Sammelpetitionen: Lobbyismus durch Volksempörung

Mehrheitsentscheidungen an sich können keine Ge- und Verbote demokratisch legitimieren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden." Das Petitionsrecht ist eine Selbstverständlichkeit in Rechtsstaaten, im deutschen Grundgesetz hat es einen eigenen Artikel.

Dass es meist nichts bringt, sein Problem Verwaltung oder Politik vorzutragen, ist allerdings ebenso selbstverständlich. Deshalb hat sich in den letzten Jahren eine neue Form des Beklagens zum Volkssport entwickelt: die öffentliche Sammelpetition. Wer seinem Anliegen Nachdruck verleihen oder auch einfach nur mal für irgendwas Likes sammeln möchte, der formuliert sein Leid möglichst plakativ, boulevardesk und populär, so dass empathische Mitmenschen mit einem Klick bekunden können: "Das kann ja wohl alles nicht sein."

Solange dies vor allem zur Diskussion der Unterzeichner und Nicht-Unterzeichner miteinander und zum Gespräch mit der Herrschaft führt und dabei möglicherweise tatsächlich der eine oder andere neue Einsichten gewinnt, ist es ein guter Beitrag zur Meinungsbildung. Doch tatsächlich ist der intellektuelle Austausch meist bescheiden. Sammelpetitionen wollen Zustimmung, Anhänger, Ja-Sager - und sie wollen, dass Politik oder Verwaltung ihrem Anliegen folgt - für Verhandlungen gibt es keine Legitimation. Je mehr Unterstützer, umso größer soll der Druck sein: Lobbyismus, der weder in der Parlamentslobby noch im verschlossenen Zimmer der Ministerialbürokratie seine Wirkung sucht, sondern in der Volksempörung.

Ein Klassiker, paraphrasiert: "Die Krankenkasse will mir nicht meinen Wunsch-Rollstuhl bezahlen, den ich aber für eine gleichberechtigte Teilhabe brauche." Das gibt ratzfatz viele Unterzeichner. Kann ja wohl nicht sein. Und jeder kennt Beispiele für mühsame Kämpfe mit Behörden, was eine solche Petition besonders "anschlussfähig" macht. Nur: Ob das konkrete Anliegen jetzt hier berechtigt ist und ob erst mit der gewünschten Bezahlung eine Gleichbehandlung vorliegt, wird öffentlich nicht geklärt. Wenn eine Krankenkasse ein bisschen PR-Kompetenz besitzt, dann wird sie in solch öffentlich gewordenen Fällen stets einen Fehler einräumen und dem Einzelanliegen der Petition umgehend nachkommen. Das hat im Zweifelsfall nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern mit Schadensbegrenzung: nachgeben und Ruhe haben.

Beispiel Böllverbot

Auf dieses Verhalten setzten auch Sammelpetitionen, die allgemeine politische Veränderungen fordern, zumeist das Verbot von irgendwas. Doch wenn sie richtig formuliert und adressiert sind, gibt die Politik nicht nur nach, sondern nimmt den Protest dankbar auf und kann diesen für ein neuerliches Verbot verantwortlichen machen. So wie das ganz sicher bei den derzeitigen Anti-Böller-Petitionen laufen wird.

Auf change.org unterstützen bereits über 100.000 Menschen ein "Verbot von Silvesterfeuerwerk für Privatpersonen". Die Initiatorin schreibt dazu:

Silvester muss kein gefährliches, umweltbelastendes Fest sein. Gemeinsam mit der Deutschen Umwelthilfe rufe ich deshalb alle Menschen dazu auf, selbst mit einer Petition auf change.org, auf ihre Stadt- und Gemeindeoberhäupter zuzugehen und ein Ende der privaten Böllerei zum Jahreswechsel zu fordern. Gemeinsam können wir der Politik klarmachen: Es wird Zeit für zeitgemäße und sichere Alternativen.

Weniger Lärm, weniger Dreck, weniger Verletzte, weniger Geldverschwendung - wer ein guter Mensch ist, muss das unterstützen - und wird bei den Kommunen offene Türen einrennen, die sich freuen, wenn sie endlich verbieten können, was sie in ihrem Paternalismus schon lange verbieten wollen, bisher aber allenfalls in einzelnen Ortsteile mit besonderen Begründungen verboten haben.

Das Problem: Wenn die Politik der Verbotsforderung nachkommt, geht's mit der Demokratie weiter bergab. Denn Demokratie ist keineswegs, wie oft falsch verstanden, einfach eine Mehrheitsherrschaft, in der jedes neue Ge- oder Verbot legitim ist, wenn eine (fiktive) Mehrheit dahintersteht. Demokratie ist das Gegenmodell zur Fremdbestimmung, zu der nicht nur Monarchien und Diktaturen zählen, sondern auch Willkür und Mehrheitstyrannei.

