Schafft doch gleich die Noten ab!
Seite 2: Teil 2: Vorrücken um jeden Preis
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Ein anderes Beispiel ist die ebenso seltsame wie gespenstische Debatte um "Sitzenbleiber". Angestoßen hatte sie vor Jahren schon mal die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange, als sie Wiederholen für pädagogisch unsinnig und reine Zeitverschwendung erklärte. Inzwischen hat dieser Diskurs auch Parteien und Massenmedien erreicht. So hat jüngst die Fraktionschefin der Grünen im westfälischen Parlament, Sylvia Löhrmann, Sitzenbleiben erneut als "Verschwendung kostbarer Ressourcen" bezeichnet und darauf verwiesen, dass eine "Ehrenrunde" dem Steuerzahler pro Jahr 3.500 Euro koste.
Auch der Kollege von der ZEIT hat vor ein paar Tagen in einem Leitartikel verlangt, dass Schüler fortan nicht mehr dem "reformfaulen Schulsystem geopfert werden dürften". Eine Klasse zu wiederholen sei "pädagogisch fragwürdig". Dem schwachen Schüler werde nicht geholfen, wenn man ihn "aus der Klassengemeinschaft reiße und ihm das Stigma des Scheiterns anhefte".
Aufhänger für diese Behauptung ist wieder mal die Feststellung, dass kein anderes Bildungssystem auf der Welt so viele Wiederholer (etwa 250.000 Schüler jährlich) produziere wie das deutsche. Jeder vierte Schüler bleibe bis zur zehnten Klasse einmal hängen. Weitere zehn Prozent würden vor ihrer Einschulung um ein Jahr zurückgestellt, blieben nach Meinung des Leitartiklers also sitzen, bevor sie die Schule überhaupt begonnen hätten.
Warum Kinder zurückgestellt werden (sprachliche, kognitive, soziale, entwicklungspsychologische Defizite) oder warum viele Schüler eine Klasse wiederholen, den Schultyp wechseln oder ohne Abschluss die Schule verlassen, darüber verliert der Meinungsmacher kein Wort. Überforderung, Leistungsunwillen, Zuteilungsfehler, intellektuelle Grenzen etc. dafür verantwortlich zu machen, würde nämlich etliche Selbstgewissheiten in Zweifel ziehen, von denen das Bildungswesen randvoll ist.
Genau das möchten aber die meisten Kommentatoren nicht. Und zwar quer durch alle Medien. Statt unangenehme Wahrheiten auszusprechen und damit etliche Buhrufe zu ernten, folgen sie lieber dem modischen Diskurs. Und anstatt sich besser zu informieren, pflegen sie lieber ihre Vor-Urteile, lästern über das deutsche Bildungssystem und bezeichnen es als eine Kultur des Aussonderns, Abschiebens und Aussortierens.
Fatale Strategien
Auf andere Bildungssysteme zu verweisen, die es laut PISA besser können als das hiesige, ist inzwischen zu einer bewährten Strategie geworden. Bei Journalisten und Politikern genauso wie bei Kultusbeamten und professionellen Erziehern. Wer aber diese lobt, spricht entweder nur die halbe Wahrheit oder verschweigt die Schattenseiten.
Von Finnland, dem Sieger von PISA und mittlerweile Lieblingsreiseland aller deutscher Bildungstouristen, ist beispielsweise nicht bekannt, dass es dort schon zu einem Ausstoß von Nobelpreisträgern, Künstlern und Wirtschaftsführern gekommen wäre oder das Land an einem Braindrain von Spitzenkräften litte. Auch ist nicht bekannt, dass finnische Firmen oder Patente den Weltmarkt aufmischten und neu sortierten. Dagegen wissen wir aber, dass unser nordischer Nachbar eine der weltweit höchsten Alkoholiker- und Selbstmordraten besitzt.
So falsch und bewusst irreführend es ist, auf andere Länder zu verweisen, bei denen angeblich alles besser ist, genauso falsch ist es, die Versagenserlebnisse beim Sitzenbleiben besonders drastisch zu malen. Vielleicht können sich das grüne Politikerinnen und Zeit-Autoren nicht vorstellen - aber eine Ehrenrunde zu drehen und sich auf diese Weise ein Sabbatjahr zu gönnen, ist alles andere als anstößig. Eine Auszeit zu nehmen und Versäumtes nachzuholen, ist durchaus ehrenwert. Wer diese Erfahrung in seiner Schülerzeit einmal gemacht hat, wird bestätigen, dass er deswegen im Leben alles andere als zurückgefallen ist. Es ist schon bezeichnend, dass ausgerechnet Grüne und Liberale den Kostenfaktor in den Vordergrund schieben und (scheinheilig) die seelischen Folgen des Sitzenbleibens überhöhen.
