Schlimmer als die Leprakolonie in Pakistan: Peeping Tom, der Film zum Runterspülen

Peeping Tom

Ende einer Karriere: Michael Powell und Peeping Tom - Teil 3

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Teil 2: Das Königreich in Gefahr: Spione, Horror-Comics und der Klebstoffmann

„Es gibt keinen britischen Regisseur mit so vielen das Ansehen lohnenden Filmen auf dem Konto wie Michael Powell.“ Das ist der erste Satz, den David Thomson in seinem Biographical Dictionary of Film über Powell schreibt. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Satz im Buch eines britischen Autors steht, den der eigene Karriereweg in die USA führte. Denn bis zu seiner Wiederentdeckung galt der unabhängige, unangepasste und allzeit unberechenbare Powell, ein Anarchist im Tweedjackett, im eigenen Land nur wenig. Im Vereinigten Königreich wurde er lange auf eine Fußnote der Kinogeschichte reduziert, weil dort Kritiker den Ton angaben, die Filme an den eigenen Erwartungen maßen statt hinzuschauen, was da ist und sich dann ein Urteil zu bilden. Der Skandal um Peeping Tom zerstörte nicht nur Powells Karriere, er hätte auch eines der großartigsten Kapitel in der Geschichte des britischen Kinos tilgen können.

Die Kloaken von Kalkutta

Eigentlich ging alles sehr gut los, denn die Fachorgane der Kinobranche äußerten sich durchweg positiv. Der Rezensent des Branchenblattes Daily Cinema (1.4.1960) gab die allgemeine Stimmung wieder, wenn er schrieb:

[Peeping Tom] hat ein unangenehmes Thema, aber doch auch eines, das sehr spannungsgeladen ist. Michael Powell, dieser äußerst erfahrene Filmemacher, hat ihn mit einem Maximum an technischer Exzellenz und der ganzen Qualität ausgestattet, wozu er fähig ist. […] Es gibt nicht zu viele Horror-Momente, weil es das Thema selbst ist, das für die emotionale Wucht sorgt.

Aber als Peeping Tom im April 1960 im Plaza Kino, gleich um die Ecke vom Piccadilly Circus, Premiere hatte, erlebte Powell ein Fiasko. Er und sein Hauptdarsteller Karlheinz Böhm erinnerten sich noch Jahrzehnte später daran, wie sie nach der Filmvorführung wie Aussätzige im Foyer des Plaza standen und alle an ihnen vorbeigingen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Anschließend machten die Kritiker ihrer Empörung Luft. Am häufigsten wird Derek Hill zitiert, der offenbar die Zeit für gekommen hielt, mit einem Regisseur abzurechnen, über den er sich in der Vergangenheit immer wieder geärgert hatte, ohne das zu deutlich sagen zu wollen, als Powell noch für die Branchenriesen Rank und Korda arbeitete. Viele Kritiker waren dann besonders mutig, wenn es gegen die Kleinen wie die Anglo-Amalgamated ging, die Produktionsfirma von Peeping Tom (das gilt übrigens auch für Zensoren). Herr Hill also schrieb in der Tribune:

Die einzig wirklich befriedigende Art, sich des Films Peeping Tom zu entledigen, würde darin bestehen, ihn aufzuschaufeln und ihn rasch in die nächste Kloake hinunterzuspülen. Und sogar dann würde noch der Gestank zurückbleiben. […] Es ist keine Überraschung, dass es sich um ein Werk von Michael Powell handelt, der seine Vulgarität bereits in solchen Filmen wie A Matter of Life and Death, The Red Shoes und Tales of Hoffmann zur Schau gestellt hat, und die bizarreren Tendenzen seines seltsamen Hirns in A Canterbury Tale, wo die Geschichte darin bestand, dass Eric Portman den Mädchen Leim in die Haare schüttete. In Peeping Tom geht er mit seiner Selbstentblößung sogar noch weiter. Er spielt nicht nur den sadistischen Vater, sondern benützt sein eigenes Kind als dessen Opfer.

Der kommunistische Daily Worker hatte zunächst gegen die „amerikanischen Comics“ gewettert (Kulturimperialismus), dann gegen die „Horror-Comics“ (dasselbe) und schließlich gegen Frankenstein und Dracula (auch irgendwie so ähnlich). Jetzt prügelte die Filmkritikerin Nina Hibbin auf Powell ein:

Offensichtlich will Michael Powell mit Peeping Tom schockieren. In einer Hinsicht war er damit erfolgreich. Ich war schockiert bis ins Mark, als ich entdecken musste, dass ein Regisseur seines Ranges die Leinwand mit so einem pervertierten Unsinn beschmutzt. Der Film suhlt sich in den kranken Trieben eines mordlustigen Perversen und romantisiert auch noch seine pornographische Brutalität. Unter Einsetzung aller Tricks verwendet er faule Kinoschwindeleien und laute Orchestermusik [es gibt Klaviermusik und Bongotrommeln], um eine verderbte und entwürdigende Atmosphäre anzuheizen. Der Film beutet sogar den Schrecken eines gequälten Kindes aus. Von der schlummernden, noch zurückgenommnen Wollust am Anfang bis zu seinem masochistischen und verderbten Höhepunkt ist er durch und durch böse.

In allen politischen Lagern war man sich einig wie nie zuvor. „Peeping Tom“, schrieb William Whitebait im New Statesman, “stinkt mehr als alles andere im britischen Kino seit [der Hammer-Produktion] The Stranglers of Bombay.“ Dilys Powell, Kritikerin der Sunday Times, konnte zunächst kaum glauben, dass der Regisseur von A Matter of Life and Death diesen ekligen Film gedreht hatte, aber:

Dann erinnert man sich, dass Michael Powell sogar in seiner besten Periode seine Fähigkeiten plötzlich in den Dienst einer Geschichte über einen Irren stellte, der jungen Mädchen Leim über die Haare schüttete. Hier ist er über den Leim weit hinausgegangen. Er ist jetzt beim verborgenen Messer angekommen, das liebevoll in einen Hals gegraben wird, beim Voyeur mit Toneffekten, bei einem Brechreiz erzeugenden Hervorkehren der Präliminarien und der Praxis des Sadismus – und ich meine damit auch Sadismus. Er hat Peeping Tom nicht geschrieben, aber von der Verantwortung für diesen in seinem Wesen bösartigen und gemeinen Film kann er sich nicht reinwaschen.

Leo Marks, der Drehbuchautor, erinnert sich, dass er nach der Premiere von Dilys Powell abgekanzelt wurde wie ein kleiner Junge. David Robinson durfte gleich zweimal seinem Ekel Ausdruck verleihen, weil er sowohl für die Financial Times wie für das Monthly Film Bulletin des BFI schrieb. Auch er erkannte Einflüsse des Marquis de Sade, dessen Werke er scheinbar gut kannte:

Jeder Zweifel daran, dass dies ein authentischer Sadistenfilm ist, lässt sich durch den Verweis auf die 120 Journees de Sodome, insbesondere Teil IV und die Mörderischen Leidenschaften Nr. 41 und 46 zerstreuen. Überraschend ist nur, dass es innerhalb der kommerziellen Filmindustrie möglich ist, Filme wie Peeping Tom zu produzieren, während hierzulande die Bücher des Marquis nach 200 Jahren immer noch verboten sind. De Sade verschleierte wenigstens sein Vergnügen, indem er vorgab, ein Moralist zu sein.

Für Isobel Quigly (The Spectator) war Peeping Tom „der kränkste und schmutzigste Film”, den sie ihrer Erinnerung nach je gesehen hatte. Angewidert war auch C.A. Lejeune (The Observer), die sich weigerte, die Namen der Mitwirkenden zu nennen (nur bei Powell, dem Hauptschuldigen, machte sie eine Ausnahme). Am Ende dieses kleinen Pressespiegels soll noch der Weltreisende Len Mosley vom Daily Express zitiert werden, weil er für die globale Perspektive sorgt, sogar den Masochisten von einem Besuch des Films abrät und nebenbei noch verrät, dass Ms. Lejeune Peeping Tom offenbar nicht ganz gesehen hatte, als sie ihn im Observer verriss:

In den vergangenen dreieinhalb Monaten habe ich mein von der Reise schmutzig gewordenes Gerippe zu einigen der dreckigsten, wie eine eiternde Wunde verfaulenden Slums in Asien gekarrt. Aber nichts, nichts, nichts – weder die hoffnungslosen Leprakolonien von Ost-Pakistan, noch die Seitenstraßen von Bombay und auch nicht die Kloaken von Kalkutta – haben bei mir ein solches Gefühl der Übelkeit und der Depression erzeugt wie jenes, das mich diese Woche überkam, als ich einen neuen britischen Film mit dem Titel Peeping Tom durchsaß. Von Bestrafung kann ich kaum genug kriegen, und ich gehe bei Filmen und Theaterstücken nie vorzeitig, ganz egal wie übelriechend sie sind. Aber ich muss gestehen, dass ich meiner berühmten Kollegin Miss Caroline Lejeune fast gefolgt wäre, als ich sie sagen hörte: „Mich ekelt das an!“, worauf sie wütend das Kino verließ. […] Mr. Michael Powell (der einst so herausragende Filme wie Black Narcissus und A Matter of Life and Death drehte) hat Peeping Tom produziert und inszeniert, und ich finde, dass er sich schämen sollte. Die Schauspieler sind gut. Der Film ist gut photographiert. Aber was ist das Resultat, das ich auf der Leinwand gesehen habe? Sadismus, Sex und die Ausbeutung menschlicher Entartung.

