Rutscht Deutschland in die Kriegswirtschaft?

Angeordnetes 100-Milliarden-Vermögen soll sich verdreifachen. Massive Aufrüstung Europas. Armut und Sozialprobleme nehmen zu.

Die Wehrbeauftragte im Bundestag, Eva Högl, hat eine schnellere Reform und Aufrüstung der Bundeswehr gefordert. Zwar seien die ersten Projekte auf den Weg gebracht worden, doch das Beschaffungswesen sei "zu behäbig", heißt es in dem Jahresbericht, den die SPD-Bundestagsabgeordnete am heutigen Dienstag in Berlin vorstellte. Högl fügte an: "Die Lastenbücher der Truppe sind voller geworden, die Bekleidungskammern, Munitionsdepots und Ersatzteillager hingegen nicht."

Die Wehrbeauftragte mahnt in ihrem Bericht eindringlich an, Deutschland müsse angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seine Verpflichtungen gegenüber der Nato erfüllen. Seien für Auslandseinsätze wie in Afghanistan zwei Verbände in Bataillonsstärke bereitzuhalten und auszurüsten gewesen, habe Deutschland der Nato für eine glaubwürdige Abschreckung drei Divisionen mit acht Brigaden und insgesamt 50.000 Soldaten zugesagt. Diese Großverbände müssten mit dem entsprechenden Großgerät und der notwendigen Ausrüstung und Bekleidung der Soldaten ausgerüstet sein.

Pressedienst des Bundestags über den Jahresbericht der Wehrbeauftragten

Selten habe, so heißt es in dem Bericht weiter, einen so großen gesellschaftlichen Konsens gegeben, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine "Zeitenwende" erklärt habe, so Högls These. Unter Berufung auf Expertenmeinungen forderte sie eine Finanzierung, die weit über das 100-Milliarden-Sondervermögen hinausgeht, das Scholz ohne weitere Abstimmung im Bundestag angeordnet hatte.

Auch sprach sie sich für eine deutlich schnellere Beschaffung von militärischer Ausrüstung aus. "Zwar seien mit den Beschlüssen zur Beschaffung des Mehrzweckkampfflugzeuges F-35 als Nachfolger für den Tornado, eines neuen Schweren Transporthubschraubers, bewaffneter Drohnen, neuer Sturmgewehre oder neuer digitaler Funkgeräte der richtige Weg beschritten worden", zitiert sie der Bundestagspressedienst: Aber im Jahre 2022 sei bei den Soldaten "noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen".

Claudia Major, Sicherheitsexpertin der Stiftung für Wissenschaft und Politik, hatte bereits vor Wochen eine erheblich größere Unterstützung der Ukraine durch die Bundesregierung gefordert – auch zu Lasten der deutschen Industrieproduktion. "Im Grunde geht es hier nicht um einen Sprint, sondern um einen einen Marathon", sagte Major Mitte Februar in der ZDF-Sendung "Markus Lanz".

Die aktuelle Diskussion um Kampfflugzeuge bezeichnete sie als falsch. Natürlich werde der Westen die Ukraine bald mit Kampfjets beliefern. "Aber was die Ukraine genau so sehr braucht, ist Munition, Ersatzteile, mehr von allem. Das bedeutet die Umstellung unserer Industrieproduktion auf die Bedürfnisse der Ukraine", so die Vertreterin der Stiftung, die aus dem Etat des Bundeskanzleramtes bezahlt wird.

300 Milliarden Euro gefordert

Högl verlangt nun – wie schon Verteidigungsminister Boris Pistorius und Vertreter der Unionsparteien – weitere Gelder über das 100-Milliarden-Euro-Paket hinaus. "Die 100 Milliarden Euro allein werden nicht ausreichen, sämtliche Fehlbestände auszugleichen, dafür bedürfte es nach Einschätzung militärischer Expertinnen und Experten einer Summe von insgesamt 300 Milliarden Euro."

