SPD: Eine Verzweiflungstat nach der anderen
Was passiert, wenn man sich Kühnes nicht mehr zugesteht. Die Sozialdemokraten drohen im Klein-Klein unterzugehen
Wäre da nicht das Behäbigkeits-, bzw. Sitzfleisch-Argument, Ministergehälter und Abgeordnetendiäten, so könnte sich der Gedanke breitmachen, dass die Regierungskoalition in Berlin nach den Wahlen am Sonntag einer baldigen Auflösung zustrebt, weil die SPD aussteigen muss, um ihr Überleben zu sichern.
Die Umfragewerte lassen kein gutes Ergebnis für die SPD bei den EU-Wahlen erwarten. Sie liegt zwischen 15,5 Prozent und 17, 5 Prozent. Bei den Sonntagsfragen aller großen Institute zur Europawahl liegt die "neue SPD", wie die Grünen manchmal schnippisch genannt werden, vor dem alten Tanker.
Bremen: "Sozialdemokratische Götterdämmerung"
Bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl ist dies allerdings anders. Dort ermittelte zumindest Allensbach bei der Umfrage zum 23. Mai einen halben Prozentpunkt mehr für die Sozialdemokraten (17,5 Prozent) als für die Grünen (17 Prozent). Das fällt aber sofort kein bisschen mehr ins Gewicht, wenn man auf die Umfragen zur Bremer Bürgerschaftswahl blickt, wo die SPD 70 Jahre lang regierte. Laut Tagesschau bahnt sich dort "eine sozialdemokratische Götterdämmerung" an: "Im BremenTrend kam die CDU auf 27 Prozent, die SPD nur noch auf 24 Prozent."
Dazu kommt der Stress aus den Medien, die wunde Stellen beackern. Der Spiegel meldet aktuell neue Anzeichen für eine Führungskrise: Dem glücklosen und unschön abservierten früheren Kanzlerkandidat Martin Schulz werden vom Hamburger Nachrichtenmagazin, das solche Sticheleien als Proben seiner Macht liebt, "Putschpläne" gegen die glücklos agierende Parteivorsitzende Andrea Nahles nachgesagt.
Gut möglich, dass sich nach herben Niederlagen bei der EU-Wahl und zur Bremer Bürgerschaft die Führungsfrage neu stellen könnte, so der Spiegel. Der Fraktionsvorsitz von Andrea Nahles könnte noch vor dem eigentlich angesetzten Termin im September zur Debatte stehen. Das Lösungs-Klein-Klein wäre nicht untypisch für die Partei. Warum nicht gleich aufs Ganze gehen und aus der Koalition aussteigen?
Kein Vergnügen mehr an der Regierungsarbeit
Es sieht nicht so aus, als hätten die SPD-Regierungsmitglieder Vergnügen an ihrer Arbeit. Wie man exemplarisch an der Diskussion über die Grundrente sieht, wird ein Projekt nach dem anderen, mit dem die SPD Markenkernzeichen setzen will, vom Koalitionspartner derart in die Mangel genommen, dass sich der gewünschte Effekt - "Die SPD tut was für die soziale Gerechtigkeit" - nicht einstellt. Stattdessen setzt sich in der Öffentlichkeit hauptsächlich der Eindruck fest, dass die Pläne nicht wirklich gut ausgearbeitet sind.
Erklärt werden kann das mit dem Widerstand des Koalitionspartners oder eben auch mit einer Art vorauseilenden konzeptionellen Beschränkung, weil die Sozialdemokraten jeden ihrer Pläne schon im Ansatz darauf ausrichten, ob er mit der Union überhaupt zu machen ist und sie damit von vornherein schon auf halbherzige oder kleine Lösungen setzen, so dass man sich Kühnes nicht mehr zugesteht. Pragmatismus ist in der Politik sehr wichtig, aber, wenn er nicht von neuen Ideen befeuert oder beseelt wird, dann steckt man schnell in Tautologien fest - im Klein-Klein, das nichts verändert.