Mosley, Lejeune & Co. würde ich gern einen Spiegel kaufen. Die Peeping Tom unterstellte Bösartigkeit steckt in ihren Texten. Bei der Lektüre dieser Verrisse könnte man glauben, unter den britischen Kritikern sei damals eine Massenhysterie ausgebrochen. Niemand muss einen Film mögen, in dem der Held Frauen tötet und beim Sterben filmt. Man darf aber von Kritikern erwarten, einen Film grundsätzlich ernst zu nehmen und sich genau anzuschauen, was da ist, bevor sie ein Urteil fällen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung müsste einem auffallen, dass Peeping Tom von Leuten gemacht wurde, die sich bisher nicht dem Verdacht ausgesetzt hatten, zynische Geschäftemacher zu sein, die viel Geld verdienen wollten, indem sie die niederen Triebe des Publikums ansprachen.

Verkommener Stilist

Michael Powell war der Regisseur von etwa einem Dutzend der wichtigsten, das britische Kino aus seiner Provinzialität holenden Filme der vergangenen 20 Jahre. Die Musik zu Peeping Tom ist von Brian Easdale, Oscar-Preisträger (für The Red Shoes) und einer der herausragenden britischen Filmkomponisten der 1940er und 1950er. Für das Produktionsdesign war der Oscar-Preisträger Arthur Lawson verantwortlich (ebenfalls für The Red Shoes). Der Kameramann Otto Heller musste jedem, der mit Filmkritik sein Geld verdiente, ein Begriff sein, weil er mit The Ladykillers (1955) an einem der am besten photographierten Farbfilme der 50er mitgewirkt hatte. Die Prima Ballerina Moira Shearer, die eines der Opfer spielt, war durch The Red Shoes zum Weltstar geworden und hatte nie einen Anlass geliefert, an ihrer künstlerischen Integrität zu zweifeln. Anna Massey, die Darstellerin der Helen, war die Tochter von Powells Freund Raymond Massey und galt nach ihrem umjubelten Auftritt im Stück The Reluctant Debutante als große Nachwuchshoffnung der britischen Bühne. Ihre Mutter im Film, Maxine Audley, war eine damals schon gefeierte Shakespeare-Darstellerin und hatte in bedeutenden Inszenierungen von Laurence Olivier mitgewirkt (in Chaplins A King in New York ist sie die Königin).

Peeping Tom war ein britischer Qualitätsfilm erster Güte – allerdings nicht in den Augen der Kritiker, deren Zunft seit über 30 Jahren „Qualität“ mit „Realismus“ verwechselte. Ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstzufriedenheit Filme schon allein deshalb verdammt werden, weil sie sich einem übel beleumundeten Genre wie dem Horrorfilm zuordnen lassen. Aber dumme Vorurteile, Provinzialität und Banausentum können die Vehemenz und die Einmütigkeit, mit denen auf Powell verbal eingedroschen wurde, nicht ausreichend erklären. Denn auch die wenigen Kritiker, die sonst immer zur Stelle waren, wenn es galt, die neueste Hammer-Produktion gegen die Anwürfe der Geschmacksrichter in Schutz zu nehmen, gaben Peeping Tom zum Abschuss frei. Wie konnte es also sein, dass 1960 alle applaudiert hätten, wenn ein inzwischen als Meisterwerk des britischen Kinos anerkannter Film im Klo hinuntergespült worden wäre (und der Regisseur gleich mit dazu)? Was unterscheidet Peeping Tom von den Hammer-Filmen, die zwar beschimpft und gelegentlich zensiert, insgesamt aber doch geduldet wurden?

Die Antwort findet sich im Verriss von Dilys Powell, die sich im Lauf der Jahre zu einer Kritikerin von Format entwickelte, später als einzige öffentlich bedauerte, an der Hexenjagd teilgenommen zu haben und zugab, sich geirrt zu haben. 1994 schrieb sie anlässlich einer Wiederaufführung von Peeping Tom:

1960, als [Powell] einen Horrorfilm drehte, hasste ich diesen Film, und zusammen mit sehr vielen anderen britischen Kritikern sagte ich das auch. Heute bin ich überzeugt, dass Peeping Tom ein Meisterwerk ist. Falls es irgendein Leben nach dem Tod gibt, in dem es gestattet ist, sich zu unterhalten, werde ich es als meine Pflicht ansehen, Michael Powell aufzusuchen und mich zu entschuldigen. […] Wenn ich jetzt lese, was ich 1960 geschrieben habe, stelle ich fest, dass, trotz des Bemühens, meinen Abscheu auszudrücken, fast alles, was ich damals sagte, die außerordentliche Qualität des Films verbirgt.

In der Sunday Times hatte sie 1960 geschrieben:

Vielleicht wäre man von dieser Übung in den niederen Regionen des Psychopathischen nicht so unangenehm berührt, wenn die Selbstentwürdigung auf eine ungehobeltere, weniger geschliffene Weise vonstatten gehen würde. Schließlich verschwendet man nicht viel Ärger an die Draculas und die Mumien und die Strangulierer der letzten paar Jahre; das Zungeabhacken und das Blutsaugen können, mögen sie auch noch so eklig sein, oft als lachhaft abgetan werden. Peeping Tom ist etwas anderes. Den Film hat ein kunstfertiger und sensibler Regisseur gedreht: der Regisseur, dessen mutiges und forschendes Auge uns die großartige Camera Obscura-Sequenz in A Matter of Life and Death geschenkt hat, und die Sequenz, in der die Trage in den Operationsraum gebracht wird. Es ist derselbe Blick des Stilisten, der jetzt hin und wieder das Foltererzeug in dem neuen Film aussehen lässt wie den echten Stoff der Phantasie, den Horror eines Edgar Allan Poe, und nicht wie das Vulgäre und das Verkommene, um das es sich wirklich handelt.

Und hier, zum Vergleich, ein Stück aus Derek Grangers Verriss zur Hammer-Produktion The Curse of Frankenstein, der 1957 in der Financial Times erschien:

Nur der traurigste aller Einfaltspinsel, möchte man meinen, könnte noch einen wirklich befriedigenden Schauder bekommen. Für den Rest von uns sind [Horrorfilme] schlicht zu einer exzentrischen und spezialisierten Form der Unterhaltung geworden, und möglicherweise ein nützliches Mittel, mit dem Hausfrauen die Qualen des Einkaufens lindern.

Herr Granger, heißt das, ist kein Einfaltspinsel. In solchen Kritiken wird fast immer eine Zweiteilung des Publikums vorgenommen. Es gibt erwachsene, vernünftige, über einen guten Geschmack verfügende Zuschauer, die – wie die Kritiker – die Hammer-Produktionen ablehnen oder sie wenigstens nicht ernst nehmen. Die wahren Filmliebhaber. Und es gibt die anderen: unreife, nie erwachsen gewordene, unter Geschmacksverirrung leidende Kinogeher. Die Bandbreite reicht von ungebildeten Hohlköpfen über Frauen (sowieso infantil) bis zu Perversen. Die Zweiteilung wird auch von denen nicht in Frage gestellt, die Horrorfilme mögen. Typisch ist Paul Dehn, der im Daily Herald erst ein Geständnis ablegen musste, bevor er sich traute, Frankenstein gut zu finden. Das war nur möglich, indem er sich zu den Kindern, zu den Dummköpfen und zu denen bekannte, die auf Bilder angewiesen sind, weil sie schlecht lesen können:

Wenn Titel wie The Curse of Frankenstein gruselig durch den zusammengerührten Rauch, das Blut und die Flammen der Leinwand im Warner-Kino kommen, setze ich meine Brille auf, entziffere sie mühsam, lächle und sage: „Ist ja toll.“ Ich weiß, dass es unkritisch ist, so etwas zu sagen, noch bevor der Film überhaupt angefangen hat, aber ich kann nichts dagegen machen. Monster sind meine Sucht und meine Nahrung.

Bei Peeping Tom funktionierten die Ausgrenzungsmechanismen nicht mehr. Michael Powell war ein ausgewiesener Meisterregisseur und keiner, der zynische Kommerzprodukte zynisch herunterkurbelte. Trotz des geringen Budgets (etwa 125 000 Pfund) hatten er und seine Mitarbeiter einen Film gedreht, der wirkte, als habe ihn ein großes Studio hergestellt. Vor allem aber spielte Peeping Tom erkennbar im London der Gegenwart. Karlheinz Böhm wohnt nicht in einer Burg in Transsylvanien, sondern in einem sehr bürgerlichen Haus in Kensington; statt des Capes von Graf Dracula trägt er einen Dufflecoat wie damals viele junge Leute; und er ist nicht mit einem Leichenwagen unterwegs, sondern mit einer Vespa. Die genretypischen Elemente, dank derer sich Horrorfilme leicht identifizieren und verächtlich machen ließen, fehlten. Powell erzählte die Geschichte eines Frauenmörders, verweigerte formal jedoch die Hinweise, die signalisiert hätten, dass sich sein Film an ein bestimmtes Publikumssegment richtete, die Horrorfans. Das war verunsichernd.

