"Schmutzige Kompromisse, Interessensausgleich und das Schlimmste verhindern"
Wie verhindert man einen Krieg? Und was heißt eigentlich Diplomatie - Realistische Ratschläge aus der Wissenschaft für die Ostpolitik des Westens
"Wie soll Russland reagieren?", fragte Wladimir Putin rhetorisch. Ein "antirussischer Stützpunkt" mit modernen Waffensystemen werde "vor unserer Haustür" gebaut. "Stellen wir unsere Raketen vor der Haustür der Vereinigten Staaten auf?"
Die schon traditionelle mehrstündige Jahreswechsel-Pressekonferenz des russischen Präsidenten war diesmal mit besonderer Brisanz aufgeladen: Der langsam eskalierende Konflikt mit der Ukraine, die Lage in Belarus, das immer noch aufs Eis gelegte Nord-Stream-2-Projekt und mögliche russische Auftragsmorde im Ausland - die Liste potenzieller Konflikte zwischen dem Westen und Russland ist lang.
Gegen die moralisierende Überhöhung politischen Handelns
Wie soll der Westen reagieren? Wie könnte eine neue, zeitgemäße Ostpolitik des Westens aussehen? Ungebetene, aber nützliche Ratschläge für die strategisch ratlosen, nur spontan und taktisch (und dabei oft falsch) reagierenden Akteure des Westens kommen dazu jetzt aus der deutschen Politikwissenschaft.
Geraten wird dabei hauptsächlich zu politischem Realismus und pragmatischem Vorgehen, abgeraten wird von Moralismus und moralisierender Überhöhung politischen Handelns. Diplomatie bedeute gerade das Vermeiden gegenseitiger Blockaden und Konflikteskalationen und das Schaffen von Win-Win-Situationen - so das Fazit von Politikwissenschaftler Herfried Münkler (in der Frankfurter Rundschau) und Johannes Varwick (im Deutschlandfunk) zu den aktuellen Spannungen.
Varwick, der an der Universität Halle-Wittenberg lehrt, gehört auch zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs #RausausderEskalationsspirale - ebenso wie viele Kollegen, Ex-Diplomaten und der deutsche General a.D. Klaus Naumann. Varwick forderte ein Ende des Kollisionskurses. "Wir müssen Russland einen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur einräumen", sagte er im DLF und plädierte für "Win-win-Situationen" mit Russland.
Der Politikwissenschaftler versuchte, dem Publikum und den vielen "Russland-Fressern" unter den deutschen Außenpolitikern umgekehrt zur überwiegenden, einseitig den offiziellen westlichen Standpunkt propagierenden Berichterstattung einmal die russische Sicht zu vermitteln. "Wir müssen sehen, dass in den vergangenen Monaten der Zug der Ukraine Richtung Nato-Mitgliedschaft an Fahrt aufgenommen hat."
"Russland will jetzt ein Stoppzeichen setzen"
Varwick nannte das neue amerikanisch-ukrainische Sicherheitsabkommen, das Anfang September verabschiedet wurde, als unmittelbaren Anlass: die Aufnahme des Ziels einer Nato-Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung, die "sicherlich nicht ohne amerikanische Unterstützung" zustande gekommen sei. "Russland will jetzt ein Stoppzeichen setzen".
Es gehe jetzt darum, "wirklich einen Krieg zu verhindern". Man müsse verstehen, dass ein Teil der Kritik Moskaus am Westen durchaus berechtigt sei.
Wir müssen uns auch in russische Perspektiven hineinversetzen. Sonst finden wir keine Lösung. Dazu gehört, dass seit 1990 die NATO sich um 14 Staaten erweitert hat, dass die NATO gewissermaßen näher an russisches Territorium herangerückt ist, dass die Handlungsfähigkeit der NATO-Staaten im militärischen Bereich ungleich höher als die russische ist.
Johannes Varwick
"Wir sagen immer, wir bedrohen doch niemand..."
Eine Befriedung der augenblicklichen Situation durch eine Verhandlungslösung liegt auch im Interesse Russlands. Nichts anderes liegt in Putins Forderung, Russland Garantien zu geben.
