Scholz: Geopolitik der EU und neuer Kalter Krieg zwischen China und USA
Der (geschichts-)vergessliche Kanzler über eine multipolare Weltordnung mit den USA an der Spitze, Nato-Säbelrasseln für den Weltfrieden und andere semantische Spagate. Eine Exegese.
Nachdem ein US-chinesischer Think Tank aus Ökonomen, Journalisten und Juristen Anfang September in Foreign Affairs sein Konzept für eine "bessere" Weltordnung vorlegte (Telepolis berichtete), hat sich Anfang Dezember auch der deutsche Bundeskanzler im renommierten Politmagazin zu Wort gemeldet.
Hierzulande fand der Artikel mit dem Titel "Die globale Zeitenwende – Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann" allerdings wenig Beachtung. Die müsste er aber haben.
Olaf Scholz (SPD) übertraf die Autoren der "US-China Trade Policy Working Group" nicht nur um Längen Text, sondern auch darin, seine Argumente in eine ambivalente Rhetorik zu kleiden. Teilweise so ambivalent und formlos, dass er seiner Vorgängerin und Ratgeberin Angela Merkel Konkurrenz machte. Vor manchen Parallelen verschließen ja selbst die großen deutschen Medien mittlerweile nicht mehr die Augen.
Was kaum zu glauben ist: Wie im Text des transpazifischen Think Tanks finden sich auch bei Scholz versteckte Sticheleien, die das herrschende transatlantische Narrativ herausfordern und wagemutige Kritik am US-amerikanischen Hegemon üben.
So kritisiert Scholz die Großmacht für eine geopolitisch motivierte Interessenpolitik in der Ukraine, verurteilt aufs Schärfste ihre Aufweichung der Atomwaffendoktrin im Angesicht eines drohenden Dritten Weltkriegs und wirft ihr schließlich noch die menschenverachtenden Mordpläne der Central Intelligence Agency (CIA) an Julian Assange vor, der ja lediglich Kriegsverbrechen aufgedeckt habe, die nun endlich in Den Haag verurteilt werden müssten.
Glauben Sie nicht? Sollten Sie auch nicht. Denn diese Themen erwähnte Scholz wenig überraschend mit keinem Wort.
Geschichtsvergessene Geschichten
Eigentlich ist es eine Art Trauerrede. Denn Scholz beerdigt – mit Merkelschem Pathos – die "widerstandsfähige Weltordnung", die sich mit dem Fall der Berliner Mauer ankündigt und eine Zeit des Friedens eingeläutet habe. Damals habe Europa endlich "zusammenwachsen" und vor allem abrüsten können, weil die Länder des ehemaligen Ostblocks den Warschauer Pakt verließen und bald in die Nato eintraten.
Alles wäre wohl perfekt gewesen, hätte ein "imperialistisches" und "revisionistisches" Russland unter Wladimir Putin der Friedensordnung nicht ein schlagartiges Ende bereitet:
"Anstatt den friedlichen Sturz der kommunistischen Herrschaft als Chance für mehr Freiheit und Demokratie zu begreifen, bezeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin diesen [2005] als 'größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts'."
Werden sich die Leser von Foreign Affairs da auch ans Kinn fassen und an die Nato-Osterweiterung denken? Deren Unterbleiben hatten die Sowjets damals schließlich zur Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht und entsprechende Zusicherungen erhalten – auch wenn das in den einseitigen Darstellungen seit der Zeitenwende gerne ignoriert wird. Ebenso wie die Zusicherungen selbst ignoriert wurden.
George H. W. Bush, Ex-Chef der für zahlreiche Regime-Changes verantwortlichen CIA, der in Scholz' Text eher als Europa wohlgesinnter Befreier auftritt, soll hinsichtlich der sowjetischen Konditionen übrigens damals zu Helmut Kohl gesagt haben "Zur Hölle mit ihnen! Wir haben gesiegt, nicht die."
Aber Scholz erzählt eine andere Geschichte.
Eben die des Revisionisten Putin, der sich schon 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz erdreistete, "die regelbasierte internationale Ordnung als bloßes Werkzeug amerikanischer Vorherrschaft [zu] brandmark[en]". Die regelbasierte internationale Ordnung, der Scholz im Artikel seine "unerschütterliche Unterstützung" zusichert.
Dass Putin mit seinem Urteil allerdings bei Weitem nicht alleine ist, und sogar Autoren der Zeitung, in der immerhin Scholz' Beitrag erscheint, seine Meinung teilen, hat Telepolis im eingangs genannten Text herausgearbeitet.
