Schafft Olympia ab!

Seite 2: Nationalnarzisstische Kraftmaschinen

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Der fröhliche Wettstreit der Völker ist eine Chimäre, eine so hohle Suggestion, dass eigentlich nur noch die Frage quält, wieso dieser gegen den Strich gebürstete Nationalitätenmythos wider jede Vernunft hartnäckig weiter behauptet werden darf. Was hat die Leistungsfähigkeit eines Sportlers mit der Nation zu tun, aus der er (vermeintlich) kommt? Wäre es aber so, ließe sich vielleicht der Vergleich der Leistungsfähigkeiten unterschiedlicher Nationen auch ohne große Anstrengung als Rassismus beschreiben.

Dass offensichtlich der Vorwurf nicht aus der Mode kommt, demonstrierte noch gerade der "shitstorm" wider die österreichische Obfrau Barbara Csar auf Twitter, sie sei eine "Rassistin" - was dann die übliche Riposte eröffnet, ob die Ankläger nicht selbst Rassisten sind. Touché!? Angeblich habe Csar die Südkoreanerin Shin A Lam im Degenkampf gegen die Deutsche Britta Heidemann um den Sieg gebracht. Letztlich ging es um die olympiatypische Frage, ob der Treffer von Heidemann noch innerhalb der letzten Sekunde platziert wurde. Oder in der surrealen Sprache der olympischen Spitzfindigkeiten: Ist eine Sekunde eine Sekunde eine Sekunde?

Der bildträchtige Auftritt der unterlegenen Kombattantin hatte seinen höchsteigenen Geschmack, den einige Kommentatoren aus unerfindlichen Gründen für ikonisch bewahrenswürdig hielten. Vielleicht hätte die IOC-Spielleitung Shin A Lam moderat mitteilen sollen, dass solche Auftritte nicht der Sache, weder ihrer noch der der Spiele, förderlich sind. Weit gefehlt! Der Fechtweltverband (FIE) will ihr nun "irgendeine Art von Medaille" zukommen lassen, die wir ihr von Herzen gönnen, uns aber zu neuen Fragen veranlasst.

Sollte man das starre triadische Medaillensystem nicht so aufspreizen, wie es die Spiele ohnehin schon sind? Messing-, Zink-, Blei- und Blechmedaillen, sodass schließlich keine(r) leer ausgehen müsste, würden alle narzisstischen Gelüste befriedigen. Sondermedaillen für diverse emotionale Zustände, idiosynkratische und infantile Spezialbefindlichkeiten wie "Ich war fast genauso schnell", "Zweiter (Dritter usf.) Sieger", "Tränen lügen nicht" tun Not. Auch die universal einsetzbare Metallmitteilung "Ich war auch dabei" bis hin zu einer dem Geist der "Goldenen Himbeere" nachempfundenen "Beleidigten-Leberwurst-Medaille" könnten Abhilfe schaffen, um die kranke Gier nach Auszeichnung zu befriedigen.

Zum Leistungsunfug der Hundertstelsekunden passte je die Kleinigkeitskrämerei von unübersichtlichen Prämiensystemen. Ob nun im Fall der weinenden Südkoreanerin Parteilichkeit herrschte oder nicht, ist nicht die entscheidende Frage, zudem nicht nur bei Sportgerichten Vorurteilsstrukturen kaum justiziabel sind. Entscheidend und symptomatisch ist, dass offensichtlich zahllose Ressentiments gleich hinterher den offiziellen Lippenbekenntnissen des Völkerverständigungsdiskurses parat sind. Vor allem sind sie ein probates Erklärungsmodell, wenn denn das Schicksal mal wieder so gemein war, einen nicht so weit nach oben zu spülen, wie es der staatlich geförderte kindliche Eigensinn will.

Bleiben wir gegenüber der national infizierten "Unsere Mädels/Jungs holen Gold"-Trunkenheit nüchtern, reden wir von einzelnen Heldinnen und Helden, die auf welchen Wegen auch immer ein vorübergehendes, höchst ephemeres Leistungshoch produzieren. Wir sehen keine Nationen, sondern Individuen bzw. Kraftmaschinen, die zu blassen Projektionen nationaler Selbstdarstellung werden.

Die 15-jährige Goldmedaillengewinnerin Ruta Meilutyte aus Litauen wurde zwei Jahre lang in Plymouth im Rahmen des "Leander Swimming Programme" von Jon Rudd trainiert. Wie soll nun die Antwort auf die Frage lauten, welche Nation hier gewonnen hat? Sideris Tasiadis gewinnt im Kanu-Slalom Silber. Er hat griechische Eltern, was die Berliner Morgenpost zu der so überaus anspielungsreichen und hochoriginellen Schlagzeile "Ein Grieche muss Deutschland retten" veranlasste. Was uns jetzt quält: Muss dessen Medaille nun geteilt oder geviertelt werden? Um welche nationalen Aspekte geht es hier? Sind es die Gene, die Lebensbedingungen, die Fördersysteme des Sports oder doch eher in die Jahre gekommene, immer schon fatale Illusionen, die vordergründig den Spielanlass legitimieren?

Bereits diese müßigen bzw. kaum beantwortbaren Fragen machen klar, wie weitestgehend gegenstandslos die nationale Verortung von Sportleistungen ist. Sport und Nationalität sind ein flagranter Widerspruch, der das völlig verunglückte Apriori der modernen Spiele bestimmt. Eine Herrschaft, die sich dem Heldentum assoziieren will, liegt in der Logik faschistischer Regime, nicht in der von Demokratien. Die Verkoppelung von athletischer Überlegenheit mit der nationalen Herkunftsangabe ist selbst dann unplausibel, wenn sie mit einem Achselzucken oder Augenzwinkern erfolgt. Möge man zukünftig international zusammengesetzte Gladiatorentruppen ähnlich den großen Fußballclubs zu Identifikationsagenturen zusammenschmieden.