Wahnsinn für alle

Als Powell vorschlug, den Film Peeping Tom zu nennen, hatte Leo Marks Bedenken, weil er fürchtete, dass dieser Titel die falschen Leute anziehen werde. Powells Antwort: „Dann holen wir eben die falschen Leute genauso ins Kino wie die richtigen.“ In dieser Absicht ging er an die Arbeit. In „The Face of Horror“, seiner 1958 erschienenen Abrechnung mit den Hammer-Filmen, ereiferte sich Derek Hill noch über „die alarmierende Parade der Perversen und der Verrückten in den Schlangen vor den Kinos und in den Foyers“. Das Publikum von Christopher Lee und Peter Cushing fand er bedrohlich, und doch war er beruhigt, weil er seinen Artikel in dem Bewusstsein schrieb, zu den „richtigen Leuten“ zu gehören. Wenn Kritiker wie Hill The Curse of Frankenstein oder Dracula sahen, fühlten sie sich wie ein Anthropologe bei den Kannibalen oder ein Soziologe im Elendsviertel. Bei Powell, der „Widerstandsbewegung innerhalb der Filmindustrie“ (Marks), gelang das nicht. Dafür wurde er abgestraft. Peeping Tom wurde nicht mit Fäkalien, Geisteskrankheiten und der Leprakolonie verglichen, weil die Kritiker den Film nicht verstanden. Sie hatten zu gut verstanden, worum es Powell ging – wenn auch vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Isobel Quigly benannte recht gut, was Peeping Tom so skandalös machte:

Hochglanz-Horror hatten wir vorher auch schon […], aber noch nie einen so geschickt eingeflößten, unter die Haut gehenden Horror, und noch nie einen sich so einschmeichelnden Versuch, es aussehen zu lassen, als sei das kein Film für die Verrückten, sondern für ganz normale, einfache Kinogeher wie Sie und mich.

Powells Verbrechen bestand daran, dass er für die Nicht-Verrückten einen Film über einen Verrückten gedreht hatte. Für Isobel Quigly war das scheinbar so unerträglich, dass sie sich und ihren Lesern versichern musste, dass Peeping Tom doch ein – heimtückisch bemäntelter – Film für die Irren sei. Und die Irren versuchte man nicht zu verstehen, man sperrte sie weg. Das widerfuhr dann auch Peeping Tom. Powell seziert die Mechanismen des Filmemachens und der Kinoerfahrung, legt die dunklen Seiten der Kinematographie bloß. Gleichzeitig spürt man bei jeder Einstellung die große Zärtlichkeit, die er dem Medium gegenüber empfand. Mit derselben Zärtlichkeit behandelt er Mark Lewis, der nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Filmemacher ist, ein Künstler. Weil Powell auf ein paar unangenehme Wahrheiten aufmerksam machte und sich weigerte, zu verdammen, wurde er selbst verdammt.

Der Film beginnt in alter Archers-Manier mit dem Pfeil, der in das Zentrum einer Zielscheibe fliegt. Nur Emeric Pressburger wird nicht genannt, obwohl er indirekt beteiligt ist, weil Peeping Tom Themen aus The Red Shoes und Tales of Hoffmann wieder aufnimmt und konsequent zu Ende denkt. Dann füllt ein sich öffnendes Auge die Leinwand, und damit wird die erste, nicht eindeutig zu beantwortende Frage gestellt. Ist es das Auge des Regisseurs Michael Powell, der uns nun seine Sicht auf die Welt zeigen wird? Das Auge des Helden, der einen Film im Film dreht? Oder ist die Leinwand zum Spiegel geworden? Dann würde sie nur unseren Blick zurückwerfen, würde das Auge uns gehören, die wir wie Voyeure (Peeping Toms) im dunklen Vorführraum sitzen und auf das Spektakel warten, das uns dort geboten wird. Viele Anekdoten aus der Frühgeschichte des Films, als man sich noch an das neue Medium gewöhnen musste, erzählen davon, wie beunruhigend die leere Kinoleinwand ist, die uns anzustarren scheint, uns die Rolle des Beobachters streitig macht. Zur Beruhigung des Publikums wurde die leere Leinwand deshalb hinter einem Vorhang versteckt. Bis heute ziehen traditionsbewusste Vorführer den Vorhang erst zur Seite, wenn die ersten Bilder über die Leinwand laufen, sie also gefüllt und nicht mehr leer ist.

Eine Totale zeigt, wo wir uns befinden. Eine finstere Straße im Rotlichtviertel, gefilmt in Eastmancolor. 1960 hatten auch diese Farben etwas Verunsicherndes. Hammer hatte The Curse of Frankenstein in Eastmancolor gedreht, war aber schon bei Dracula zu Technicolor übergegangen. Technicolor galt als besonders künstlich, sorgte somit für Distanz zwischen Publikum und Leinwand. Im Spielfilm verband man die satten Farben mit der Vergangenheit, exotischen Schauplätzen, Kostümen aus einer anderen Zeit. Eastmancolor wirkte dagegen grell und schmutzig, erinnerte an die Umschläge von billigen Kriminalromanen und die Cover von Pornoheften. Wir befinden uns in Soho und wohnen der Anbahnung eines Geschäfts zwischen einer Hure und einem Freier bei. Sollten da noch Zweifel bestehen, ob so etwas in dieser Direktheit vorher schon in einem britischen Spielfilm zu sehen war, werden sie bald zerstreut sein.

Spülstein-Realismus

Den Freier sollte ursprünglich Laurence Harvey spielen. Powell hatte ihm die Rolle zu einer Zeit angeboten, als ihn fast nur Theatergänger kannten. Aber dann wurde er mit Room at the Top (1959), einem der ersten Spielfilme der britischen New Wave, zum Star und unterschrieb einen Vertrag in Hollywood. Die New Wave ging aus dem Free Cinema hervor, einer Bewegung, die von 1956 bis 1959 im National Film Theatre sehr einflussreiche Filmvorführungen veranstaltete und einen dokumentarischen Realismus progagierte. Die Exponenten des Free Cinema – Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson – drehten anschließend Spielfilme, die ebenfalls den dokumentarischen Ansatz verfolgten. Das den Werken der New Wave angeklebte Etikett beschreibt sie sehr gut: „kitchen sink realism“. Es sagt aber auch, dass die Neue Welle von Anfang an recht alt war, denn sie knüpfte an den bereits erwähnten John Grierson und den britischen Dokumentarfilm der 1930er an, jetzt eben mit Spielhandlung.

Grierson hatte programmatische Texte geschrieben, in denen er die Schaffung einer Nationalkultur forderte. Der dokumentarische Film über „normale Leute“ war für ihn ein Mittel, die nationale Einheit zu erreichen. Zu weit sollte es aber auch nicht gehen mit der Einheit. Mit „normal“ ist fast immer die Arbeiterschicht gemeint. Die von Grierson geprägten Filme nehmen eine Zweiteilung vor, die mit jener vergleichbar ist, mit der man versuchte, den Horrorfilm in den Griff zu kriegen. Der Mittelschicht wird mit den Mitteln der bürgerlichen Ästhetik vom harten Leben der Arbeiter berichtet. Damit bleibt der Sicherheitsabstand gewahrt. Letztlich gilt das auch für die Spielfilme der New Wave. In Room at the Top spielt Harvey einen jungen Mann aus dem Arbeiterviertel, dem der gesellschaftliche Aufstieg gelingt, indem er die Tochter des Chefs heiratet. Diesen Aufstieg bezahlt er mit Emaskulierung und Domestizierung.

Interessanterweise waren viele von den Kritikern, die Peeping Tom in Grund und Boden schrieben, von Room at the Top begeistert. Dieselben Leute, die Lobeshymnen auf die Regisseure der New Wave sangen, weil sie angeblich ein ungeschminktes Bild der Wirklichkeit zeichneten, scheinen nicht bemerkt zu haben, wie genau Peeping Tom die Mechanismen der britischen Klassengesellschaft registriert. Offenbar konnte sich auch niemand daran erinnern, dass Powell schon immer an Originalschauplätzen gedreht hatte (bei Peeping Tom setzt er das fort), was bei Room at the Top gefeiert wurde, als sei das Rad neu erfunden worden. Ich erkläre mir das so, dass diese Kritiker die Wirklichkeit mit der ästhetischen Kategorie des „Realismus“ gleichsetzten, und mit der in diesen seit den 1930ern eingeschriebenen Unterscheidung zwischen „wir“ (die Mittelschicht) und „die anderen“ (die Arbeiterklasse). Peeping Tom nützt jede Gelegenheit, klare Abgrenzungen aufzuheben, und das war genauso unerwünscht wie die kritische Hinterfragung des Mediums Film. Wenn man behauptet, dass der realistische Film die Wirklichkeit authentisch abbildet, will man nicht an das Instrumentarium erinnert werden, mit dessen Hilfe das geschieht. Man könnte dann nämlich auf den Gedanken kommen, dass auch der „Realismus“, der Liebling von Generationen britischer Kritiker, nur ein ästhetisches Konstrukt ist.

