Sahra Wagenknecht: Von links bis heute
Seite 3: Antiliberale Einstellungen und eine ermüdende Arbeiterschaft
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Dabei ist die Maxime: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral" eine toxische Ausgangsbasis, vor allem, wenn sie nationalegoistisch interpretiert wird. Die Geschichte des Scheiterns des gebändigten Markts und der marktsozialistischen Experimente sollte klarmachen, dass es eines anderen Fundaments und einer freiheitlichen Vision braucht, die wieder auf das zurückgreift, von dem aus der historische Kampf um die gesellschaftliche Emanzipation des Menschen aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit startete und ihn vorantrieb.
So sollte Wilhelm von Humboldt nicht nur gepriesen, sondern beim Wort genommen werden. Denn menschliche "Mannigfaltigkeit" und Freiheit sind für klassische Liberale nicht nur Floskeln. Sie drängen auf gesellschaftliche Institutionen, die sie ermöglichen und fördern. Unter der Herrschaft freier Märkte und in einer Konkurrenzgesellschaft, wie immer gut sie reguliert sein mag, bleiben solche Grundwerte Abfallprodukte und Nebeneffekte. Wenn überhaupt.
So haben Linke, Sozialdemokraten und Gewerkschaften ihre visionäre Zugkraft verloren und ziehen seit Jahrzehnten eine zunehmend ermüdende, atomisierte Arbeiterschaft hinter sich her, oft kleinbürgerlich auf Sicherheit bedacht, die vom neoliberalen Kapitalismus desillusioniert und mit Frustableitung auf Schwächere, Nicht-Einheimische, fremde "Kostgänger" und "Störenfriede" der nationalen Ordnung gefüttert wird.
Eine explosive Mischung, die überall, in den USA, in europäischen Ländern, Brasilien, Russland, der Türkei oder in Israel zunehmend zu einem politischen Angriff auf erkämpfte liberale Werte, demokratische Institutionen und internationale Kooperation geführt hat.
Der Kampf für eine andere Gesellschaft ist zudem nicht nur ein rein legislativer Vorgang, wie libertäre Sozialisten und Anarchisten herausstellen, bei dem ausschließlich eine neue Eigentumsordnung geschaffen werden müsse. Es ist zugleich ein Bewusstseinswandel, eine spirituelle Erneuerung, ein zu beförderndes Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit in der Bevölkerung, aus dem die gesellschaftliche Neuorganisation erst resultiert.
Ein solches politisches Bewusstsein liefert erst die nötige Kraft und Inspiration, um sich für den Aufbau von gesellschaftlichen Einrichtungen einzusetzen, die Freiheit, Kreativität, Gleichheit und Solidarität wiederum stimulieren.
Aber Wagenknecht stutzt das gesellschaftliche Ideal, der sozialdemokratischen Tradition seit dem 2. Weltkrieg folgend, auf "Wohlstand für alle" zurück, der von einer Koordinierer-Klasse in einer Marktgesellschaft organisiert werden soll. Es geht nicht mehr wie im klassischen Liberalismus, bei libertären Sozialisten und den Arbeiterbewegungen um "Kreativität für alle", "erfüllende, gute Arbeit für alle" und auch nicht um "volle Kontrolle der Arbeitenden über ihre Arbeit".
Daher können anti-libertäre und illiberale Einstellung an die Oberfläche gespült werden, wenn das primäre Ziel es zu erfordern scheint. Darin liegt der Grund für die "Volatilität" in Wagenknechts Wertesystem, das Changieren in ihren politischen Positionen sowie ihr oszillierendes Moralverständnis.
Es sind die Spannungen eines Programms, das moralisch motiviert ist, bei gleichzeitiger Abwehr von Moral. Denn ihr Denkgebäude, sosehr es von Ungerechtigkeit motiviert ist, wehrt Bestrebungen ab, die über eine Wohlstands- und Verteilmoral im nationalen Rahmen hinausgehen, und disloziert Freiheitsbestrebungen ins "Land Nirgendwo", die gegen eine von oben gesteuerte Ordnung gerichtet sind – ob nun in der Ökonomie oder der Politik.
Zugleich beginnt ihre sozialistische Politik in den letzten Jahren den moralischen Rückzug anzutreten. Sie hält Linken vor, sich mit ihrer Moral, ihren "versponnen" und "anmaßenden" Ideen gegen die Unterschichten zu stellen und die Arbeiter mit ihren Bedürfnissen zu verraten.
Und das, während Politik und Medien Kleinbürgergeist und Sicherheitsbedürfnisse am Fließband produzieren, Einheimische gegen Minderheiten aufbringen und progressive Kräfte spalten, um von den eigentlichen Frustverursachern abzulenken. 1998 sagte Wagenknecht, dass die Lösung für die Krise "nicht in einer besseren Moral, sondern in einer veränderten Ökonomie" liege. Doch was ist eine Ökonomie wert, die nicht auf Moral aufbaut?
Was bleibt also unterm Strich von Wagenknechts alternativem ökonomischen und gesellschaftlichen Programm? Sie will wie Jean-Luc Melanchon in Frankreich, aber auch Jeremy Corbyn und Bernie Sanders in den USA und Großbritannien den Staat und die Gesellschaft gegen den Markt stärken und weitreichendere Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie ermöglichen.
Linke Parteien wie die Grünen und Sozialdemokraten dagegen haben diese Position, nicht nur in der Theorie, sondern in der Realpolitik längst aufgegeben (wie Wagenknecht zu Recht kritisiert) – trotz aller Rhetorik und politischer Kosmetik. Wagenknecht verteidigt demgegenüber seit dreißig Jahren das Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit und eine Antikriegshaltung.
Sie befördert mit ihrer Kritik am neoliberal globalisierten Kapitalismus zugleich den Appetit auf eine andere, bessere Welt. Ihr Lob des freien Unternehmertums, eines Top-Down-Managements, der von Konkurrenz angetriebenen Leistungsgesellschaft, des Sicherheitsstaates, nationaler Autarkie, die Entsorgung von globaler Verantwortung sowie ihre Neigung zu populistischen Rhetoriken, um Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen zu mobilisieren, sind aber kaum angetan, diesem Hunger jenseits von Reformzielen das geistige Mahl zu bereiten, dessen er bedarf, um nicht bei der erstbesten Abspeisung im politischen Alltagskampf wieder zu verschwinden.
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