Wir sagen immer, wir bedrohen doch niemand; das stimmt auch. Aber wenn man mal die Perspektive umdreht, die russische Brille sich aufsetzt, dann kann es nicht im russischen Interesse liegen, dass jetzt auch die Ukraine NATO-Mitglied wird. Wenn das so ist, dann würde Russland davon wirklich massive Beeinträchtigungen seiner Sicherheitsinteressen haben.
Johannes Varwick
Auch darauf, dass die Koordinaten der derzeitigen russischen Außenpolitik völlig unabhängig von Putin bestehen, dass es ein Kontinuum im Verhältnis zum Westen gibt, macht Varwick aufmerksam. "Das wird sich nicht ändern, wenn Putin eines Tages Geschichte ist."
Wenn die Alternative eine Eskalationsspirale sei, "aus der wir nicht wieder sauber herauskommen, dann ist mir lieber, dass wir die hehren, die idealistischen Ziele etwas hinten anstellen und das machen, was Diplomatie machen muss: schmutzige Kompromisse, Interessensausgleich und versuchen, das Schlimmste zu verhindern."
"Der Westen hat sich denkbar ungeschickt angestellt"
Ähnlich argumentiert auch Herfried Münkler. Der emeritierte Politikwissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität erinnert daran, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 für Russland "ein Rückschritt in eine geopolitische Konstellation vor Katharina der Großen und Peter dem Großen gewesen" ist. Und er fordert: "Wir dürfen die Kommunikationskanäle zu den Russen nicht abreißen lassen." Man habe es bisher nicht geschafft, Putin in ein Format einzubinden, das zu einer stabilen Situation führte.
Die westliche Außenpolitik sei zurzeit vorwiegend folgenlose Symbolpolitik. Forderungen, die man "einfach mal so in den Raum spricht", würden den Bürgern als operative Sicherheitspolitik verkauft. "Der Westen hat sich denkbar ungeschickt angestellt."
Pufferzone statt "Worst-case-Szenario"
Münkler hält eine andere, neue Beziehung zwischen Ost und West für notwendig. Er vermisst eine klare Strategie im Umgang mit Russland und regt an, eine stabile Pufferzone zwischen Russland und Europa herzustellen. "Man müsste akzeptieren, dass es eine Einflusszone Russlands gibt und eine von Europäischer Union und Nato. Die überlappen einander. ... Aber wir sollten uns nicht auf eine Auflösung dieser Pufferzone durch eine Willenserklärung der ukrainischen Bevölkerung einlassen."
Interesse westlicher Politik sei es vorrangig, "zu verhindern, dass wir den nach wie vor zutiefst gekränkten, verunsicherten, sich betrogen fühlenden Russen geopolitisch zu nahe kommen. Wir müssen ihre Rationalität, nicht ihre Irrationalität steigern. Politik ist gut beraten, wenn sie lernt, auch in 'worst-case-Szenarien' zu denken."
Für eine Finnlandisierung der Ukraine
Fazit: Niemand will für die Ukraine sterben. Zurzeit ist sie die größte Bedrohung der europäischen Sicherheitslandschaft. Das Beste, das diesem künstlichen, aus dem Hyper-Nationalismus der kurzen Umbruchsphase 1989/1991 entstandenem, vorher nicht existenten Staatsgebilde passieren kann, ist eine "Finnlandisierung".
Die Ukraine wäre dann als ein neutraler Staat in ihrem Bestand gesichert. Ein Staat, in dem die dortige russische Minderheit gleichberechtigt und durch Autonomiestatute ähnlich denen im Baskenland und in Katalonien selbstbestimmt leben kann. Sie wäre wirtschaftlich mit dem Westen wie mit Russland verbunden, politisch durch gegenseitige Sicherheitsgarantien geschützt.
Die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland können und werden nie mehr sein als eine Pufferzone zwischen den Nato-Staaten und Russland, ein Glacis zwischen Ost und West.
Nötig ist eine interessensgeleitete und nüchterne Realpolitik jenseits von gutgläubig-naivem Autonomie-Schwärmerei und Ukraine-Verstehertum und jener Russland-Feindschaft oder -Verachtung, die gerade in Deutschland seit mehr als einem Jahrhundert fatale Tradition hat.