Sehr wichtig für den dokumentarisch geprägten Film der 1950er und 1960er war die Entwicklung neuer, leicht handhabbarer Kameras, mit denen man ohne große Vorbereitung und außerhalb der Studios drehen konnte. Die dem cinéma vérité, dem direct cinema verpflichteten Regisseure taten so, als belauschten sie für uns die Wirklichkeit. Powell zeigt, dass das gar nicht möglich ist, weil sich das Beobachtete durch den Akt des Beobachtens sofort verändert. Und er zeigt die Gewalt, die mit diesem Beobachten verbunden ist (das Licht des Scheinwerfers an Marks Kamera trifft die Gefilmten wie ein Schlag). Wir erleben das gerade bei der Diskussion um die mit phallisch emporragenden Apparaturen versehenen Kameraautos von Google Street View – ein Projekt, das viele als eine visuelle Vergewaltigung empfinden, als ein Eindringen in ihren Intimbereich. Wer intensiver darüber nachdenken will, sollte sich Peeping Tom anschauen.

Peeping Tom

Mark Lewis hat ständig seine 16mm-Kamera dabei, die fast zu einem neuen Körperteil geworden ist (sehr deutlich wird das, wenn ein Teil des Stativs vor einem der Opfer aufragt wie ein eregiertes Glied). Die Prostituierte Dora sehen wir durch das Objektiv dieser Kamera. So macht uns Powell darauf aufmerksam, dass da einer ist, der den Apparat bedient, den Bildausschnitt bestimmt und festlegt, wie der abgefilmte Körper zerteilt wird. Das Zerschneiden von Körpern, diesen unheimlichen Aspekt der Kinematographie, nehmen wir kaum mehr wahr, weil wir uns daran gewöhnt haben und er durch die von Hollywood perfektionierten Regeln des „unsichtbaren Schnitts“ (invisible editing) kaschiert wird. Powell macht die Zerstückelung wieder sichtbar, indem er die Prostituierte vor ein mit Teilen von Schaufensterpuppen dekoriertes Ladenfenster stellt. In einem Interview mit der französischen Zeitschrift Midi-Minuit Fantastique sagt er:

Ich halte die Kamera für etwas ziemlich Beängstigendes. Ich spüre das auch selbst. H.G. Wells, Ray Bradbury und Arthur Clarke haben alle versucht, sich Maschinen des Schreckens auszudenken, aber das ist sehr schwer. Ich glaube nicht, dass es etwas Beängstigenderes gibt als eine Kamera – eine laufende Kamera, die einen beobachtet.

Um das zu verdeutlichen, um das Verdrängte zurück in unser Bewusstsein zu holen, macht er die Kamera zum Mordinstrument. Zur Erinnerung daran, wie unangenehm es ist, fremden Blicken ausgesetzt zu sein, schaut uns die Frau im Sucher direkt an. Wie nebenbei wird damit zugleich entlarvt, dass das, was uns als authentische Abbildung der Welt verkauft wird, nur ein bestimmten Regeln gehorchendes Konstrukt ist. Innerhalb der realistischen Filmästhetik ist der Blick in die Kamera eine Todsünde. In jedem Regelbuch kann man das nachlesen. Der Dokumentarfilmer Harry Watt, ein Protege von John Grierson, benannte sogar seine Memoiren nach diesem Gebot: Don’t Look at the Camera. Wenn jemand (im Spielfilm der Schauspieler) in die Kamera blickt, statt so zu tun, als wüsste er nicht, dass er gefilmt wird, ist das „unrealistisch“.

Szenen aus der Arbeitswelt

Die Kamera folgt der Prostituierten in eine billige Absteige. Dort beginnt die Frau, sich auszuziehen. 1960 war das unerhört. Ein paar Jahre später, in Frankreich, wurde der Verkauf der Nummer der Midi-Minuit Fantastique, in der Bilder von der Szene abgedruckt waren, behördlich untersagt; ein Teil der Auflage wurde vernichtet. Den nackten Körper der Frau sehen wir nur deshalb nicht, weil sie von Mark Lewis umgebracht wird, bevor sie sich ganz entkleidet hat. Wenn die Szene nicht so direkt wäre, wenn sie nicht auf die branchenüblichen Tarnmaßnahmen verzichten würde, hätte sie eigentlich jenen Zensoren Freude bereiten müssen, die Gewalt gegen Frauen bereitwilliger akzeptieren als Sex und Nacktheit (nur geschmackvoll muss es sein).

Peeping Tom

Auch die Kritiker hätten Grund zur Zufriedenheit gehabt. Denn Powell zeigt auf sehr realistische, im britischen Kino so nie dagewesene Weise eine Szene aus dem Arbeitsleben einer Hure (ein ungeschminktes Bild der Realität, das an Room at the Top so gelobt wurde), und er liefert sogar die von den damaligen Kritikern immer geforderte Thematisierung der Klassengegensätze. Allerdings braucht er dafür keine Sozialromantik mit Spülstein und keine aus der Fabrik kommenden Arbeiter. Ihm genügen ein paar gut gewählte Details und das Englisch der Prostituierten, an dem man sofort erkennen kann, dass sie zur Unterschicht gehört (der Freier dagegen nicht).

Nach dem ersten Mord sehen wir Mark in seinem Allerheiligsten: einem Zimmer, das zugleich Alchemistenküche und mit modernsten Geräten ausgestattetes Filmlabor ist. Dort sind alle Teile des kinematographischen Apparats versammelt: die Kamera, das Labor zur Filmentwicklung, Leinwand und Projektor. Wir sehen Mark dabei zu, wie er sich den inzwischen geschnittenen Film von Doras Ermordung ansieht, und Dora blickt uns dabei an wie sie Mark anblickt. Sie ist tot und irgendwie doch auch wieder lebendig. An die Stelle von Zweiteilung und Ausgrenzung setzt Powell die Doppelung, lässt er Bereiche zusammenfallen, von denen üblicherweise so getan wird, als wären sie getrennt. Filmbilder sind nicht umsonst mit in Bernstein eingeschlossenen, für die Ewigkeit konservierten Insekten verglichen worden. Im Film wird ein Moment festgehalten, der mit dem Ende der Aufnahme vorüber ist. Anschließend aber, bei der Projektion, wird der Vergangenheit in die Gegenwart geholt, werden Tote lebendig wie Marks Opfer auf seiner Leinwand.

Peeping Tom

Wenn es nach Powell gegangen wäre, hätte man Peeping Tom in Frankreich nicht als Le Voyeur verliehen, sondern als Le Cineaste, weil der Held alles dafür gibt, den perfekten Film zu drehen. Für ihn, sagt Powell in einem Interview, sei Mark Lewis kein Mörder, sondern ein Kameramann. Einmal sehen wir ihm dabei zu, wie er den Film von Vivians Ermordung entwickelt. Der Film, die Illusion von Leben und Bewegung, wird dabei auf seine Grundelemente zurückgeführt: viele starre Einzelbilder, Tod statt Leben. Die Reflektion über das Wesen der Kinematographie wird auf die Spitze getrieben, als Mark der blinden Mrs. Stephens den Film von Vivs Sterben vorführt. Powell gewinnt sogar dem Uralt-Klischee von der Blinden, die das Innere der Menschen sehen kann, noch etwas Neues ab. Dabei gelingen ihm Einstellungen, die man so nur in einem Avantgarde-Film erwarten würde und nicht in einem – nach Ansicht der Kritiker – zynischen Kommerzprodukt. Erzählt wird die Geschichte einer Perversion. Aber erzählt wird auch von der Schaulust, ohne die es kein Kino geben würde. Dabei ist nicht immer klar, wo das eine endet und das andere beginnt. Das macht Peeping Tom bis heute so verstörend.

Peeping Tom

Die Grenzverwischung geschieht auf allen Ebenen: Gesehen und Gesehenwerden, Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion, verrückt und normal, Klassenzugehörigkeit. In seinem Brotberuf arbeitet Mark als Kameraassistent an einem fiktiven Film, der in den echten, zum Rank-Imperium gehörenden Pinewood Studios gedreht wird. Der infolge einer Kriegsverletzung weitgehend erblindete (!) Archers-Veteran Esmond Knight spielt den Regisseur Arthur Baden (zusammengesetzt aus Arthur Rank und dem Oberpfadfinder Baden Powell, womit auch noch der Regisseur von Peeping Tom in dem Namen versteckt wäre), der einen jener belanglosen, sattsam bekannte Muster variierenden Filme dreht, mit denen die Produzenten Ende der 1950er sichere Gewinne zu machen hofften und doch nur die – kommerzielle wie künstlerische – Krise des britischen Kinos verschärften.

Peeping Tom

Im lediglich an der Einhaltung des Budgetplans interessierten Studioboss Don Jarvis ist unschwer John Davis zu erkennen, der vom Buchhalter zum Nachfolger von Arthur Rank aufgestiegene Intimfeind von Michael Powell. Das Ex-Model Shirley Anne Field, die in Horrors of the Black Museum wider Willen gezeigt hatte, eine wie schlechte Schauspielerin sie war, spielt die miserable Hauptdarstellerin in Arthur Badens Machwerk, während für die wunderbare Moira Shearer nur die Rolle des Körperdoubles bleibt. Anschließend ahmte die Realität die Fiktion nach. Shirley Anne Field erhielt dank Peeping Tom die weibliche Hauptrolle im New Wave-Drama Saturday Night and Sunday Morning und wurde ein Kinostar. Für Moira Shearer hatte der britische Film keine Verwendung mehr.

