Schäbiger Empörungswettbewerb um Klimaproteste und Verkehrsunfälle
Ein Gericht muss demnächst klären, inwieweit Klimaproteste in Berlin die Rettung einer verletzten Radfahrerin verzögerten. Populistische Hetzer meinen, es schon zu wissen. Abstrakte Verkehrsopferzahlen erhitzen die Gemüter weniger.
Ein normaler Stautag, keine Klimaproteste an den Autobahnen, keine politischen Forderungen, man gewöhnt sich dran – wie auch an die abstrakten Unfallopferzahlen, die das Statistische Bundesamt regelmäßig veröffentlicht, alleine 1238 Getötete waren es im ersten Halbjahr 2022.
Ein Stautag mit Klimaprotesten – und alle finden ihr Ventil. Gibt es dann noch schwere Unfälle, sind die Schuldigen schnell benannt: Die Klimainitiative "Letzte Generation", die mit Sitzblockaden an den Autobahnen protestiert.
Einigkeit besteht zwischen Kanzler und Opposition, zwischen CDU und Grünen, auch in den Medien folgt man schnell und unreflektiert der hetzenden Meute. Einigen ist in diesem populistischen Empörungswettbewerb kein Vergleich zu schäbig – sie stigmatisieren die Beteiligten der Proteste als kriminell und "terroristisch" bis hin zur Nähe zur RAF. Zeit, einmal durchzuatmen und zu sortieren.
Um es vorneweg zu sagen: Die Proteste sind nicht legal, es sind Verstöße gegen Regeln und Gesetze, denen der Staat nachgehen soll und muss. Ich selbst habe mich oft genug für schärfere Regelungen im Straßenverkehr eingesetzt, damit wir alle besser miteinander auskommen. Ja, es sind Ordnungswidrigkeiten, möglicherweise sogar Straftaten, wenn vom Gericht so entschieden. Solange gilt die Unschuldsvermutung, auf die wir bei vielen anderen Gelegenheiten schützend für den potentiellen Täter pochen.
Ergänzend dürfen Verurteilte sich ohne Eintrag im Führungszeugnis als "unbestraft" bezeichnen, sobald eine Strafe unter 90 Tagessätzen oder drei Monaten ausgesprochen wurde. Nach außen und öffentlich also "nicht vorbestraft".
Wer dennoch von "Kriminellen" spricht, handelt in schlimmstem populistischem Vorsatz, die Täter, die Tat, die Anliegen zu diskreditieren – und muss sich fragen lassen, ob er die gleichen Vokabeln bei den Schubecks, Beckers und Hoeneß' dieser Welt verwendet – oder auch nur bei einfachen Verkehrsstraftaten. Alle andere wäre Heuchelei.
Wo bleibt die kollektive Fähigkeit, Rettungsgassen zu bilden?
Im aktuellen Fall muss erst ein Gericht klären, inwieweit eine Straßenblockade die Rettung einer verletzten Radfahrerin verzögerte – beziehungsweise, ob es den aufgehaltenen Autofahrern aufgrund dieser Blockade tatsächlich nicht möglich war, eine Rettungsgasse zu bilden, oder ob auch deren kollektive Nachlässigkeit eine Rolle spielte. Bis dahin gilt streng genommen sowohl für die Autofahrer als auch für die Klima-Aktivisten die Unschuldsvermutung, was die fahrlässige Körperverletzung betrifft. Die möglicherweise strafbare Nötigung der zum Halten gezwungenen Autofahrer ist ein anderer Tatbestand.
Die "Letzte Generation" selbst betont: "Wir ermöglichen Einsatzfahrzeugen mit Blaulicht, einschließlich Krankenwagen und Feuerwehrautos, das Passieren von Straßenblockaden." Dazu verweist die Gruppe auf Bildmaterial im Netz.
