SPD und Linkspartei im Niedergang
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Der Abstieg der SPD fügt sich ein in den Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie in vielen europäischen Ländern: In Frankreich sind die noch vor wenigen Jahren regierenden Sozialisten zerfallen, gleich mehrere Gruppen haben sich von ihnen abgespalten. Von einstmals 200.000 Mitgliedern sind nur noch 20.000 übrig. Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen werden alle linken französischen Parteien keine Rolle mehr spielen.
In Polen, Tschechien und Ungarn sind die Sozialdemokraten nahezu ganz verschwunden, ebenso in Griechenland. In Belgien, Österreich und in den Niederlanden wurden sie bei Wahlen der letzten Jahre deutlich geschwächt.
In Italien konnte sich die Partito Democratico (PD) zwar auf einem niedrigen Niveau behaupten, doch die PD kann nur bedingt als sozialdemokratisch bezeichnet werden, entstand sie doch aus einem Zusammenschluss gewendeter Kommunisten mit Zerfallsprodukten der untergegangenen Democrazia Christiana. Die PD selbst sieht sich als eine sozialliberale Partei.
Bleiben noch die skandinavischen Länder sowie Spanien und Portugal, in denen sozialdemokratische Parteien relevante Machtfaktoren sind. Doch man sollte hier hinzufügen: noch.
Über die Gründe für den europaweiten Abstieg der Sozialdemokratie ist viel geschrieben und gesagt worden. Entscheidend ist, dass die heute in diesen Parteien tonangebenden Funktionäre, die fast ausschließlich der akademischen Mittelschicht entstammen, längst die zentralen Botschaften des Neoliberalismus akzeptiert haben. Angestrebt wird nicht mehr Gleichheit, sondern bestenfalls Chancengleichheit für die sozial Benachteiligten.
Die immer größer werdende Vermögensungerechtigkeit wird als alternativlos angesehen. Und der Abbau noch vorhandener nationaler Schutzmechanismen – etwa im Bereich des Arbeitslebens – zugunsten einer Europäisierung bzw. Globalisierung wird sogar aktiv von ihnen betrieben.
Links sein bedeutet für diese "modernen" Sozialdemokraten vor allem für fortschrittliche kulturelle Werte einzutreten: Für eine gendergerechte Sprache, gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten, für Toleranz und gegen Hass im gesellschaftlichen Dialog, für die Bewahrung und den Ausbau des Asylrechts, für Umweltschutz und Tierwohl.
Das sind alles richtige Forderungen, aber für die breiten Schichten der Arbeiter, Angestellten und kleinen Selbständigen sind das alles nicht die Themen, die sie für die Sozialdemokratie einnehmen könnten. Mit ihrer "kulturalistischen Wende" haben die Sozialdemokraten den Boden mit dafür bereitet, dass extrem rechte Parteien, wie in Deutschland die AfD, erfolgreich sein konnten.
Links von den Sozialdemokraten stehende Parteien – Kommunisten und Linkssozialisten – können hingegen von deren Niedergang nicht profitieren. Sie sind selbst einem Auszehrungsprozess ausgesetzt, der in vielen europäischen Ländern bereits zu ihrer Marginalisierung geführt hat. Auch hier ist die Ursache die Orientierung an kulturalistischen Politikinhalten.
Lediglich in Belgien gelang es der Partei der Arbeit (PvdA/PdT) und in der österreichischen Stadt Graz der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) ihre Stellungen zu halten und auszubauen. In Deutschland hingegen fiel die Partei Die Linke bei den Bundestagswahlen im Jahr 2021 auf nur noch 4,9 Prozent. Und wie die SPD verliert auch sie massiv an Mitgliedern. Von den einstmals 76.000 nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG im Jahr 2007 sind nicht einmal mehr 60.000 übriggeblieben.
Die Bedeutung der Partei
Der Niedergang der Parteien der alten Arbeiterbewegung verurteilt jede linke Kritik, die sich gegen das kapitalistische System richtet, zur Machtlosigkeit, denn für ihre Umsetzung in konkretes politisches Handeln bedarf es nun einmal starker linker Parteien. Spontane Zusammenschlüsse wie Occupy Wall Street in den USA oder die Gelbwestenbewegung in Frankreich verlieren schnell an Schwung und verlaufen sich wieder.
Auch eine etablierte Organisation wie Attac kann kein Ersatz für eine sozialistische Partei sein. Linke Zeitungen, Zeitschriften und Internet-Auftritte bleiben auf Dauer ebenso machtlos.
Der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo hat auf die große Bedeutung verwiesen, die der Partei in der Geschichte der Arbeiterbewegung zukommt1:
Die organisierte politische Partei entsteht auf der Woge einer Forderung nach Emanzipation seitens der unteren Klassen. Sie sind es, die eine so weit wie möglich verzweigte und kapillar verästelte Organisation benötigen, nicht etwa die Klassen, die den Staats- und Regierungsapparat und den Reichtum zur Verfügung haben und dazu noch den gesellschaftlichen Einfluss, der aus all dem sich unmittelbar ergibt. Deshalb stellt sich während einer ganzen historischen Periode der bourgeoisen Meinungspartei die organisierte Arbeiter- oder Volkspartei entgegen.