Auch Pamela Green, Gefährtin und Geschäftspartnerin des Erotik-Photographen Harrison Marks, spielt sich selbst. Marks ist nicht mit Leo dem Drehbuchautor verwandt, aber ebenfalls ein potentieller Namenspatron von Mark Lewis. Er war Britanniens wichtigster Hersteller von „Glamour-Photos“. Das waren Bilder mit leicht oder gar nicht bekleideten Damen in erotischen Posen, die Marks in Akt-Magazinen wie dem legendären Kamera veröffentlichte, aber auch in Form von Einzelabzügen oder im Sammelalbum verkaufte wie der Zeitschriftenhändler in Peeping Tom. Pamela hatte bereits in einigen unter dem Ladentisch vertriebenen und nur im privaten Kreis vorgeführten „Naturalisten-Filmen“ mitgewirkt; diese sich dokumentarisch gebenden Softpornos berichteten vom Leben der Nudistinnen, um nackte Frauen beim Nacktsein zeigen zu können. Mit ihrem Auftritt in Peeping Tom schrieb sie Kinogeschichte: als erste Nackte in einem britischen Spielfilm.

Film und Prostitution

Sehr typisch für Peeping Tom ist die Szene mit dem von Miles Malleson gespielten Kunden im Zeitschriftenladen. Malleson war auf ältere, etwas seltsame Herren aus den besseren Kreisen spezialisiert und die ideale Besetzung, weil er gleich deutlich machte, dass hier einer in den Laden kommt, der gesellschaftlich über dem zur unteren Mittelschicht gehörenden Händler gehört. Powell bietet hier eine sehr präzise Milieustudie, deren Komik ins Sinistre umschlägt, als ein kleines Mädchen in den Laden kommt, um Süßigkeiten zu kaufen. Das ist so mehrdeutig wie alles andere in Peeping Tom. Das Erscheinen des Mädchens fügt dem Verkauf und Erwerb von pornographischen Photos eine unschuldige, alltägliche Komponente hinzu. Aber das Mädchen könnte auch ein zukünftiges Aktmodell sein, oder sogar das Opfer eines Kinderschänders, der ihm Süßigkeiten anbietet. Weil alles möglich ist, lässt sich nichts ausgrenzen. Das ist beunruhigend. Am Ende der Szene verlässt der Kunde den Laden mit der Times und dem Telegraph. Zwischen den beiden konservativsten Zeitungen des britischen Establishments steckt das Album mit den nackten Frauen. Peeping Tom ist auch ein Film über die Heuchelei.

Peeping Tom

Mit den Aktphotos bessert Mark sein Gehalt auf. Zwischen ihm und Milly, dem von Pamela Green gespielten Modell, kommt keine erotische Spannung auf. Auch das sind Szenen aus der Arbeitswelt, und wahrscheinlich wurden sie deshalb als so empörend empfunden. Dieser Film über den Voyeurismus hat ein sehr nüchternes, wenig stimulierendes Verhältnis zur Abbildung von Frauenkörpern und ist für Spanner nicht geeignet. Powell moralisiert nicht und deutet nicht mit dem Finger auf seine Figuren. Jede von ihnen hat ihre Gründe für das, was sie tut. Und über allem schwebt die Frage, wer sich mehr prostituiert: die Huren und die Aktmodelle oder die Angehörigen einer Filmindustrie, die Sachen herstellt wie das von Arthur Baden in Pinewood heruntergekurbelte Drama mit Shirley Anne Field, in dem Ramschware zum Schleuderpreis angeboten wird?

Peeping Tom

Wo andere die Fassade zeigen, wirft Powell einen Blick dahinter. Zum Photo Shooting wird nicht etwa Kokain oder wenigstens Schnaps gereicht, sondern eine Tasse Tee. Von dieser braunen Flüssigkeit schneidet Powell auf den braunen Whisky im Glas der gutbürgerlich lebenden Mrs. Stephens, einer Alkoholikerin. In Peeping Tom gibt es nur einige wenige der damals bei Schauplatzwechseln üblichen Orientierungshilfen für das Publikum: Einstellungen mit Figuren, die den einen Ort verlassen oder den anderen erreichen. Powell bevorzugt rasche Übergänge wie diesen Schnitt auf den Whisky, weil so die in anderen Filmen der Zeit fein säuberlich getrennten Bereiche eng zusammenrücken. Zwischen dem Laden mit den schmutzigen Bildern in Soho und dem Haus im wohlanständigen Kensington liegt nur ein Filmschnitt. Zum Verzicht auf die von hier nach da gehenden Darsteller liefert Powell den ironischen Kommentar, indem er Mrs. Stephens eine Flasche Johnny Walker auf den Tisch stellt. Der Tag geht, und Mark Lewis kommt. Gerade noch in Soho mit der Herstellung von Pornobildern beschäftigt, steht er jetzt schon draußen vor dem Fenster des Hauses in Kensington und schaut in das Zimmer, in dem die Bürger den 21. Geburtstag von Helen feiern.

Peeping Tom

Die Distanz zwischen Bürgertum und Unterschicht ist nicht nur filmtechnisch stärker geschrumpft, als es den ebenfalls bürgerlichen Kritikern lieb sein konnte. Um das Haus seines Vaters halten zu können, muss Mark Zimmer vermieten. Die Mieter haben ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen und können sich das Wohnen in der Melbury Road (immerhin gleich gegenüber von Michael Powell) nur leisten, weil der geschäftsuntüchtige Mark die ortsüblichen Preise nicht kennt. Überall in diesem roten Ziegelhaus spürt man die Gefahr des sozialen Abstiegs. Helen könnte – falls der melodramatische Gedanke erlaubt ist – genauso leicht in der Gosse landen wie das kleine Mädchen im Zeitschriftenladen. Diesen Laden am Rathbone Place in Soho gibt es da heute noch. Vom Photostudio im ersten Stock schaut Mark hinunter auf den Anfang der Percy Street, wo sich damals ein bei Filmleuten sehr beliebtes Restaurant befand, in dem Powell in alten Archers-Zeiten mit Arthur Rank neue Projekte besprochen hatte, als der Firmengründer noch Chef der Pinewood Studios war und nicht sein Buchhalter. A Very British Psycho, eine sehr gute Channel Four-Dokumentation von 1997, fügt eine weitere Reflektionsebene hinzu, wenn Leo Marks, Drehbuchautor und Ex-Geheimdienstler, im realen London an der Stelle steht, von der aus ein Film-Polizist Mark Lewis beschattet.

Peeping Tom, A Very British Psycho

In Aufsätzen wird ab und an gemutmaßt, dass die Kritiker mehr Verständnis für Peeping Tom gezeigt hätten, wenn ihnen aufgefallen wäre, dass der vermeintliche Schmuddelfilm ein selbstreflexives, in vielfältige Verweise auf die Filmindustrie eingebettetes Werk ist. Ich würde sagen, das Gegenteil war der Fall. Auch Kritiker sind im Kino zunächst einmal nur Zuschauer. Kein Voyeur hat es gern, wenn sein Blick reflektiert wird, man seine Anwesenheit bemerkt, er womöglich mit einem Frauenmörder in Verbindung gebracht wird. Bestimmt geriet Caroline Lejeune vom Observer nicht in freudige Erregung, als sie hören musste, wie sich Mark Lewis als Mitarbeiter ihrer ehrwürdigen Sonntagszeitung ausgibt (die älteste in Großbritannien). Weil diese Szene schon nach knapp fünf Minuten kommt ist anzunehmen, dass Ms. Lejeune da noch nicht gegangen war, um den Verriss zum Film zu schreiben, den sie nicht ganz gesehen hatte (dass zwei der vernichtendsten Urteile über Peeping Tom im Observer und im Spectator erschienen, ist auch nicht ohne Ironie).

Ein wunderbarer Film

Powell war ein Bewunderer von Fritz Lang, seit er in den 1920ern Die Nibelungen gesehen hatte. Peeping Tom ist seine Version von M, wo wir am Ende Mitleid mit Peter Lorre haben, obwohl er einen Kindermörder spielt. Um das hinzukriegen, braucht man ein hervorragendes Drehbuch, einen erstklassigen Regisseur und eine große schauspielerische Leistung. Karlheinz Böhm ist auch bei Fassbinder sehr gut (Martha), war aber vielleicht nie besser als hier. Er spielt den Mörder mit so viel Einfühlungsvermögen und Sanftheit, dass es auch den Kritikern nicht gelang, Mark Lewis auf Distanz zu halten. Den Film machte das noch ärgerlicher.

Karlheinz Böhm, bei uns nach den Sissi-Filmen ein Aushängeschild des Schnulzenkinos, kannte in Großbritannien niemand. Seine Anwesenheit in Peeping Tom war beunruhigend. „Jemand meinte“, schreibt Isobel Quigly in ihrem Verriss,

dass man die Absurdität, einen deutschen Darsteller mit starkem Akzent einen britischen Helden spielen zu lassen, möglicherweise mit der Idee erklären kann, dass niemand einen einheimischen Jungen gern in einer solchen Rolle sehen würde, dass es aber, falls sie auf jemand anderen (im Idealfall auf einen Deutschen) abgeschoben werden könnte, tröstlich sein würde zu wissen, dass der Held zwar in der Geschichte ein gebürtiger Londoner ist, im „wirklichen Leben“ aber […] ein Außenseiter, was man sofort weiß […] wenn er den Mund aufmacht, um ein Wort zu sagen.