Aber auch das passt eben nicht zu der Geschichte, die Scholz erzählt.
Völkerrecht für Auserwählte
Diese nimmt ihren Lauf mit Russlands Krieg gegen den Nato-Aspiranten Georgien, dann folgen schon die Annexion der Krim 2014, das Untergraben von Rüstungskontrollverträgen oder der "brutale militärische Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien".
Ganz nonchalant übergeht Scholz hier die Rolle der USA im Kaukasuskrieg, lässt die gesamte Vorgeschichte der Maidan-Revolution unter offensichtlicher Einmischung der USA unter den Tisch fallen und verschweigt die wechselseitigen Vorwürfe zum Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF) – die sich die Tagesschau 2019 noch bemühte, differenziert darzustellen – ebenso wie die Ursprünge des Konflikts in Syrien, die sich bis zu einem von vielen Regime-Change-Versuchen der CIA zurückführen lassen. Eine solch einseitige Darstellung spricht Bände. Aber damit nicht genug. Scholz schreibt:
Als Putin den Befehl zum Angriff gab, zerstörte er eine europäische und internationale Friedensarchitektur, die über Jahrzehnte errichtet worden war. Unter Putins Führung hat sich Russland über die elementarsten in der VN-Charta verankerten Grundprinzipien des Völkerrechts hinweggesetzt.
"Look who's talking", würde der US-Amerikaner sagen: Guck mal, wer da spricht. Denn immerhin ist Scholz Mitglied der Partei, die damals zusammen mit Grünen und Linken die Bundeswehr ohne UN-Mandat in den Kosovo geschickt hat.
Die gegen den kommunistischen Systemfeind Slobodan Milošević gerichtete humanitäre Intervention der Bundesregierung, die im vermeintlich segensreichen Jahr 1990 geschworen hatte, nie wieder (am Völkerrecht vorbei) einen Krieg zu beginnen, gab die Süddeutsche Zeitung 2008 einen nachhallenden Namen: "Die Bonner Zeitenwende".
Und angesichts der völkerrechtlich ebenfalls bedenklichen Kriege, die die USA in zahlreichen Ländern – von Indochina und Vietnam bis Irak und Afghanistan, ganz zu schweigen vom Drohnenkrieg – geführt oder unterstützt haben, lässt sich die Behauptung von der unangetasteten Friedensarchitektur schwerlich aufrechterhalten.
Aber dann könnte im Titel des Artikels eben nicht mehr "Zeitenwende" stehen. Ein Narrativ, das Scholz bisweilen so ins Irrationale übersteigert, dass man sich fast fragen muss, ob sein Text es nicht subversiv als solches zur Schau stellen will.
Deutschlands neue Sicherheitsstrategie und die EU als "geopolitischer Akteur mit Gewicht"
So gelte die Zeitenwende auch im Hinblick auf ein nicht länger freies und befriedetes Europa, das sich der Bedrohung eines "imperialistischen Russlands" ausgesetzt sieht. Eines, das beabsichtige, den europäischen Kontinent "in Einflusszonen [zu] unterteilen und die Welt in Blöcke von Großmächten und Vasallenstaaten" aufzuteilen. Woher Scholz die russische Strategie so gut kennt, verrät er nicht.
Das bedrohte Europa, so der Kanzler weiter, müsse erweitert und zu einem "geopolitischen Akteur mit Gewicht" umgebaut werden. Deutschland werde als "einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa" Verantwortung übernehmen, "indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der Nato-Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten."
Mehr Militär, mehr Sicherheit. Das neue Deutschland setzt wieder auf Abschreckung statt auf Diplomatie und Entspannung. Die als Völkerrechtsexpertin gehandelte Außenministerin Annalena Baerbock erklärte "Wandel durch Handel" ja konsequenterweise bereits für gescheitert.
Dazu passt auch, dass Scholz im Nato-Beitritt Schwedens und des russischen Nachbarlands Finnland weniger eine Provokation als eine Stärkung der "euroatlantische[n] Sicherheit" sieht. Gleichzeitig – und jetzt halten Sie sich fest – solle das Vorgehen der Nato "nicht zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen".
Nationalstaatliche Souveränität als Hindernis
Was Friedensverhandlungen mit Putin angeht, spricht sich Scholz konsequenterweise für eine absolute Kompromisslosigkeit aus.