Der soziale Friede ist mehr als eine Phrase
Es gab zwei Anläufe, die hellhörig machten, weil sie andeuteten, dass sich die Partei eine neue Kontur verschaffen könnte. Das waren einmal die Pläne zur Reform von Hartz-IV: "Wir lassen Hartz-IV hinter uns", verkündete Nahles Anfang des Jahres (Hartz-IV: Die SPD will neues Vertrauen schaffen). Und das war die Diskussion über Eigentum und Verantwortung, die der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert mit einer nicht nach allen Seiten abgefederten, nach herrschender politischer Vernunft auskalibrierten Äußerung losgetreten hat (Debatte um Enteignungen: Ein Schritt in die richtige Richtung).
Aus der Hysterie, die daraus in der öffentlichen Diskussion folgte, könnte die SPD Schlüsse für ihre Grundlagenarbeit ziehen. Kühnert hat einen empfindlichen Punkt getroffen.
Wenn sich alle auf dauernde Veränderungen der Verhältnisse und ihrer Annahmen über die Welt einstellen müssen, wie ihnen von ihren Arbeit- und Auftraggebern, von den allernächsten Beziehungen bis in den Bekanntenkreis hinein, klargemacht wird, wenn sie sich auf "lebenslanges Lernen" einstellen sollen, so gilt das natürlich auch für die etablierte "Aristokratie" in den Großkonzernen und größeren Unternehmen und für die Eigentümer, die über Erbe großen Besitz angesammelt haben. Der soziale Friede ist mehr als eine Phrase.
Da hätte die SPD ein größeres Arbeitsfeld. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich zeigen, dass da politische Wucht drinsteckt. Die Bewegung nur als Auswuchs kleinbürgerlicher Ressentiments zu begreifen, ist eine linke Salon-Haltung, die politisch nichts weiterbringt und nichts bewegt. Die SPD sollte die Forderungen genauer studieren.
Das wäre eine Aufgabe für Sozialdemokraten, die dafür Zeit brauchen und offener sein müssen, als sie es in der Regierungsverantwortung sind. Um die Hartz-IV-Vorschläge ist es seit Wochen ruhig geworden. Dabei gibt es dazu konkrete Einwände, an denen sich eine politische Partei, die Außenimpulse und gemachte Erfahrungen ernst nimmt, abarbeiten müsste (Hartz IV für Anfänger: Politiker, die nackten Menschen in die Taschen greifen), um Gesetzesentwürfe hinzubekommen, mit denen sich neue Mehrheiten schaffen lassen.
Luftbuchungen bei der Grundrente
Diese Arbeit ist allem Anschein nach nicht mit der Regierungsarbeit zu vereinbaren. Auch das Konzept der Grundrente hat Ansätze zu einer solidarischeren Gesellschaft, wie hier herausgestellt wird. Es geht, so die SZ, darum, dass "Paketboten, Friseurinnen und Kraftfahrerinnen im Alter auskömmlich leben können".
Zum Fehlen der Bedürftigkeitsprüfung, die von den Unionsparteien als großes Problem dargestellt wird, wird angemerkt, dass man auf einen demütigenden Entblößungsprozess, der damit amtlich verbunden ist, tatsächlich auch verzichten könnte wie bei der Mütterrente, wo die Unionsparteien auf eine solche amtliche Prozedur verzichten.
Aber selbst der SZ-Kommentar, der mit dem Konzept der Grundrente sympathisiert, spricht von "Luftbuchungen" bei der Finanzierung. Das Gesetz ist also nicht wirklich gut ausgearbeitet. Dass es aber trotz der Diskussionen darüber, die es schon länger gibt, als programmatischer Renner vor der EU-Wahl präsentiert wird, spricht für die Erschöpfung der Partei.
Folgerichtig erkennen Kritiker hier die nächste "Verzweiflungstat". Es wird Zeit für die Partei, ihren Horizont zu öffnen, um nicht im Klein-Klein unterzugehen.