Wenn schon ein verrückter Frauenmörder, dann bitte als Monster und nicht als jemand wie du und ich. Graf Dracula wäre akzeptabel gewesen, oder ein Deutscher, und jedenfalls „ein Außenseiter“. Das Problem ist aber, dass Karlheinz Böhms Akzent gar nicht so stark ist, wie Ms. Quigly behauptet. Er spricht nicht so, wie man es von Nazis und anderen Deutschen gewohnt ist. Sein Englisch ist hervorragend; am Satzrhythmus und an der Art der Wortbetonung erkennen Briten trotzdem den Deutschen (bzw. Österreicher). Mark Lewis spricht Englisch wie ein Engländer und doch auch wieder nicht. Wer aber ausgrenzen will, braucht eindeutige Zuordnungen. Bei Mark geht das nicht. Quigly schreibt an anderer Stelle sogar, dass er „liebenswert“ sei. Sie und ihre Kollegen fanden das empörend. Mark Lewis hätte ein Schurke aus dem Melodram sein müssen, vielleicht mit Schlapphut und vernarbtem Gesicht, oder mit einem Buckel. Dann hätten sich die Kritiker ihr Überlegenheitsgefühl bewahren und sich über den nächsten dummen Horrorfilm mokieren können, mit dem kulturlose Geschäftemacher das Publikum für dumm verkauften. Peeping Tom passte in keine Schublade – daher die Wut in den Verrissen.

Peeping Tom

Ich schreibe so ausführlich über Peeping Tom, weil der Umgang mit diesem Film wichtige Fragen aufwirft. Welche Verantwortung haben Kritiker und Zensoren? Wird ein solcher Film aufbewahrt und wenn ja, von wem? Wird er von den Eigentümern an den Höchstbietenden verscherbelt, oder wird er entsorgt wie Abfall? Steht Peeping Tom stellvertretend für andere Filme, die ihrer Zeit voraus waren und die wir heute als Meisterwerke wiederentdecken würden, wenn man sie noch sehen könnte? Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit muss man das annehmen. Doch wie viele sind es? Das weiß niemand. Den Fall Peeping Tom kann ich hier nur schildern, weil Michael Powells Film doch nicht, wie gefordert, in die nächste Kloake gekippt wurde, oder zumindest nicht so, dass er unwiederbringlich verloren gewesen wäre. Anderen Filmen könnte genau das widerfahren sein. Für Peeping Tom gab es ein spätes Happy Ending. Das heißt nicht, dass andere Filme dasselbe Glück haben. Der Spruch, dass sich Qualität auf Dauer immer durchsetzt, ist naiv.

Wie ging es also weiter mit Peeping Tom? In seiner Autobiographie beschreibt Powell das für ihn ideale Verhalten der Produktionsfirma:

Würden Sie nicht auch denken, dass sie ein bisschen Geld ausgegeben, Anzeigen in der Zeitung geschaltet und hineingeschrieben hätten: „Das sagen die Kritiker über unseren wunderbaren Film. Jetzt kommen bitte Sie, das Publikum, um sich selbst ein Bild zu machen und zu sehen, was das für ein wunderbarer Film ist, und was für miserable Kritiker wir haben.“

Tatsächlich wollte Nat Cohen, der Chef der Anglo-Amalgamated, den Film nur noch loswerden. In A Very British Psycho behauptet Alexander Walker, Kritiker des Evening Standard, dass solche Verrisse doch eine gute Reklame seien. Das ist nichts weiter als eine Beschimpfung des Publikums, das angeblich in Scharen kommt, wenn die Kritiker einen Film schlecht finden. Meistens läuft es ganz anders ab. Erschrocken über die Heftigkeit der Anfeindungen, zog Cohen den Film zurück. Meines Wissens war er innerhalb einer Woche nach der desaströsen Premiere im Plaza aus allen britischen Kinos verschwunden. Man konnte ihn auch nicht mehr buchen, weil die A-A den Film aus ihrem Verleihprogramm genommen hatte. Schließlich verscherbelte Cohen das Negativ an eine Firma, die unter anderem den Schwarzmarkt für Pornofilme belieferte und mit diversen Schmuddelkinos geschäftlich verbunden war. Peeping Tom war nun da gelandet, wo er nach einstimmiger Kritikermeinung hingehörte.

Pamela Green gab die Unschuld vom Lande, die ein böser Regisseur namens Michael Powell mit List und Tücke dazu gebracht hatte, sich auszuziehen. Sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, was die Hüter der Tugend und der Filmkunst hören wollten. Nach der Wiederauferstehung des Skandalfilms als Meisterwerk bekannte sie sich zu ihrer Vergangenheit und tat so, als ob das schon immer so gewesen wäre (mehr zum in diesem Mai verstorbenen „Kamera Girl“ auf ihrer Website). In A Very British Psycho finden sich noch Reste ihrer alten Schauergeschichten. Da erfährt man, dass Powell seine beiden kleinen Söhne mitbrachte, als die Nacktszene gedreht wurde. Am Fuße der Kamera sitzend, durften sie sich an Pamelas nackten Brüsten ergötzen. Sonstige Belege für Powells Bemühungen, es Prof. Lewis gleichzutun und seine Kinder zu Voyeuren auszubilden, sind mir nicht bekannt. Man bleibt also mit der Frage allein, ob das wirklich so stattfand oder ob Pamela beim Interview schlicht vergessen hatte, dass Powell inzwischen ein Meisterregisseur ist und nicht mehr der Perverse von früher, der für andere Perverse den Film Peeping Tom gedreht hatte. Harrison Marks verkaufte in den 1960ern Postkarten mit einer barbusigen, wie eine obszöne Schaufensterpuppe aussehenden Pamela Green im Peeping Tom-Kostüm. Im allgemeinen Bewusstsein wurden diese Postkarten zum Teil eines Skandalfilms, den kaum jemand gesehen hatte.

Die Rechnung wird präsentiert

Beruflich erholte sich Michael Powell zeitlebens nicht mehr von dem Skandal. Besonders dem zweiten Teil seiner Memoiren (den er vermutlich gekürzt hätte, wenn er gesundheitlich noch dazu in der Lage gewesen wäre) merkt man an, wie sehr er auch persönlich verletzt war. Die bösartigen, um nicht zu sagen neurotischen Reaktionen auf Peeping Tom erklärte er sich auch damit, dass viele Kritiker die Gelegenheit nützten, um mit seinem Werk insgesamt abzurechnen, mit den schwer einzuordnenden, als irgendwie unbritisch, zu künstlerisch, zu flamboyant, zu wenig realistisch und zu unangepasst empfundenen, in Zusammenarbeit mit Emeric Pressburger entstandenen Archers-Filmen:

Vom Standpunkt der Kritiker aus muss das ein Albtraum gewesen sein. Kein Wunder, dass sie, als sie mich mit Peeping Tom allein und weit draußen auf einem Ast sitzend erwischten, diesen Ast voller Schadenfreude absägten und dann auf der Leiche herumhüpften. Aha, es war also doch Powell die ganze Zeit über? Wir hatten Emeric Pressburger und seinen europäischen Hintergrund im Verdacht, aber jetzt wissen wir, dass es Powell war, der Sadist, der den Mädchen Leim in die Haare geschüttet hat, und der eimerweise Blut über Moira Shearer verspritzt hat, als sie auf den Schienen lag und man ihr hätte erlauben müssen, sauber und ordentlich zu sterben wie eine britische Ballerina. Los, holen wir ihn uns! Und ist ihnen das gelungen? Und ob.

Tatsächlich fällt auf, wie oft in den Verrissen der Hinweis auf frühere Filme kommt und auch darauf, dass der jeweilige Kritiker schon länger eine schlimme Ahnung mit sich herumgetragen habe, die sich nun, mit Peeping Tom, bewahrheitet habe. So ließen sich auch Colonel Blimp, Black Narcissus oder The Red Shoes in Misskredit bringen. Besonders der Glueman in A Canterbury Tale – einem Film, der seit 15 Jahren praktisch nicht mehr zu sehen gewesen war – scheint einen Nerv getroffen zu haben.

Drei Monate nach der Uraufführung von Peeping Tom lief Psycho in Großbritannien an. Dadurch schien sich ein Trend zum Psychopathen-Film anzudeuten, den es zu bekämpfen galt. Davon betroffen war Peeping Tom. Psycho wurde zum Kassenschlager. Hitchcock hatte den Vorteil, ein großes Studio und einen mächtigen Verleih im Rücken zu haben. Außerdem hatte er gelernt, die schwer verdaulichen Botschaften seiner Filme gefällig zu verpacken. Am Schluss von Psycho tritt ein Psychiater auf, der analysiert, warum Norman Bates gemordet hat. Die Erklärung (Norman hat einen Ödipuskomplex, oder so ähnlich) ist genauso unsinnig wie das, was Leute wie Dr. Wertham über die Comics zu sagen hatten. Hitchcock macht durch die Inszenierung deutlich, was von solchen Ausführungen zu halten ist. Im überfüllten Büro des Sheriffs, in dem der Psychiater seinen Vortrag hält, wird viel geschwitzt. Offenbar funktioniert der Ventilator nicht. Es muss viel heiße Luft geben in diesem Büro.