Die Nähe zur RAF herzustellen, offenbart dann nicht nur geschichtliche Unkenntnis und tiefstes Bubble-Denken, sondern offenbart auch das eigentliche Anliegen: Die Intention, den legitimen Grund zu diskreditieren. Wer dies tut, entblößt sein Unwillen, ernsthaft gemäß der sehr strengen Vorgaben des Klimaurteils des Bundesverfassungsgerichts die Erderhitzung abzubremsen und aufzuhalten – und genau darum geht es bei den Protesten überwiegend junger Menschen.
Niemand hat sich seine Jugend- oder seine Zwanziger-Jahre mit potentiellen Vorstrafen, polizeilichem Gewahrsam und der Angst vor tätlichen Übergriffen rabiater, teilweise zu Recht erzürnter Autofahrer vorgestellt.
Ihre Sorge teilt der UN-Generalsekretär
Ihre Angst und panische Sorge vor dem, was ungebremst auf unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Freiheit, Gesundheit und Sicherheit zurollt, ermutigt sie, diesen Schritt zu gehen. Sie handeln in einer ethischen und legitimen Haltung, die der UN-Generalsekretär António Guterres im März dieses Jahres anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstellung des IPCC-Berichts wie folgt ausdrückte:
Ich habe in meinem Leben schon viele wissenschaftliche Berichte gesehen, aber keinen wie diesen. Der heutige IPCC-Bericht ist ein Atlas des menschlichen Leids und eine vernichtende Anklage gegen das Versagen der Klimapolitik.
António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen
Inzwischen schließen sich auch ältere Menschen aus der Mitte der Gesellschaft den Protesten an, denn sie sind es leid, seit 30 Jahren die gleichen Warnungen aus der Wissenschaft bei zunehmend eintreffenden Klimakatastrophen zu hören und der Untätigkeit der Politik weiter tatenlos beizuwohnen.
Ich bin überzeugt, wir tun besser daran, den schäbigen populistischen Empörungswettbewerb auf Kosten der Klimaziele zu beenden. Denn wir haben miteinander, partei- und akteursübergreifend, eine gemeinsame staatstragende Aufgabe vor uns – die Erderhitzung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Das "planetare Fieber" mit 1,2 Grad hat uns in den letzten Jahren mit Waldbränden, Ahrtal-, Flut-, Hurrikan- und Hungerskatastrophen gezeigt, welche Dynamik auf uns zurollt. Besonders der Verkehrsbereich hat in den letzten Jahren in der Summe keinen nennenswerten Reduktionsbeitrag geleistet – deshalb sind die Klimaaktivisten auch genau dort, wo sich was verändern muss, im Verkehr.
Aber kommen wir vom schäbigen Empörungswettbewerb zurück zur verkehrspolitischen Heuchelei bei diesem speziellen Fall der letzten Tage. Wenn Rettungssanitäter bei ihren täglichen Einsätzen nicht durchkommen, dann liegt es mit weitem Abend vor den Klimaprotesten an den täglichen Falschparkern, den Zweite-Reihe-Parkern, schläfrigen Dauerbaustellen und generell zu vielen Autos in der Stadt.
Wenn die Feuerwehr nicht durchkommt, dann liegt es möglicherweise an der fehlenden kollektiven Fähigkeit, Rettungsgassen zu bilden. Dann müssten also die motorisierten Verkehrsteilnehmer härter bestraft werden; die Polizei müsste öfter Kontrollaktionen durchführen und sanktionieren. An gefährlichen "Hotspots" muss möglicherweise sogar baulich getrennt werden. Vor allem sind es aber Tausende von Autofahrern, die kollektiv ein fehlendes soziales Verhalten an den Tag legen.
Schneller Ausbau sicherer Radwege wäre logische Konsequenz
Geht es um die arme Radfahrerin, die vom Betonmischer überfahren wurde, dann müsste der Ruf nach einem schnelleren Ausbau von Radwegen die logische Folge sein. Dann müssten auf Berliner Landesebene die Oppositionsparteien CDU und FDP, die grüne Verkehrssenatorin, ob des mangelnden Ausbaus anzählen, die SPD-Innensenatorin ob mangelnder Durchsetzungsschärfe der Verkehrsregeln bei den gefährdenderen Verkehrsteilnehmern wie Lkw-, Betonmischer- oder Lieferfahrern.
