Russlands Zeitenwende
Politische Führung in Russland sitzt nach einem Jahr Krieg fest im Sattel. Neu ist eine radikale Kriegsfraktion und ein schriller Ton. Welcher Konsens die Russen heute eint.
Die Personalien im Umfeld des Kreml und das Herrschaftssystem haben sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht grundlegend geändert. Was sich sehr wohl geändert hat, ist der Ton der Kommunikation, nach außen wie nach innen – und der Grad der Repressionen, die von der Führungsspitze auf die russische Bevölkerung wirken.
"Putin hält die Zeit künstlich an"
Der russische Analyst und Journalist Alexander Baunov meint im Interview mit dem bekannten YouTuber Juri Dud, dass es auch so weitergehen wird, solange Wladimir Putin selbst an der Spitze des Machtapparats bleibt. "Wenn er keine ernsten gesundheitlichen Probleme bekommt, dann erwarten ihn noch ein paar Jahre ausklingende Herrschaft über ein isoliertes, aufgepeitschtes Russland", meint er trocken auf die Frage nach Putins Zukunft. Mit einer Modernisierung Russlands rechnet er erst nach Putins Ende – der Präsident hält nach seiner Auffassung künstlich die Zeit an.
Das aufgepeitschte Klima macht laut Baunov auch das Leben der russischen Eliten, die sich um Putin gruppieren, ungemütlich. Verteidigungsminister Sergei Schoigu durfte das schon feststellen, als er sich nach nicht plangemäßem Kriegsverlauf harte Kritik von Falken der radikalen Kriegsfraktion – wie Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin anhören durfte, die man im Vorkriegs-Russland so nicht gewohnt war.
Solche lauten, kritischen Stimmen kommen jedoch immer nur von der Seite derer, denen keine Kriegsführung radikal genug ist, während mäßigende Stimmen in der russischen Außenpolitik, die es im Umfeld des Außenministeriums und in seinen ThinkTanks durchaus gibt, praktisch verstummt sind. Groß ist die Gefahr, im Kriegschor der Mächtigen in Russland als Verräter aufzufallen. Abweichung am generellen Kriegskurs wird nicht geduldet.
Dieses Klima sieht der Politologe Andrej Kolesnikow in der Fachzeitschrift Foreign Affaires als Hinwendung zu einer nationalistischen Ideologie in Russland. Diese lehne jede Form von Dissens ab und enthalte totalitäre Elemente – wie den Kult eines Heldentods. Auch propagiere sie das Recht auf eine russische Einflusssphäre unabhängig davon, was die betroffenen Völker wollen.
Doch im Gegensatz zur Meinung des Experten besteht zu früheren totalitären Zeiten in Russland heute der Unterschied, dass Kritik an "mangelnder Härte", wie wenig diese angesichts der realen, unbarmherzigen Kriegsführung Russlands verständlich erscheint, von oben geduldet wird. Selbst bei Kampfstrategien kritische, patriotische Militärblogger auf Telegram wurden – anders als liberale Kriegsgegner – nicht bei geringsten Anlässen inhaftiert, sondern in den Kreml-Kanon der Kriegsbefürworter integriert.
Kriegsbegeisterung als gemeinsamer Nenner
Dem Kreis der Mächtigen rund um Putin sollte man bei der Beurteilung der innenpolitischen Entwicklung in Russland die nötige Zeit widmen. Putin selbst hat mit der Kriegsentscheidung das Heft einmal selbst in die Hand genommen und auch deswegen ist auch offene Kritik am Krieg an sich ein Tabuthema.
Dennoch können die allermeisten Entscheidungen zur konkreten Kriegführung nicht über den persönlichen Schreibtisch einer einzelnen Person wandern. Es ist sogar unklar, inwieweit Putins Umfeld den Präsidenten mit realistischen Informationen zur Lage vor Ort im Krieg und im Hinterland versorgt – und ob Entscheidungen von seinem Schreibtisch durch einen gefärbten Informationsfilter beeinflusst werden.
Immer wieder ist die Rede davon, dass geschönte Lagemeldungen in den Kreml geliefert werden. In einem zunehmend autoritären Staat ohne Kritik an der Entscheidung zum Krieg ist das glaubwürdig.