Losurdo erinnerte zugleich an die Forderung Antonio Gramscis, dieser Partei Autonomie innerhalb der ihr feindlich gesonnenen bürgerlichen Gesellschaft zu verschaffen2:
Es sind die unteren Klassen, die zu organisierten und langanhaltenden Anstrengungen greifen müssen, um eine autonome Kultur und eine autonome politische Anschauung zu erarbeiten, um "ihre eigene Gruppe von unabhängigen Intellektuellen" zu bilden und dies im Zuge eines Prozesses, der oft unterbrochen wird von der (politischen und ideologischen) Initiative der herrschenden Gruppen (Gramsci, Gefängnishefte).
Darin liegt der Grund, dass sich für die Dauer einer ganzen historischen Periode der zumindest scheinbar entideologisierten bürgerlichen Partei eine Arbeiter- oder Volkspartei sich entgegenstellt, die darauf aus ist, in ihrem Inneren einen mehr oder weniger großen Grad an – auch ideologischem – Zusammenhalt zu verwirklichen. Eine so beschaffene Partei stellt ein starkes Zentrum autonomer geistiger Produktion dar.
Die Italienische Kommunistische Partei (PCI) entsprach nach 1945 bis zu ihrem Zerfall 1990 diesen Anforderungen.
Es war der wachsende Einfluss der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert überall in Europa herausbildenden linken Arbeiter- oder Volksparteien, der zur Demokratisierung führte. Von der revolutionären Welle 1918/19 profitierten vor allem Parteien, indem ihre Stellung in den neuen aus den Revolutionen hervorgegangenen Verfassungsordnungen institutionell verankert wurden.3
Der bedeutende Jurist Hans Kelsen, von dem die Entwürfe für die Verfassung der 1918 gegründeten Republik Österreich stammen, stellte den untrennbaren Zusammenhang von Parteien und Demokratie heraus:
Dass das isolierte Individuum politisch überhaupt keine reale Existenz hat, da es keinen wirklichen Einfluss auf die Staatswillensbildung gewinnen kann, dass also Demokratie ernstlich nur möglich ist, wenn sich die Individuen zum Zwecke der Beeinflussung des Gemeinschaftswillens unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen politischen Ziele zu Gemeinschaften integrieren, so dass sich zwischen dem Individuum und den Staat jene Kollektivgebilde einschieben, die als politische Parteien die gleich gerichteten Willen der Einzelnen zusammenfassen: das ist offenkundig.
Kelsen zog daraus den Schluss4:
Die Demokratie ist notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat.
Zur Situation der deutschen Linken
Es kommt daher auf die Partei an. Doch wie steht es um diese in Deutschland? Lange Zeit galt das unverrückbare Diktum, dass die SPD – ungeachtet ihrer konkreten Politik – der entscheidende Bezugspunkt linker Politik sei und bleiben müsse, da in ihr die bewussten Gewerkschaftsmitglieder organisiert sind, vor allem aber da die Hoffnungen Millionen Lohnabhängiger auf sie gerichtet sind.
Dies hob immer wieder aufs Neue der Sozialwissenschaftler Wolfgang Abendroth hervor, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst aus der SPD ausgeschlossen worden war, weil er daran festgehalten hatte, den von der Partei verstoßenen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zu unterstützen.
An dieser zentralen Bedeutung der SPD sind heute jedoch Zweifel anzumelden. Seit langem finden sich unter ihren Funktionären kaum noch Gewerkschafter oder andere Vertreter der Subalternen. Sie werden inzwischen auch in der Mitgliedschaft rar. Die Partei wird vielmehr beherrscht von Vertretern der intellektuellen Mittelschicht, für die die soziale Frage nicht im Mittelpunkt ihres Interesses steht.
Immer mehr bemerken das auch viele der traditionellen Anhänger der Partei. Die immer größer werdenden Verluste der SPD unter den Lohnabhängigen bei Wahlen sind Ausdruck dieser Entfremdung.
Nicht besser steht es um die Partei Die Linke. Lange Zeit konnte sie von einer treuen Anhängerschaft in der ehemaligen DDR profitieren. Doch diese Zeiten sind jetzt zu Ende, und damit verliert sie zugleich ihre sozialistische Orientierung. Der Austritt von Christa Luft ist da ein Menetekel.
Eine stabile Verankerung unter den Lohnabhängigen ist der Partei nie gelungen. Nur fünf Prozent der Arbeiter, die bei der Bundestagswahl vom September 2021 ihre Stimme abgaben stimmten für die Linke. Selbst FDP und Grüne lagen vor ihr!5
Die Parteiführung denkt aber nicht daran, daraus Konsequenzen zu ziehen. Im Gegenteil: Ganz offensichtlich soll Die Linke jetzt in eine radikalökologische Richtung gehen, um so von der Arbeit der Bundesregierung enttäuschte Wähler der Grünen für sich gewinnen zu können.6 Sollte dies eintreten, ist ihr weiterer Niedergang vorbestimmt.
Es spricht viel dafür, dass sich die politische Situation der Bundesrepublik an die anderer europäischer Länder – etwa Frankreichs – angleichen wird. Linke Parteien spielen dort keine entscheidende Rolle mehr. Was das aber für die Zukunft der Demokratie bedeutet, ist mehr als ungewiss.