Die Wehrbeauftragte kritisierte auch eine ihrer einer Meinung nach zu geringe Personalstärke. Es sei derzeit nicht klar, ob bis zum Jahr 2031 die anvisierte Zahl von 203.000 Soldatinnen und Soldaten erreicht werden könne, so die SPD-Politikerin. Im vergangenen Jahr habe die Bundeswehr über 183.051 Wehrfähige verfügt, dies sei ein leichter Rückgang im Vergleich zum Vorjahr 2021 gewesen (183.695 Soldatinnen und Soldaten).

Beim Bewerberaufkommen sei ein Minus von elf Prozent zu verzeichnen. Zudem werden das Potenzial und der Nachholbedarf bei der Einstellung von Frauen nicht ausgeschöpft. Högl: "Selbst inklusive des Sanitätsdienstes liegt der Anteil der Soldatinnen erst bei 13,21 Prozent."

Der Bericht der Wehrbeauftragten wurde einen Tag nach dem Jahresreport des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri über die europäischen Rüstungsimporte im Jahr 2022 präsentiert. Nach Erkenntnissen der Stockholmer Friedensforscher sind die Einfuhren von Waffen in Europa im Vergleich zum Vorjahr um 93 Prozent gestiegen.

Die Ukraine stieg im vergangenen Jahr –angesichts der andauernden russischen Invasion durchaus nachvollziehbar – zum drittgrößten Waffenimporteur der Welt auf. Nur Katar und Indien kauften im Laufe des Jahres 2022 mehr Rüstungsgüter als die Ukraine.

Die europäische Aufrüstung stand auch unabhängig von der Ukraine im Zeichen des russischen Krieges. So trugen mit Polen und Norwegen zwei Länder zum Rüstungsimportanstieg bei, die sich in besonderem Maße von Russland bedroht fühlen. Das Sipri-Institut geht davon aus, dass die Ausgaben noch weiter steigen.

Sipri: Oft intransparente Rüstungsdeals

Nach Aufstellung von Sipri umfassten die Lieferungen in die Ukraine mehrheitlich gebrauchte Rüstungsgüter. Der Stockholmer Bericht führt unter anderem 230 Waffensysteme der US-Artillerie, 280 Panzerfahrzeuge aus Polen und 7.000 britische Panzerabwehrraketen. Hinzu kämen neu produzierte Güter, so etwa neun Flugabwehrsysteme.

Die Friedensforscher des Sipri verweisen darauf, dass die Rüstungsverträge oft intransparent gestaltet sind. Der Gesamtwert der Waffengeschäfte sei daher teilweise schwer zu beziffern. Allerdings schätzen die Experten das Gesamtvolumen des jährlichen weltweiten Waffenhandels auf etwa 93,8 Milliarden Euro. Die gesamten Militärausgaben hätten sich 2021 wohl auf zwei Billionen US-Dollar summiert.

Während der Aufrüstungstrend das Bundesbudget massiv belastet, nehmen die sozialen Probleme – auch infolge der Corona-Pandemie und der aktuellen Inflation – zu. Am Montag berichtete Telepolis unter Berufung auf Sozialorganisationen, dass die Armut in Deutschland gravierender als bislang zugenommen hat. Im Jahr 2021 habe die Armutsquote nicht 16,6 Prozent, sondern 16,9 Prozent betragen, so der Paritätische Wohlfahrtsverband am Freitag.

Dieser Unterschied mag klein erscheinen – aber er beschreibt das Schicksal von weiteren rund 300.000 Menschen in der Bundesrepublik. Insgesamt lebten damit knapp 14,1 Millionen Personen in Armut.

Lage verschlechtert sich: Deutlich mehr Menschen in Deutschland leben in Armut, Telepolis, 13.03.2023

Der Sozialverband hatte Ende vergangener Woche eine aktualisierte Version seines Armutsberichtes veröffentlicht. Notwendig sei die Überarbeitung geworden, erklärte der Verband, nachdem das Statistische Bundesamt Endergebnisse für das Berichtsjahr 2021 vorgelegt hatte.


Redaktionelle Anmerkung: Das Zitat von Claudia Major (SWP) wurde ergänzt.

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