt aus dem Staunen nicht heraus. An Geld scheint es nicht zu mangeln. In den Laboren stehen modernste Geräte und man trifft fast ausschließlich auf junge, motivierte Wissenschaftler.
Schon vier Institute der Polytech werden von Ausländern geleitet, freute sich Rektor Rudskoj, nämlich die Institute für Thermonuklear-Synthese, Mikrobiologie, Nanobiotechnologie und das Institut für Neurodegeneration, dass sich mit der Demenz-Forschung beschäftigt. Als "Ausländer" gelten an der "Polytech" jedoch auch Russen, die vor Jahren in den Westen ausgewandert sind und nun als gutausgebildete Spitzenkräfte zurückkehren.
In der russischen Forschung beginnt ein Leistungswettbewerb Die russische Regierung unterzieht die Bildungs- und Forschungslandschaft einer grundlegenden Reform. Was sind die wesentlichen Merkmale?
- Wettbewerbskriterien. In den Universitäten und Forschungs-Instituten werden Wettbewerbskriterien eingeführt. Mitarbeiter müssen die Zahl ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen erhöhen und laufend über ihre Tätigkeit Berichte ablegen.
- Aufbau von Elite-Unis. Die etwa 1.000 Universitäten in Russland werden auf ihre Effizienz überprüft. Einzelne Universitäten werden bereits zusammengelegt. Gleichzeitig hat die Regierung 2008 ein Programm zur Förderung von 40 besonders "effektiven" Hochschulen gestartet, die jeweils über fünf Jahre mit jeweils 125 Millionen Euro gefördert werden.
- Konzentration auf Schwerpunkte. Russland will sich in der Forschung auf die Bereiche konzentrieren, in der das Land immer schon stark war, die Naturwissenschaften und die Forschung in Raumfahrt, Sicherheit und Kernphysik. Die Forschung soll vor allem dem Zweck dienen, marktfähige Produkte zu entwickeln. Einen besonders schweren Stand haben die Geisteswissenschaften. Sie haben sich nach der Sowjetzeit kein neues Image erarbeiten können und sind sehr knapp finanziert.
- Forschung wird in die Unis verlagert. Die Regierung will einen großen Teil der Forschung von den Akademie-Instituten in die Universitäten verlagern. Mitarbeiter der RAN rechnen damit, dass die Zahl der bisher 450 RAN-Institute stark reduziert wird.
- Anwerbung ausländischer Professoren. 2010 startete die Regierung unter dem Arbeitsnamen "Mega-Grant" ein Programm zur Anwerbung für ausländische Professoren. Für den Aufbau von modernen Laboren erhalten die angeworbenen Professoren pro Jahr eine Million Dollar. Bei den ersten beiden öffentlichen Ausschreibungen 2010 und 2011 wurden 77 Professoren aus dem Ausland ausgewählt. Von den 39 in der ersten Ausschreibung Ausgewählten waren sieben Deutsche, vier Amerikaner, ein Australier und fünf Wissenschaftler aus europäischen Staaten. Bei den Auswahl-Kommissionen wurden das erste Mal in Russland ausländische Experten beteiligt.
Teil 2: Der russischen Grundlagenforschung geht es an den Kragen