Sarkozy verunglimpft, weil er unbequeme Wahrheit über die Ukraine ausspricht
Der französische Ex-Präsident bietet einen diplomatischen Ausweg an. Die Kommentatoren reagieren mit "Pro-Putin"-Beschimpfungen. Was hinter der Hexenjagd steckt.
In einem Interview mit Le Figaro, das am 16. August veröffentlicht wurde und auf seinem neuen Buch basiert, legt der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy dar, was in den westlichen Überlegungen zum Krieg in der Ukraine fehlt: ein diplomatischer Plan B für den Fall, dass die derzeitige ukrainische Offensive scheitert.
Sollte sie scheitern, was immer wahrscheinlicher wird, ist die wahrscheinlichste Alternative zu einer diplomatischen Lösung ein unbefristeter und blutiger Zermürbungskrieg, der in etwa den gegenwärtigen Schlachtlinien folgt.
Abgesehen von der von Sarkozy beschriebenen Gefahr einer katastrophalen Eskalation und eines Krieges zwischen der Nato und Russland sollten die westlichen Länder, die mit der Ukraine befreundet sind oder behaupten, es zu sein, die Folgen eines nicht enden wollenden Krieges gegen dieses Land bedenken.
Dazu gehören die Fortsetzung der schrecklichen menschlichen Verluste und die fortgesetzte Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft, wobei überhaupt nicht sicher ist, wer für den Wiederaufbau aufkommen wird. Das würde auch dazu führen, dass der EU-Beitrittsprozess auf unbestimmte Zeit verschoben wird.
Dieser wäre aber die beste Chance für die Ukraine, sich wirklich dem Westen anzuschließen. Auch die ukrainischen Flüchtlinge können dann nicht in ihre Heimat zurückkehren, was zu einem katastrophalen und dauerhaften Rückgang der ukrainischen Bevölkerung führt.
Hinzu kommt die Möglichkeit, dass eine ukrainische Armee, die durch jahrelange gescheiterte Offensiven erschöpft und ausgeblutet ist, schließlich einem russischen Gegenangriff zum Opfer fällt, was zu weitaus größeren Gebietsverlusten führen würde, als die Ukraine bisher erlitten hat.
Angesichts dieser Szenarien könnte man meinen, dass selbst diejenigen, die mit Sarkozys konkreten Empfehlungen nicht einverstanden sind, eine ernsthafte öffentliche Debatte über das weitere Vorgehen begrüßen würden. Stattdessen reagierte die große Mehrheit westlicher (einschließlich französischer) Politiker und Kommentatoren mit denunziatorischen Vorwürfen gegen den ehemaligen Präsidenten als "russischer Influencer" und "Freund Putins", dessen Äußerungen "beschämend" und "schockierend" seien.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Übersicht über westliche "Nachrichten"-Berichte (meist verschleierte und feindselige Meinungsbeiträge). Von den zehn Top-Storys über das Interview, die sich aus einer Google-Suche ergaben, konzentrierten sich nur zwei auf Sarkozys Äußerungen selbst.
Alle anderen haben in ihrem Inhalt und in ihren Überschriften (wie z. B. "'Shameful' Nicolas Sarkozy Under Fire for Defending Putin" in The Guardian, "‘Schändlicher‘ Nicolas Sarkozy unter Beschuss, weil er Putin verteidigt"), die die wütenden Angriffe auf Sarkozy betonen und ausführlich zitieren.
Was Sarkozy tatsächlich gesagt hat, ist das Folgende:
Ohne Kompromisse wird nichts erreicht werden können, und wir laufen Gefahr, dass die Situation jeden Moment entgleist. Dieses Pulverfass könnte furchtbare Folgen haben ... Die Ukrainer ... werden sich zurückholen wollen, was ihnen zu Unrecht genommen wurde. Aber wenn sie es nicht vollständig schaffen, werden sie die Wahl haben zwischen einem eingefrorenen Konflikt ... oder dem Ausweg eines Referendums [in den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten] unter strenger Aufsicht der internationalen Gemeinschaft ... Jede Rückkehr zu den früheren Verhältnissen [d.h. ukrainische Herrschaft über die Krim] ist eine Illusion. Ein unanfechtbares Referendum ... wird notwendig sein, um den aktuellen Stand zu konsolidieren.
Zur Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sagte Sarkozy, dass:
Russland muss auf alle militärischen Aktionen gegen seine Nachbarn verzichten ... Die Ukraine muss sich verpflichten, neutral zu bleiben ... Die Nato könnte gleichzeitig ihre Bereitschaft bekräftigen, Russlands historische Furcht, von unfreundlichen Nachbarn eingekreist zu werden, zu respektieren und zu berücksichtigen.
Er bezeichnete auch Vorschläge, dass die Ukraine in absehbarer Zeit der Europäischen Union beitreten könne, als unrealistisch und heuchlerisch und verglich dies mit den hoffnungslosen jahrzehntelangen Bemühungen der Türkei: "Wir verkaufen falsche Versprechungen, die nicht eingehalten werden können."
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Zu den bisherigen Bemühungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, mit Putin zu verhandeln, sagte Sarkozy, diese seien zwar richtig gewesen, aber Macron habe es versäumt, konkrete Kompromissvorschläge zu unterbreiten, auch "wegen des Drucks der Osteuropäer".
Sarkozy forderte die Europäer auf, sich daran zu erinnern, dass Russland, ob es nun gefällt oder nicht, immer Teil Europas und ein Nachbar der EU bleiben wird, mit dem man zusammenleben muss. Daher "sind die europäischen Interessen diesmal nicht mit den amerikanischen Interessen verbunden".