Inmitten der aufgeputschten Kriegsstimmung wurden die seit Jahrzehnten bekannten Stimmen der russischen Politik – Außenminister Lawrow, Ex-Kreml-Chef Medwedew und Schoigu – zunehmend lauter, ergänzt durch Vertreter einer radikalen Kriegsfraktion. Zu nennen wären hier vor allem der tschetschenische Machthaber Kadyrow und der Trollfabrik-Gründer Prigoschin. Beide schienen vor dem Krieg kein realer Machtfaktor zu sein. Beide verfügen jedoch nun an der Front über Truppen, die mehr oder weniger auf ihre Initiative entstanden sind und auf deren Kommando sie auch maßgeblichen Einfluss haben.
Prigoschin, vor dem Krieg eher ein Mann stets im Hintergrund, trat im Zuge des Kampfes auf der politischen Bühne nach vorn. Damit wurde er, wie es die russische Politologin Tatjana Stanowaja ausdrückt, ein beispielloses Objekt von Vermutungen – wie nahe er Putin stehe, welche Privilegien er im Machtapparat genieße und welche weiteren Ambitionen er hege.
Ergänzt werden sein und Kadyrows Wirken durch andere, im Ausland weniger bekannte, im Inland aber nicht weniger radikale Stimmen wie dem Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin. Das bisherige Polit-Establishment reagiert auf die lauten Töne vor allem mit eigenen radikalen Statements, die man so etwa von dem langjährigen Diplomatie-Experten Sergej Lawrow vor dem Krieg nicht erwartet hätte.
Fehlender militärischer Erfolg kostet Ansehen
Der Kreml als Ganzes hat unter einem Jahr Kriegsführung in seinem Ansehen nicht nur im westlichen Ausland gelitten. Wie der russische Journalist Andrej Perzew schreibt, wurden zahlreiche Mythen, auf die die russische Spitze in der Außendarstellung gegenüber Freund und Feind setzte, im Verlauf des letzten Jahres entzaubert.
So auch der Mythos von der Stärke und Macht der russischen Armee, die die Ukraine nun in einem Jahr nicht militärisch besiegen konnte, oder der einer wirkungsvollen Machtvertikalen im Inneren. Die chaotische Organisation der Mobilisierungswelle im letzten Herbst zeigt nach Perzews Meinung, dass Provinzverwaltungen weit weg von Moskau auch einmal blind Quoten erfüllen, anstatt sich um die Kampfkraft der Armee im Einsatz wirklich zu sorgen.
Auch Sprachrohre, mit der russische Regierungsnarrative im Ausland verbreitet werden, sind wie RT DE zumindest im Westen zwangsweise verstummt, so dass der Aufbau eines neuen Mythos schwierig werden dürfte.
Perzew spricht in diesem Zusammenhang von einem Tauziehen zwischen radikalen Elementen, die die Kriegsbegeisterung der Eliten nutzen und Mitgliedern der Präsidialverwaltung, die gerade in den aktuell unruhigen Zeiten wieder Stabilität ins System bringen wollen. Als Beispiel nennt er das Verhalten der Offiziellen gegenüber den mittlerweile 500.000 Russen, die das Land seit Kriegsbeginn verlassen haben. Während Wjatscheslaw Wolodin ihnen mit Beschlagnahmung ihres Vermögens drohe, schickten sich andere Funktionäre wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow an, diese mit Versprechungen zu einer Rückkehr aus der Emigration zu bewegen, da der russischen Wirtschaft durch den Exodus Fachkräfte fehlen.
Beide Seiten brechen so auch gegen den Grundsatz, dass im russischen Machtapparat Meinungsstreitigkeiten nicht öffentlich ausgetragen werden – ganz so wie Kadyrow oder Prigoschin mit der Kritik an der Kriegführung des Verteidigungsministeriums.
So geht das Kriegsjahr in Russland mit Disput zwischen uneinigen Kriegsbefürwortern zu Ende, während die Kriegsgegner mundtot gemacht wurden. Die Frontlinie im Donbass verschiebt sich derweil seit dem Herbst nur noch geringfügig. Beide Seiten scheinen von entscheidenden Fortschritten weit entfernt.
Sollte sich an der Kriegslage oder der Verhandlungsbereitschaft wenig ändern, wird es nicht das letzte Kriegsjahr sein. Die exilrussische Onlinezeitung Meduza berichtet von übereinstimmenden Experteneinschätzungen, wonach das russische Polit-Establishment bereit sei, notfalls noch mehrere Jahre in der Ukraine Krieg zu führen.
Angesichts der inneren Stimmung in den russischen Eliten müsste der Weg zu einem Verständigungsfrieden von außen und einer wirklich neutralen Seite angestoßen werden. Sonst werden angesichts der auch im Westen verhärteten Front der Kompromisslosen noch viele Menschen im Kriegsgebiet sterben.