In einer Demokratie soll jeder machen dürfen, was er mag, soweit er damit nicht die Entfaltungsmöglichkeiten anderer über Gebühr beschränkt. In diesem Fall muss man verhandeln, abwägen und letztlich natürlich entscheiden, wie die größtmögliche Selbstbestimmung zu erreichen ist. Ob etwas objektiv sinnvoll oder unsinnig ist, steht dabei überhaupt nicht zu Debatte, denn das überhaupt erst ergibt Freiheit: dass es keine Behörde und keinen Volksmob gibt, der für alle verbindlich entscheidet, was gut und richtig ist.

Dass Mehrheitsentscheidungen an sich noch lange keine Ge- und Verbote demokratisch legitimieren können, ist Common Sense nur im Hinblick auf bestimmte "Minderheiten": Drei Wölfe und ein Schaf dürften nicht darüber abstimmen, was es zu essen gibt. Das ist völlig richtig, aber nicht, weil es einen demokratietheoretischen Schafschutz gäbe, sondern weil mit ständig wechselnden Mehrheiten praktisch alles verboten werden kann. Zwei Wölfe und das Schaf könnten sonst schnell beschließen, den einen Grippe-Wolf zu ersäufen, um die eigene Gesundheit zu schützen. Ein Wolf und ein Schaf könnten bestimmen, dass Tiere mit Mundgeruch eine deutliche Kennzeichnung tragen müssen und den verbliebenen Altwolf damit diskriminieren - und so weiter.

Was man nicht ertragen will, muss verboten werde

Das Fliegen komplett verbieten? Dafür gibt es derzeit keine Mehrheit. Aber Flüge auf die Galapagos-Inseln kann man verbieten - so weit muss nun wirklich niemand in den Urlaub fliegen, und überhaupt, die Schildkröten. Danach organisiert man eine Mehrheit für das Verbot von Flügen nach Saudi-Arabien, Frauenrecht und so. Dann werden Flüge in die USA gestrichen, wegen der Todesstrafe, Trump und überhaupt: doofe fette Nation... Für alle möglichen Einzelforderungen kann man Mehrheiten organisieren. Was diese aber stets schuldig bleiben, ist eine Begründung, mit welchem Recht sie in die Freiheitsrechte anderer Menschen eingreifen wollen.

Ja, es kann sein, dass man das Fliegen komplett verbieten muss, aber nicht. weil man willkürlich die Flugfreiheit begrenzen darf, sondern weil die Fluggäste massiv in die Rechte anderer eingreifen, mit ihrem Lärm, mit ihrer Klimawirkung, mit ihren Krankheitsverschleppungen, mit dem Ressourcenbedarf. Aber da wäre natürlich noch viel auszuhandeln, damit es eben keine Willkür ist. Auch die Eisenbahn macht Lärm, das Auto macht Lärm und verpestet die Luft, und der LKW mit den Vegan-Burgern im Frachtraum sowieso.

Das "Verbot von Silvesterfeuerwerk für Privatpersonen" stinkt ganz gewaltig nach Willkür. Schließlich ist es schon der kleinstmögliche Kompromiss, überhaupt nur die wenigen Stunden im Jahr böllern zu dürfen und ansonsten seine pyrotechnischen Gelüste auf einem YouKnall-Kanal befriedigen zu müssen. In einer Gemeinschaft muss ein jeder mal was ertragen, damit alle zu ihrem Recht kommen.

"Es gibt kein Recht auf Feuerwerk" kann jetzt jemand behaupten, was aber eine Verdrehung des Problems ist. Die Frage ist, ob es ein Recht auf ganzjährige Feuerwerksstille geben kann, ob die eine Freiheit der anderen so überlegen ist, dass eine totale Entscheidung gerechtfertigt ist. Es gibt schließlich auch kein Recht auf Handy, Kaffee oder Internet. Es gibt aber vermutlich auch kein Recht auf Handy-, Kaffee- und Internetverbote, so sehr man auch einzelne Argumente dafür bemüht. Nichtsdestotrotz liefern sich grade viele Sammelpetitionen einen Wettbewerb um die geringstmögliche Toleranz. Was man nicht ertragen will, muss verboten werden: Dönergeruch, Trigger-Worte, Blütenpollen, Socken in Sandalen. Das Problem sind immer die anderen, gegen die man eine Gruppe formieren kann.

Sammelpetitionen haben ihren Platz in der öffentlichen Diskussion, sie sind eine sehr niederschwellige Protestform, für die man kein Plakat malen und keinen Fuß vor die Tür setzen muss. Insbesondere der Journalismus hat aber für seine Aufklärungsleistung gezielt auch die Argumente der Gegenseite(n) zu publizieren.

Mit einem Klick seine Meinung kundtun zu können, ist durchaus ein Fortschritt. Mit einem Klick allerdings die Welt zu verändern, wäre ein gewaltiger Rückschritt.