Kein "Diktatfrieden", bei dem Russland Bedingungen stellt, lautet die Parole. Ganz offensichtlich besteht hier deutsch-französischer Gesprächsbedarf, denn Emmanuel Macron hatte mit seinen Sicherheitsgarantien für Russland jüngst andere Töne angeschlagen.
Die neue Säbelrassel-Doktrin der EU, die Deutschland hingegen gemeinsam mit Frankreich verfolgt, soll sich auch in einer neuen "Nationalen Sicherheitsstrategie" niederschlagen, "die wir in wenigen Monaten beschließen werden", schreibt Scholz.
Neben der militärischen Geschlossenheit nach Außen propagiert der Bundeskanzler auch eine politische Geschlossenheit nach Innen. Den Intergouvernementalisten und denjenigen, die der EU schon jetzt ein Demokratiedefizit nachsagen, werden seine Pläne nicht gefallen:
[…] schnelle Entscheidungen [sind]eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Aus diesem Grund hat Deutschland vorgeschlagen, in Bereichen, in denen Entscheidungen derzeit einstimmig beschlossen werden müssen, die Praxis des Mehrheitsbeschlusses schrittweise auszubauen, beispielsweise in der EU-Außenpolitik und bei Steuerfragen.
Blockaden wie solche aus Ungarn oder vom EU-Anwärter Serbien sind dann Geschichte. Doch genug davon. Olaf Scholz ist ja laut Artikel angetreten, um den Kalten Krieg zu vermeiden.
"Der dritte Weltkrieg beginnt mit dem Vergessen" – und Scholz vergisst gerne
Will Scholz in der China-Frage die gleiche Konfrontationskarte spielen? Ja und nein. Scholz bedient sich hier einer Taktik, die auch bei peinlichen Fragen zu geheimen Absprachen mit Bankern oder unterbliebener Finanzfahndung bisher wunderbar funktioniert: Einfach "vergessen" – oder bestreiten, dass es das Problem gibt:
Viele […] sehen einen neuen Kalten Krieg heraufziehen, der die Vereinigten Staaten und China als Gegner in Stellung bringt. Ich teile diese Ansicht nicht. […] Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir derzeit das Ende einer außergewöhnlichen Phase der Globalisierung erleben […] in der die Vereinigten Staaten zur bestimmenden Weltmacht wurden – eine Rolle, die sie auch im 21. Jahrhundert beibehalten werden. […] Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit.
Kommen Sie da argumentativ noch mit? Während die USA weiterhin den Hegemon spielen sollen in einer Welt, die ganz plötzlich aus den Fugen geraten ist, "rechtfertigt Chinas wachsende Macht […] keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus". Und es wird noch widersprüchlicher.
Denn Scholz wirbt für einen "Dialog und Kooperation auch außerhalb der demokratischen Komfortzone" und zitiert als Vorbild die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA. Diejenige Sicherheitsstrategie, in der China als "einziger Wettbewerber […] mit der Fähigkeit zur Neugestaltung der internationalen Weltordnung" – und damit als potenzielle Bedrohung – benannt wird.
Gleichzeitig aber könne China "ein gefährliches Russland" im Zaum halten – ein Land, bei dem Scholz and Friends "Dialog und Kooperation" von vorneweg ausschließen. "Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen sein", schreibt der Kanzler und zitiert damit auch die deutsche Außenministerin.
Der Satz bezieht sich natürlich auf Russlands Doktrin gegenüber einer "militärischen Präsenz an der Nato-Ostflanke", zugleich aber auch auf China und den brodelnden Konflikt um den Inselstaat Taiwan. Wie war das nochmal mit Kuba 1962?
"World War III begins with forgetting", lautet der Titel eines kürzlich erschienenen New York Times-Beitrags des Politologen Stephen Wertheim vom Carnegie Endowment for International Peace. Und der Autor bietet auch eine Erklärung an, warum nicht nur unser Bundeskanzler so vergesslich ist:
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Generationswechsel wurde der Zweite Weltkrieg als moralischer Triumph dargestellt und nicht mehr als warnende Erzählung. […] Die Präsidenten begannen, sich auf den Zweiten Weltkrieg zu berufen, um den Kampf zu verherrlichen und die globale Vorherrschaft der USA zu rechtfertigen.
Die Vorherrschaft, die für unseren Bundeskanzler im 21. Jahrhundert bereits in Stein gemeißelt ist. Und von der manche sagen, sie sei es, der Scholz seine "unerschüttliche Unterstützung" zugesagt habe.