Die düstere Realität des Ukraine-Kriegs
Trotz der nahezu universellen Verunglimpfung, die Sarkozys Interview ausgelöst hat, wurde vieles von dem, was er sagte, bereits von einigen US-amerikanischen und europäischen Regierungsvertretern im Hintergrund geäußert und in den westlichen Medien zitiert.
Im Februar erklärten ungenannte Beamte der Biden-Administration gegenüber der New York Times, das Ziel der USA sollte nicht darin bestehen, dass die Ukraine die Krim zurückerobert (was ihrer Meinung nach sowohl militärisch äußerst schwierig als auch ein Risiko für eine russische Eskalation in Richtung eines Atomkriegs wäre), sondern stattdessen darin, die russische Militärherrschaft auf der Halbinsel "glaubhaft herauszufordern", um "Kiews Position in künftigen Verhandlungen zu stärken".
Das führt jedoch zu der offensichtlichen Frage – oder sollte es zumindest: künftige Verhandlungen über was? Im Gegensatz zu Sarkozy waren die US-Vertreter und ihre europäischen Kollegen nicht bereit, die offensichtliche Schlussfolgerung auszusprechen: Wenn die Ukraine einen solchen militärischen Erfolg erzielen könnte, ohne die Krim tatsächlich zurückzuerobern, müsste es bei den daraus resultierenden Verhandlungen darum gehen, der Ukraine die Gebiete zurückzugeben, die sie seit letztem Jahr verloren hat, während die Krim (und wahrscheinlich auch der östliche Donbass, der in der Praxis ebenfalls seit 2014 von Russland gehalten wird) in russischer Hand bleibt.
Sie haben sich auch nicht mit der Frage befasst, wie eine solche Friedensregelung international legitimiert werden könnte. Hier hat Sarkozy eine demokratische Lösung vorgeschlagen, die auch von Thomas Graham und anderen vorgeschlagen, aber von den Regierungen der westlichen Demokratien rigoros ignoriert wird: die Entscheidung durch international überwachte Referenden in die Hände der Bevölkerungen der betroffenen Gebiete zu legen.
Derzeit ist die ukrainische Armee jedoch noch weit davon entfernt, die Krim zurückzuerobern, und wird dies höchstwahrscheinlich auch nie können, wovor das Pentagon bereits im Vorfeld zu Recht gewarnt hat.
Das wahrscheinliche Scheitern der derzeitigen ukrainischen Offensive wird nun von offiziellen und inoffiziellen westlichen Analysten breit diskutiert. Wieder einmal ziehen jedoch nur wenige die offensichtliche Schlussfolgerung, dass das Ergebnis ein langwieriger Zermürbungskrieg sein wird, der entweder zu einem Waffenstillstand entlang der derzeitigen Fronten oder – möglicherweise – zu einem neuen russischen Sieg führen wird.
Noch weniger argumentieren wie Sarkozy, dass das Endergebnis ein Kompromissfrieden sein muss, und machen Vorschläge, wie dieser Frieden aussehen sollte.
Was die ukrainische EU-Mitgliedschaft anbelangt, so äußerten EU-Beamte und Analysten, mit denen ich im letzten Herbst in Brüssel unter vier Augen sprach, Sarkozys tiefe Skepsis, dass das in der nächsten Zeit möglich sein wird. Das liegt zum Teil daran, dass die Kosten des ukrainischen Wiederaufbaus eine noch nie dagewesene und enorme Belastung für die EU-Haushalte darstellen würden.
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Vor sechs Monaten schätzte die Weltbank, dass sich die Aufwendungen für den Wiederaufbau bereits auf rund 411 Milliarden Dollar belaufen würden – das Zweieinhalbfache des ukrainischen BIP für das Jahr 2022 und mehr als das Zwölffache der gesamten derzeitigen jährlichen Ausgaben der EU für die Hilfe an ihre ärmeren Mitglieder.
Mir gegenüber wurden auch ernste Zweifel an der Fähigkeit der Ukraine geäußert, die Art von internen Reformen durchzuführen, die es ihr ermöglichen würden, die Bedingungen des Acquis Communautaire der EU (Rechte und Pflichten der Mitgliedsländer) auch nur ansatzweise zu erfüllen. Präsident Macron ist der Ansicht, dass die Ukraine, selbst wenn der Frieden erreicht werden kann, "mehrere Jahrzehnte" brauchen wird, um sich zu qualifizieren.
Unter diesen für die Ukraine und den Westen ungünstigen Umständen scheint die reflexartige und diskussionslose Zurückweisung von Sarkozys Äußerungen der Gipfel der Verantwortungslosigkeit, Heuchelei und moralischen Feigheit zu sein und dient auch nicht den wahren Interessen der Ukraine.
In den Jahren 1916 und 1917, als die westliche Front in einer schrecklich blutigen Pattsituation erstarrte und Russland in Revolution und Bürgerkrieg versank, wurden in den europäischen Kriegsparteien dissidente Stimmen laut, die einen Kompromissfrieden forderten. Und in all diesen Ländern wurden auch diese Stimmen als "schändlich" bezeichnet und durch Anschuldigungen wie "Verrat" und "Kapitulation" zum Schweigen gebracht.
Das Ergebnis war, dass drei große europäische Staaten zerstört wurden, die Sieger (mit Ausnahme der Vereinigten Staaten) unwiderruflich verkrüppelt wurden und der Boden für den Faschismus, den Stalinismus und das noch größere Unheil des Zweiten Weltkriegs bereitet wurde.
106 Jahre später würden nur sehr wenige Historiker die Befürworter des Friedens als "schändlich" oder ihre Kritiker als korrekt bezeichnen. Was werden Historiker in hundert Jahren wohl über die gegenwärtige westliche Hexenjagd gegen diejenigen sagen, die Frieden in der Ukraine vorschlagen?
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).