Die dem national hochgejazzten Sport folgende Heldenverehrung ist dagegen so fundamental falsch, dass deren Unwahrheit nur noch vom Staunen überboten wird, warum nicht längst die national definierte Institution "Olympia" ersatzlos gestrichen wurde. Entsprechend blass sind die Gesten, die das Nationale in seiner erträglichen Form beschwören. Der national sortierte Einlauf der Olympioniken in die Arena etwa inszeniert, was eben nur zu inszenieren ist. Niemand erklärt uns, wie man einen Menschen phänotypisch als Teil einer Nation sehen kann, wenn er eine sportliche Leistung vollbringt.

Unfair kommt manchmal weiter

Die deutsche Judoka Kerstin Thiele kassiert im Halbfinalkampf von ihrer chinesischen Gegnerin Chen Fei einen deftigen Schlag in das Gesicht. Ist diese abgerutscht oder verdient sie eine Strafe, wie es später der deutsche Trainer kommentiert? Die Szene sieht hässlich aus, der Fernsehreporter spricht zunächst von einem "gewissen Vorsatz", dann bei näherer Betrachtung von einem "klassischen Fausthieb", der in die Boxabteilung gehöre.

Allerdings wird man da auch nicht fairer behandelt. Der japanische Boxer Satoshi Shimizu schmetterte seinen aserbaidschanischen Gegner Magomed Abdulhamidov sechsmal - sportlich korrekt - auf den Boden, der daraufhin zum Sieger gekürt wurde. Der Boxweltverband der Amateurboxer korrigierte zwar die haarsträubende Entscheidung, die jede Fairness bis auf die Knochen korrumpierte. Doch viel pikanter ist dieser aberkannte Sieg vor dem Hintergrund des (selbstverständlich haltlosen) Gerüchts, Aserbeidschan habe zehn Millionen US-Dollar für zwei Medaillen an den Verband gezahlt.

Die Beispiele sind fast beliebig. Sie belegen die Tendenz, bis zum gerade noch oder schon nicht mehr Erlaubten vorzugehen, an der Grenze zur Strafe und Disqualifikation zu operieren, weil in der Logik solcher Kampfspiele der Sieg anders nicht zu erzielen ist. Das ist nicht als Ausnahme klein zu reden, sondern wie beim Doping stoßen wir hier auf die Strukturen des Sportbegriffs unreflektierter Leistungsgesellschaften. Der Vater der kulturwissenschaftlichen Spieltheorie Johan Huizinga beklagte lange vor solchen Exzessen, dass die olympischen Spiele keine kulturschöpferische Bedeutung mehr hätten, das Beste des Spiels ihnen längst ausgetrieben worden wäre. Der Ernst habe das Spiel zerstört, was Olympia phänomenologisch in das Zwischenreich einer Aggressionsform, gebildet aus Krieg, Kampf und Spiel, verschiebt.

Acht Badminton-Spielerinnen sollen laut Badminton-Weltverband WBF, aber auch den wütenden Publikumsreaktionen nach zu urteilen, absichtlich schlecht gespielt haben, um in der K.O.-Runde gegen schwächere Gegner aufgestellt zu werden. Jetzt sind sie rausgeflogen. Oder kämpfen sie inzwischen in der olympischen Schrödinger-Box, die Sieg oder Niederlage von der Unvorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen abhängig macht?

Inzwischen wissen wir sattsam genug, dass bei Olympia die Remonstration die Fortsetzung des Leistungssports mit anderen Mitteln ist. Witzig ist, dass nun im vorgenannten Beispiel die einen ihre strategisch verordnete Schwäche zugeben, weil es die anderen doch auch gemacht hätten, während diese wiederum hartnäckig leugnen. Hier atmen wir den wahren olympischen Geist tief ein. Regelhuberei, "Beschwerderitis", List und Tücke machen die Spiele erst so richtig rund. Der Wettkampf endet nicht im Rund der Arena, an der Wasserlinie oder Mattengrenze, wenn auch noch jenseits der juristische Schulterwurf bei voller Punktwertung gelingen kann. Fernab jeder echten menschlichen Größe wird die Prä- und Postproduktion des Siegs längst von einer synergetischen Medaillenbeschaffungsmaschine bestimmt, in der Sport, Medizin, Recht und Medien über Jahre so professionell wie zynisch zusammengeschaltet werden. Mit einem olympischen Lächeln für die Ränge ist diese Art von imperialistischer Medaillenaneignungspolitik nicht mehr wettzumachen.

Aber es geht doch um die Völkerverständigung! Wie verständigt man sich eigentlich unter Freunden, wenn einer sagt: "Ich kann es besser als du! Und das ist jetzt auch amtlich!" Dass "Dabeisein" alles ist, wird durch die allfälligen Reaktionen der Sportler selbst gründlich widerlegt. Sie heulen, lamentieren, neiden es ihren Gegnern und beschweren sich ohne Ende über Entscheidungen - mit und ohne Hilfe ihrer Funktionäre. Natürlich sind Gefühle erlaubt. Doch solche Erregungen sind kein Drama, das ist nicht packend oder spannend, wie es uns sommerlochverängstigte Medien weismachen wollen. Das sind triviale, älteste Instinkte, oft kaum von infantilen Wutreaktionen zu unterscheiden, die über das rein Menschliche nur insoweit hinausgehen, als es schließlich auch noch um das Geschäft geht.