Oder den parteilosen Wirtschaftssenator wegen mangelnder Aufsicht von Straßengüterverkehrsunternehmen mit ihren zu engen, zu stressigen, fast nicht einhaltbaren Dienstplänen: Streng genommen stellt sich sogar auch die Frage nach der deren genereller Eignung zur Führung von Straßenverkehrsunternehmen. Aber auch die Regierungsfraktionen müssten untereinander diese Diskussion führen, ginge es ihnen darum. Auch das unterbleibt.
Geht es um den potentiellen Todesfall und um die zahlreichen anderen fahrlässigen Tötungen, müsste sich die Diskussion noch viel mehr um Straftaten im Verkehrsbereich, um verharmlosende Gerichtsurteile, um eine Verschärfung der Verkehrsregeln und eine Abbremsung des Verkehrs auf sichere Geschwindigkeitsniveaus drehen. Aber auch diese Diskussion führt kaum einer derjenigen, die sich nun in Reflexen ergehen.
Müsste jeder mögliche Grund für einen Stau kriminalisiert werden?
Geht es um die Staus, dann müsste jede "Verkehrshäufung", jede Baustelle kriminalisiert werden – oder man macht sich systematisch Gedanken, wie man Millionen Autofahrer, die alleine in ihrem Pkw sitzen, dazu bringt, auf Bus und Bahn, Mitfahrgemeinschaften oder das Fahrrad umzusteigen – oder wie in Corona-Zeiten nach Möglichkeit gleich ganz zu Hause bleiben, mit den entsprechenden Konsequenzen der Umschichtung der Mittel für den Autobahn- und Straßenbau auf den öffentlichen Verkehr.
Aber um all diese Dinge geht es nicht: Die Nicht-Aussprache der oben aufgezeigten verkehrspolitischen Konsequenzen demaskiert die Heuchelei rund um die Klimaproteste. Dann soll man wenigsten so ehrlich sein und seine klimapolitische Untätigkeit klar ausdrücken und jedem Wähler und Wählerin klar machen, dass mit der eigenen Partei die Einhaltung der Pariser Klimaziele nicht zu machen sei.
Als ehemaliger Greenpeace-Campaigner und , als Fahrrad-Aktivist, der ich zig Aktionen im öffentlichen Straßenraum für den Strafrechtsparagraphen 315d gegen illegale Autorennen, gegen lächerliche Gerichtsurteile bei fahrlässigen Tötungen mit dem Auto oder für die Erhöhung der Bußgelder für Falschparker durchgeführt habe, kann ich aus professioneller Sicht "leider" nur konstatieren, dass gemäß den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie diese die Strategie der Protestgruppen aufgehen wird.
Und dennoch kann ich die Wut der Autofahrer verstehen, nicht nur im täglichen Zuviel an Autos, Stau genannt, festzusitzen, sondern nun auch noch für zusätzliche Stunden blockiert, in "Geiselhaft" für klimapolitische Untätigkeit genommen zu werden. Ich wünschte so manches Mal, dass die Klimabewegung strategischer wird, zuhauf in Parteien eintritt, Ausbildungen als Energiehandwerker macht, konkrete Einsparprojekte im eigenen Umfeld, beim Arbeitgeber, der eigenen Stadt mit umsetzt.
Ich wünschte mir mehr Aktivisten, die sich den Mühen des Klein-Kleins unterziehen und schauen, wo und woran es bei Energiewende genau hakt, die besser recherchieren, die noch mehr wirksame NGOs gründen oder überzeugender mit den (Fach)-Politkern ins Gespräch kommen, die Fakten besser beherrschen und gewinnbringender für unser aller Anliegen werben.
Den Klimaschutz "den Profis" überlassen – so hat es der heutige Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) noch 2019 die großen Klimaproteste arroganter Weise abtropfen lassen. Daran müssen sich Lindner, die Regierungsmannschaft, die 736 Bundestagsabgeordnete und deren Büroteams nun eben messen lassen.
