Schüsse auf das Weiße Haus: Wie Russland in die Autokratie abglitt
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Vor 30 Jahren ließ der russische Präsident das gewählte Parlament beschießen. An dieses Ereignis wird in Medien kaum erinnert. Die Unterstützung durch die USA scheint vergessen.
Vor dreißig Jahren erschütterte ein Ereignis die politische Landschaft Russlands: der Beschuss des russischen Parlaments, dem sogenannten "Weißen Haus". Doch an den Jahrestag erinnerten am 4. Oktober nur wenige Medien. Im englischsprachigen Raum lässt sich im Prinzip einzig der Artikel der Associated Press finden. Im deutschsprachigen Raum befasst sich neben "Das Parlament", das die Bundeszentrale für politische Bildung herausgibt, nur "Die Welt" mit diesem wichtigen historischen Ereignis.
Sven Felix Kellerhoff formuliert dort einleitend ein Paradox "Die Feinde der Demokratie verschanzen sich im Parlament, und deren – allerdings handfeste bis grobe – Verfechter lassen eben dieses Gebäude von Panzern in Brand schießen. So geschah es in Moskau Anfang Oktober 1993. (…) Panzer verteidigten also die Demokratie gegen ihre Gegner, indem sie auf den Sitz der Volksvertretung schossen."
Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob demokratisch gewählte Volksvertreter, die sich in der Mehrheit gegen den Präsidenten positionieren, schlicht als "Feinde der Demokratie" bezeichnet werden können, einzig, weil sie Kommunisten sind. Hingegen kann man nicht darüber diskutieren, was Kellerhoff in seinem Artikel nicht erwähnt: Jelzins Anwendung von tödlicher Gewalt wurde im Weißen Haus in den USA voll unterstützt. Auch der Artikel der AP und in "Das Parlament" lassen diesen wichtigen Aspekt unerwähnt.
Schocktherapie und Widerstand
Die Hintergründe zum Sturm auf das Parlament wurden bereits zum 25. Jahrestag ausführlich auf Telepolis dargelegt. An dieser Stelle seien sie deshalb nur kurz zusammengefasst.
Eine wichtige Perestroika-Neuerung unter Gorbatschow war 1990 die weithin als demokratisch akzeptierte Wahl des Parlaments. Nur eine Woche nach der Unabhängigkeitserklärung Russlands im Dezember 1991, die das Ende der Sowjetunion einläutete, startete Boris Jelzin, der erste Präsident Russlands, ein wirtschaftliches Schocktherapieprogramm.
Es sah neben einer Freihandelspolitik auch die erste Phase einer schnellen Privatisierung von rund 225.000 Staatsbetrieben vor. Jelzin unterbreitete dem Parlament den Vorschlag, ihm ein Jahr lang Sonderbefugnisse einzuräumen, damit er Gesetze dekretieren lassen konnte, ohne diese im Parlament abstimmen lassen zu müssen. Innerhalb von "sechs bis acht Monaten" wäre dann die Wirtschaftskrise überwunden.
Jelzin sollte sich täuschen. Ein Großteil der russischen Bevölkerung versank in Armut und die Schocktherapie war extrem unpopulär. Auch das kommunistisch geprägte – aber demokratisch gewählte – Parlament, zeigte immer mehr Widerstand. Jelzin entschied sich, das Parlament aufzulösen. Zuvor unterrichtete er unter anderem die USA, wie es später der damalige US-Botschafter Thomas Pickering schilderte.
Am 21. September traf Jelzin dann eine sehr umstrittene Entscheidung und löste mit dem Dekret 1400 das Parlament auf. Zudem legte er das Datum für vorgezogene Wahlen zu einer neuen Legislaturperiode fest und ordnete ein Referendum über den Verfassungsentwurf an.
Diese Entscheidung bildete aber einen Bruch des russischen Rechts. Artikel 121-6 der Verfassung besagt: "Die Befugnisse des Präsidenten der Russischen Föderation dürfen nicht dazu benutzt werden, die nationale und staatliche Organisation der Russischen Föderation zu ändern, aufzulösen oder die Funktionsweise der gewählten Organe der Staatsgewalt zu beeinträchtigen."
Ende Januar 1993 telefonierte Jelzin mit dem neu gewählten US-Präsidenten Bill Clinton und erklärte:
Ich habe heute ein Dekret über die Wahlen zu einer neuen demokratischen Versammlung unterzeichnet, die am 11. und 12. Dezember stattfinden sollen. Bis dahin werden die Handlungen des Obersten Sowjets und des Kongresses keine Wirkung haben. Alles wird durch ein Präsidialdekret geregelt. Alle demokratischen Kräfte unterstützen mich.
Clinton sicherte ihm seine volle Unterstützung zu, äußerte aber auch seine Besorgnis über das Schicksal des demokratischen Prozesses in Russland.
Alexander Heinrich schreibt hierzu in "Das Parlament"
Viele im Reformerlager, auch in der russischen Intelligenzija und bei den Verteidigern des Perestroika-Erbes, empfanden das mit guten Gründen als einen Befreiungsschlag und Akt der Selbstbehauptung der jungen russischen Demokratie. Die Volksdeputierten und ihre Anhänger sahen in Jelzins Dekret mit ebenso guten Gründen den Versuch eines Staatsstreichs.
Noch in der Nacht kam das russische Verfassungsgericht zusammen und stellte fest, Jelzin habe gegen die Verfassung verstoßen und könne angeklagt werden. Das Parlament entließ ihn und seine wichtigsten Minister.
Zehntausende Menschen gingen in Moskau auf die Straße, um das Parlament zu unterstützen und gegen Jelzins Regierung zu demonstrieren. Es kam zu blutigen Zusammenstößen. Am 3. Oktober 1993 forderte der Parlamentspräsident die Stürmung des Kremls und die Inhaftierung Jelzins. Um 16:00 Uhr erklärte Jelzin für Moskau den Ausnahmezustand. Dieser Erlass beinhaltete auch ein Verbot der Kommunistischen Partei, der Vereinigten Arbeiterfront, der Nationalen Heilsfront und der Union der Offiziere.
Am Abend zogen daraufhin pro-parlamentarische Demonstranten und Bewaffnete zum Fernsehzentrum, um Fernsehzeit für die Darstellung ihrer Sicht zu erzwingen. Aber sie wurden von Einheiten des Innenministeriums und Sonderkräften empfangen. In einer Straßenschlacht wurden dort 46 Menschen getötet und 124 verletzt.
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