Weil wir aber glauben, was wir glauben möchten, konnte jeder, der eine beruhigende Erklärung haben wollte, mit dem Gefühl nach Hause gehen, eine solche bekommen zu haben (Norman ist verrückt und hat nichts mit uns zu tun). Auch Powell bietet einen Psychiater auf, tut aber gar nicht erst so, als ob dieser Herr die gewünschte Distanz zwischen uns und Mark Lewis schaffen könnte. 1960 war das viel zu direkt. Peeping Tom verschwand im Untergrund. Jahrelang gab es nur mehr oder weniger verstümmelte 16mm-Kopien, in Schwarzweiß oder mit verblassten Eastman-Farben. Seit der Restaurierung kann man die eindrucksvolle Farbdramaturgie wieder richtig erkennen, was einen noch mehr am Urteilsvermögen der damaligen Kritiker zweifeln lässt. Grund zur Selbstgerechtigkeit gibt es aber nicht. Niemand kann heute sagen, wie er damals auf einen so mutigen und radikalen Film reagiert hätte.

Als Peeping Tom 1960 kurz im Plaza lief, steckte Powell schon mitten in den Arbeiten am völlig misslungenen The Queen’s Guards, von dem er hinterher selbst nicht mehr wusste, warum er ihn gedreht hatte. Nach dem Skandal konnte er in Großbritannien keinen Spielfilm mehr realisieren. Unbedingt sehenswert ist Herzog Blaubarts Burg (1963), eine vom Süddeutschen Rundfunk co-produzierte, ein paar Mal ausgestrahlte und dann verschwundene TV-Adaption der Oper von Béla Bartók. Ob man beim SWR noch weiß, welchen Schatz man – hoffentlich – im Archiv hat? Man könnte den einstündigen Film zusammen mit Peeping Tom zeigen, in dem das Blaubart-Motiv eine wichtige Rolle spielt. Helen erhält einen symbolischen Schlüssel und erforscht dann, angetrieben von weiblicher Neugier, das Geheimnis von Marks Zimmer. Weil dieses Zimmer ein Filmlabor ist, hängen die toten Frauen nicht am Haken, sie sind eingefroren in Zelluloid. Auf der Leinwand erwachen sie wieder zum Leben. Eine Frankenstein-Geschichte ist Peeping Tom auch. Wie jeder Film.

Während Powell unermüdlich neue Kinoprojekte plante, musste er froh sein, Arbeit beim Fernsehen zu finden. 1963/64 inszenierte er drei Episoden der britischen Reihe Espionage. Am besten ist A Free Agent, ein komplexes Verwirrspiel um Identitäten nach einem Drehbuch von Leo Marks. 1966, nach Jahren der Vorbereitung, konnte Powell in Australien die Komödie They’re a Weird Mob realisieren, für die sein alter Freund und Partner Emeric Pressburger (als „Richard Imrie“) das Drehbuch geschrieben hatte. In Australien war die Geschichte des aus Italien eingewanderten Journalisten, der Bauarbeiter wird und nach Irrungen und Wirrungen sein Glück findet, ein großer Erfolg. Das Geld für einen weiteren Film konnte Powell zunächst trotzdem nicht auftreiben.

Wiederentdeckt

Age of Consent (1969) entstand nur, weil James Mason die Hauptrolle übernahm und neben Powell als Produzent firmierte. Das überzeugte einige Investoren. Mason spielt einen Maler, der in seine australische Heimat zurückkehrt, auf einer einsamen Insel vor der Küste Ruhe und Inspiration sucht und letztere auch findet, weil er die junge Cora trifft. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden und auch wieder eine Reflektion über die Beziehung zwischen Kunst und Leben, das heitere Gegenstück zu Peeping Tom, souverän und mit viel Toleranz den Figuren gegenüber inszeniert. Powells Rückkehr zum Pantheismus und zum Zauber der Natur; mit grandiosen Unterwasseraufnahmen von der damals noch nicht verschmutzten Korallenwelt des Great Barrier Reef, durch die eine blutjunge Helen Mirren schwimmt (in ihrer ersten Filmrolle).

Age of Consent

Wer diesen Film nicht mag, ist selber schuld. Leider kann man den amerikanischen Verleiher nicht mehr zur Rechenschaft ziehen, der Peter Sculthorpes balinesisch angehauchte Musik (angeblich nicht kommerziell genug) durch ein blödes Gedudel ersetzte. Weil Helen Mirren nackt Modell steht (bzw. schwimmt), wurde der Film natürlich auch verstümmelt. Gleich die ironische Anfangssequenz musste weg, weil da (gemalte) Frauenakte zu sehen sind und Cora die Figur aus dem Columbia-Logo nachstellt. Age of Consent ist Michael Powells letzter Kinofilm. In seiner Autobiographie erzählt er von vielen faszinierenden Projekten, die in der Vorbereitungsphase scheiterten. Am traurigsten ist, dass Powell und Mason trotz mehrerer Anläufe nicht das Geld für eine Verfilmung von Shakespeares magischstem Stück auftreiben konnten, The Tempest. Age of Consent, wo Mason eine Prospero-Figur spielt, lässt ahnen, wie das hätte werden können.

Age of Consent

Wer Glück hatte, bekam in den 1960ern eine von den wenigen, oft schwarzweißen und fast immer gekürzten 16mm-Kopien von Peeping Tom zu sehen (in manchen Fassungen fehlten 20 Minuten und mehr). Am meisten Zuspruch fand der Film in den ersten Jahren noch in Frankreich. Offenbar erschien 1960 nur eine einzige positive (und sehr kluge) Kritik; Jean-Paul Török schrieb sie für die französische Zeitschrift Positif. 1964 interviewte der spätere Regisseur Bertrand Tavernier Powell für eine Nummer der Midi-Minuit Fantastique, in der ein Dossier zu Peeping Tom (mit vielen Bildern) enthalten war und die zensuriert wurde. 1965 drehte Roman Polanski (auch so ein Perverser) Repulsion. Dem Film sieht man an, dass Polanski Peeping Tom gut kannte. Wollte man aufzählen, was seither alles von Powells Meisterwerk beeinflusst wurde, hätte man gleich eine lange Liste.

Bevor es Videokassetten und DVDs gab, konnte ein Regisseur sehr schnell in Vergessenheit geraten, wenn seine alten Filme nicht mehr im Kino liefen und er keine neuen drehte oder diese keinen Verleih fanden. Als Powell Age of Consent inszenierte, wurde sein Name noch mit dem Skandalfilm verbunden, aber viele wussten schon nicht mehr so genau, wer Michael Powell war. 1970, als die Archers in Büchern zum britischen Film entweder gar nicht erwähnt oder mit ein paar hämischen Bemerkungen abgetan wurden, veröffentlichte Raymond Durgnat A Mirror for England, in dem viele kluge Sachen über Powell und Pressburger stehen. 1971 wurden die beiden in Großbritannien wiederentdeckt, als das British Film Institute 14 Archers-Produktionen zeigte. Jetzt zahlte es sich aus, dass die Archers dem BFI Kopien von vielen ihrer Filme übergeben hatten, die dort sorgfältig aufbewahrt wurden (in Archiven keine Selbstverständlichkeit). 1978 organisierte Ian Christie für das BFI eine große Retrospektive mit allen damals noch auffindbaren Regiearbeiten von Michael Powell. Das gab auch in andern Ländern den Anstoß zu Retrospektiven. 1982 zeigte das Münchner Filmmuseum alles, was es auftreiben konnte. Dazu erschien ein schönes Begleitheft (Living Cinema: Powell & Pressburger).

Die Erinnerung an den irgendwie verbotenen oder jedenfalls fast nie aufgeführten Peeping Tom wurde durch Mund-zu-Mund-Propaganda wachgehalten, besonders unter jungen Filmemachern. Jim McBride, Regisseur des sich über das cinéma vérité lustig machenden David Holzman’s Diary (und später des powellesken Uncovered), erzählte Martin Scorsese davon, und so sprach sich allmählich herum, dass es da diesen Film gab, den man unbedingt gesehen haben musste. Für Brian De Palma war der Film genauso wichtig wie Rear Window und Vertigo von Hitchcock. In den USA wurde Michael Powell wiederentdeckt, weil er der Regisseur von Peeping Tom war, was wiederum Peeping Tom zugute kam.

1977 erhielt Powell die Einladung, auf dem Festival von Telluride in Colorado einige seiner Filme zu präsentieren. Er entschied sich unter anderem für Peeping Tom. Das Publikum war begeistert, obwohl scheinbar nur eine stark gekürzte Fassung gezeigt werden konnte. 1979 lief der Film beim New York Film Festival. Das war das erste Mal, dass in den USA die „ungekürzte“ Originalfassung gezeigt wurde. Vermutlich fehlten da immer noch ein oder zwei Minuten, vielleicht auch mehr. Eingriffe der Zensur haben oft ein langes Leben. Manches in Peeping Tom ergibt erst einen Sinn, wenn man weiß, dass Mark Lewis seine Opfer zwingt, sich selbst beim Sterben zuzusehen, indem er über dem Kameraobjektiv einen Spiegel anbringt. In Deutschland – und nicht nur da – wurde dieser Spiegel herausgeschnitten. Diese zensurierte Fassung lief noch vor einigen Jahren im Fernsehen. Niemand hält es in solchen Fällen für nötig, uns, die Zuseher und Gebührenzahler, darüber aufzuklären.