Arbeitsverweigerung in Ministerien, Ignoranz gegenüber NGOs
Wie kann es sein, dass die 10.000 von unseren Steuergeldern bezahlte Mitarbeiter im Bundeswirtschafts-, umwelt-, landwirtschafts-, innen- und -verkehrsministerium samt Kanzler- und Umweltbundesamt die Arbeit verweigern, während die einzigen Studien, wie Deutschland seinen fairen Anteil an den international vereinbarten Klimazielen einhalten kann (was Klimaneutralität bis 2035 bedeuten würde), von spendenfinanzierten NGOs wie EnergieWatchGroup, GermanZero oder Fridays for Future erarbeitet werden? Und dann noch nicht mal aufgegriffen werden?
Wie kann es sein, dass junge Menschen – und auch zunehmend ältere aus der Mitte der Gesellschaft – auf diese Arbeitsverweigerung aufmerksam machen müssen, in dem sie sich auf die Fahrbahn kleben? Wenn Autofahrer auf jemand wütend sein können, dann doch bitte auf die Arbeitsverweigerung der Bundesregierung und unserer Berufspolitiker, höchstrichterlich vom höchsten Gericht unseres Landes attestiert.
Wünschen würde ich mir, dass die Legislative Gesetze schreibt, entwirft, verabschiedet, die der Einhaltung des selbst gesetzten und ratifizierten Pariser Klimaziels dienen und sie sicherstellen, dass die Exekutive mit der Umsetzung dessen beauftragt wird, dass im Sinne der Gewaltenteilung nicht das Bundesverfassungsgericht die Untätigkeit und Unzulänglichkeit rügen muss.
Selbst habe ich diverse Klima-NGOs wie Changing Cities, GermanZero und KlimaUnion gegründet, um im Rahmen von Gesetz und Ordnung für Veränderungen zu sorgen. Und kann leider nur feststellen, dass dies alles zu wenig fruchtet, dass unser Staat, unsere Demokratie, unsere Politiker und Parteien die Legitimität verlieren, uns als Bürger zu schützen, vor den wissenschaftlich festgestellten drohenden Katastrophen.
Das Grundgesetz kennt in Paragraph 20a, Absatz 4 das Widerstandsrecht. Es ist für den Ausnahme- und Notfall gemacht, "wenn andere Abhilfe nicht möglich ist" und wird auch nur dann wirksam – so steht es im Webarchiv auf den Seiten des Deutschen Bundestages.
Tatsächlich legitimiert es demnach nicht generell den zivilen Ungehorsam: "Doch solange "Konflikte noch in zivilen Formen" ausgetragen werden können, das demokratische System intakt ist und solange "friedlicher Protest noch Gehör" finden kann, dürften sich Bürger nicht auf dieses Widerstandsrecht berufen.
So wie der UN-Generalsekretär das Versagen der Klimapolitik anprangerte, stellt sich die Frage nach dem "intakten" demokratischen System. Die Legitimität unserer Demokratie steht zur Diskussion – nicht durch angeblich "kriminelle", "terroristische" Proteste, sondern durch die klimapolitische Trägheit von Exekutive und Legislative, durch die "Arbeitsverweigerung" demokratischer Institutionen angesichts der Größe der Aufgabe.
Es wäre wünschenswert, wenn die Legitimität nicht auf der Straße ausgehandelt werden müsste, sondern in bester staatstragender, parteiübergreifender Haltung schnell, forciert und wirksam für die Einhaltung des 1,5-Grad-Limits gehandelt würde. "Dem deutschen Volke" – so steht es am Reichstag in großen Lettern. Was hält uns davon ab, diesem großen Konsens entsprechend zu handeln, statt heuchlerisch bis schäbig auf die Klimaproteste auf der Autobahn zu reagieren?
Ich wünschte mir, dass Gesetz und Ordnung mehr eingehalten würden. Der Pariser Klimavertrag und das Bundesverfassungsgericht hat dazu genügend eindeutige Hinweise gegeben.
Heinrich Strößenreuther ist Klima- und Verkehrslobbyist, NGO-Gründer und CDU-Mitglied
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