Informationsdefizit
Hinzu kommt, dass beide sich schlecht informiert zeigen. Mittlerweile ist dieses Mem in den Kultusbehörden angekommen. Zwar werden auch weiter Schüler eine Ehrenrunde einlegen müssen, wenn sie in mehreren Fächern mangelhafte Leistungen erbringen. Doch ist es inzwischen sogar Gymnasiasten (ab nächsten Schuljahr) im "gestrengen Bayern" erlaubt, bei bis zu drei Fünfern im Endzeugnis mit Beginn des neuen Schuljahres eine Nachprüfung abzulegen oder bei zwei Fünfen oder einer Sechs auf Probe vorzurücken. Eine weitergehendere Liberalisierung konnte der Philologenverband vorerst noch mal abwenden.
An Hauptschulen (die Grenze lag bislang bei vier Fünfen) ist das Sitzenbleiben faktisch verschwunden. Die Noten bei manchen Schülern sind so schlecht, die Defizite so groß, dass ein Wiederholen der Klasse keinerlei Sinn mehr machen würde. Sie werden mittlerweile mit dem Vermerk "aus pädagogischen Gründen" versetzt oder ohne jegliche Notengebung in die nächsthöhere Klasse geschoben.
An den Grundschulen wiederum, wo das Wiederholen oder Zurückstellen am meisten Sinn machen würde (primär in den ersten beiden Jahren), weil man dort am einfachsten und schnellsten Defizite im Schreiben, Lesen oder Rechnen nachholen oder beheben könnte, ist das Sitzenbleiben schon wegen des Fehlens von Noten quasi ausgesetzt.
Bildungsrealitäten
Damit keine Missverständnisse in der Bildungsdebatte aufkommen: Es muss gefördert und es müssen sprachliche und andere Mängel ausgeglichen werden, wo immer es möglich ist. Als heilsam könnte sich aber erweisen, dass im Förderwahn der Reformwilligen der Sinn für die Realitäten nicht aus dem Blick gerät. Trabis, Löwenzähne oder Ackergäule lassen sich nur bedingt und zu einem gewissen Maß auftunen. Manta-Fahrer wissen das. Ferraris, Rosen oder Rennpferde werden sie daraus aber nicht. Man kann vielleicht die Maßstäbe ändern, Ansprüche, Wertungen und Urteile, aber nicht die Dinge selbst. Sie sind nun mal, wie sie sind.
Und gewiss ist Sitzenbleiben nicht immer und unbedingt angenehm. An die nächstniedrigere Schule weitergereicht zu werden, ist und bleibt eine Blamage für die Betroffenen. Weit schlimmer und teurer ist es jedoch, wenn der Staat sein Hoheitsrecht (Zuteilung, Selektion) und seine Fürsorgepflicht mangelhaft ausübt, wenn er also Schülerströme aus falsch verstandenem Humanismus fehl leitet, steuert und lenkt und damit Kinder, Jugendliche und Jungerwachsene in die falsche Richtung leitet. Dadurch werden Ressourcen verschleudert, nicht durch Ehrenrunden, Sabbatjahre oder Auszeiten.
Schließlich lassen sich Talente und Eliten nicht wie Kaninchen züchten oder beliebig vermehren. Sie schlummern nicht irgendwo als verkannte Künstler oder Genies in den sozialen Umwelten herum. Die Gausssche Normalverteilung fällt nicht vom Himmel. Sie durchzieht alle Kulturen, Nationen und Rassen. Sie auszuhebeln und den Grenzen der Natur ein Schnippchen zu schlagen, geht nur um den Preis des Selbstbetrugs. Der allerdings, das wussten schon die Dialektiker der Aufklärung, ist hier zu Lande, vor allem bei Intellektuellen und anderen geistigen Eliten, besonders beliebt. Zumindest auf diesem Gebiet ist Deutschland immer noch Spitze.