Peeping Tom

Es scheint auch niemand ganz genau zu wissen, ob die restaurierte, jetzt auf DVD greifbare Version des Films vollständig ist. Ich bin mir zum Beispiel ziemlich sicher, dass vor der Einstellung mit der nackten Pamela Green etwas fehlt. Einer anderen Langzeitwirkung der Zensur sind diejenigen ausgesetzt, die kein Englisch können. Im Original sagt Mark zu Helen ein paar Sätze, die es in der deutschen Synchronfassung nie gab oder die später verlorengingen. Das war offenbar der Grund, aus dem für die deutsche DVD-Ausgabe eine sterile Neusynchronisation hergestellt wurde, in der Karlheinz Böhm seine Originalstimme abhanden gekommen ist. An den Fehlern in der alten Synchronfassung kann es nicht gelegen haben, weil da einiges übernommen wurde. Die Prostituierte Dora will immer noch zwei Dollar für ihre Dienste und nicht zwei Pfund („two quid“). Scheinbar hat sie nicht gemerkt, dass sie in London ist. Oder hält sie Karlheinz Böhm für einen amerikanischen Importeur von Horror-Comics?

Peeping Tom

Bald nach der Wiederaufführung in New York nahm der Corinth Filmverleih Peeping Tom in sein Programm auf. Das war nur möglich, weil Martin Scorsese einen Zuschuss zur Herstellung der Kopien gab. Lange hieß es, es seien 15.000 Dollar gewesen. Scorsese spricht inzwischen von 5000 Dollar, was daran liegen könnte, dass er immer versucht, sich bescheiden im Hintergrund zu halten, wenn mit seiner Unterstützung wieder mal ein Film restauriert und neu zugänglich gemacht wurde. Daran sieht man, dass es oft von im Grunde lächerlich geringen Summen abhängt, ob ein Meisterwerk am Leben bleibt (weiter gezeigt wird) oder stirbt. Anfang der 1980er war Peeping Tom wieder da, wenn auch noch ziemlich ramponiert.

Ende mit Phantasie

Francis Ford Coppola holte Powell 1981 als Berater in sein Zoetrope Studio. Das Resultat war der nicht wirklich gelungene, aber immer faszinierende Film One From the Heart, der für Coppola mit einem finanziellen Desaster endete. In Industriekreisen wurde dadurch das alte Vorurteil wiederbelebt, dass Michael Powell ein größenwahnsinniger Geldverschwender sei (Peeping Tom beweist das Gegenteil). Vielleicht hätte er sonst seinen Plan verwirklichen können, Ursula K. Leguins Fantasy-Roman The Wizard of Earthsea zu verfilmen. Wahrscheinlich hätte er an Fritz Langs Die Nibelungen angeknüpft, so wie Peeping Tom an M anknüpft. Entmutigen ließ Powell sich von den vielen Rückschlägen nicht. Martin Scorsese hat bewundernd erzählt, dass er jeden Tag aufstand, um an einem neuen Projekt zu arbeiten, obwohl er nie wieder einen Film drehen konnte.

1985 stellte das National Film Archive seine weltweit gefeierte Rekonstruktion der Urfassung von The Life and Death of Colonel Blimp vor. Weitere Rekonstruktionen folgten. Gone to Earth kann man jetzt wieder in der Schnittfassung der Archers sehen, und Tales of Hoffmann hat den letzten, von Korda entfernten Akt zurückerhalten. Während Powell weiter die Welt bereiste, zog sich Pressburger in ein Cottage in Suffolk zurück, das aussieht wie ein Märchenhaus. Bei der Wiederaufführung von Blimp hatte er seinen letzten öffentlichen Auftritt. Er starb am 5. Februar 1988. Powell folgte ihm zwei Jahre später, am 15. Februar 1990. Vielleicht sind sie auch einfach geblieben. Für beide war der Übergang von dieser in die andere Welt fließend. Deshalb haben sich die Archers-Filme ihre Magie bewahrt.

Powells Autobiographie endet mit dem Tod von Emeric Pressburger. Micky besucht Imre, seinen Freund und Partner, in Suffolk. Sie sitzen im Garten, unterhalten sich über alte Zeiten und werden von Imres Nachbarn gestört, einem in der Hecke wohnenden Fasan, der Lärm macht, weil er endlich gefüttert werden will. Pressburger berichtet Powell, was ihm kürzlich klargeworden ist:

„Eine Geschichte erzählen, Michael, ist kein Geschäft. Es ist eine Kunst, und wir sind anders als andere Künstler, weil uns Arthur Rank fast zehn Jahre lang in Ruhe ließ, weil er uns unseren eigenen Weg gehen ließ, auf dem wir dachten, Profis zu sein. Aber wir waren Amateure, Michael. Darum waren unsere Filme anders als die von anderen Leuten, und jetzt, da ich das weiß, kann ich glücklich sterben.“

Um dem alten Freund den Weg abzunehmen, will Powell Futter für den Fasan holen. Als er wiederkommt, sitzt Pressburger tot in seinem Stuhl. Das Buch, das damit endet, erschien 1992. 1994 veröffentlichte der Dokumentarfilmer Kevin Macdonald die Biographie seines Großvaters: Emeric Pressburger – The Life and Death of a Screenwriter. Darin erfährt man, wie es auch noch war. 1983 zog sich Pressburger bei einem Sturz eine Verletzung der Nackenmuskulatur zu. Danach hatte er Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten. In den letzten Jahren seines Lebens litt er an Demenz. Er hatte kaum mehr Kontakt zur Außenwelt, sprach wenig, und wenn doch, verfiel er oft in ein Gemisch aus Ungarisch und Deutsch. Im Frühjahr 1987 erkrankte er so schwer, dass er – nun völlig senil – aus seinem geliebten Cottage in ein Pflegeheim gebracht werden musste. Ein Anwalt übernahm die finanziellen Angelegenheiten und löste Pressburgers Besitz auf, um das Pflegeheim bezahlen zu können. Emeric Pressburger starb in diesem Heim an einer Lungenentzündung.

Will man das wirklich wissen? Oder gibt es eine andere, innere Wirklichkeit, auf die wir uns konzentrieren sollten, statt uns mit der Oberfläche zu begnügen? Auf jeden Fall, würde Powell sagen, und Pressburger hätte ihm zugestimmt. Zum Schluss noch eine Stelle aus Michael Powells Autobiographie:

Unser Geschäft war nicht der Realismus, sondern der Surrealismus. Wir waren Geschichtenerzähler, Phantasten. Darum kamen wir mit der Dokumentarfilmbewegung auch nie zurecht. Dokumentarfilme begannen mit Poesie, und sie endeten als Prosa. Wir Geschichtenerzähler fingen naturalistisch an, und wir hörten auf mit der Phantasie.

Powell/Pressburger auf DVD:

Nichts von dem, was in Deutschland auf DVD erhältlich ist, würde ich empfehlen. Einiges ist sogar für hiesige Verhältnisse eine Unverschämtheit. Auf ein DVD-Cover kann jeder schreiben, was er will. Zum Schutz des Bürgers vor dem Film leisten wir uns eine Bundesprüfstelle und dergleichen; niemand schützt Filme und Filmliebhaber vor der Ramschmentalität gewisser Anbieter. Wohl dem, der Englisch kann. Ein guter Einstieg ist die „Powell and Pressburger Collection“ (GB): 11 Filme in akzeptabler Qualität für derzeit knapp 30 Euro. Peeping Tom bei Optimum (GB) ist billiger und bietet mehr als die aktuelle deutsche DVD-Ausgabe (Arthaus hat für September eine Neuedition angekündigt).

Black Narcissus kann man in Deutschland „digital remastered“ kaufen (bloß nicht!) oder in hervorragender Qualität bei Network in England.

Teuer sind die bei Criterion (USA) erschienenen Ausgaben. Dafür erhält man in den meisten Fällen die beste Bild- und Tonqualität und umfangreiches Bonusmaterial, das diesen Namen auch verdient – also keine hingeschlampten Tafeln mit Filmtiteln und Lebensdaten, keine vom Produzenten bestellten Lobhudeleien (Making of), keine Trailer zu anderen DVDs desselben Anbieters. Besonders gelungen finde ich A Canterbury Tale und I Know Where I’m Going!. The Edge of the World (+ Powells Return to the Edge of the World von 1978) gibt es in einer schönen Ausgabe des BFI, das mindestens so unterfinanziert ist wie unsere Murnau-Stiftung und seit Jahren zeigt, was trotzdem möglich ist.

Die beste, in England erschienene Ausgabe von Gone to Earth ist längst vergriffen und wird von Profiteuren zu Wucherpreisen angeboten; viel billiger, leicht zu bekommen und durchaus akzeptabel ist die DVD aus Südkorea. A Matter of Life and Death und Age of Consent würde ich keinesfalls in Deutschland, sondern nur bei Sony (USA) kaufen (Doppel-DVD, „The Films of Michael Powell“). The Spy in Black gibt es in Spanien und Australien, Contraband bei Kino (USA). Beiden Filmen würde man eine Restaurierung wünschen. Sehenswert sind sie allemal.

Falls jemand noch mehr will: Die drei Espionage-Episoden sind bei Network (GB) erhältlich, The Phantom Light und Red Ensign auf der DVD „Classic British Thrillers“ (USA).