Schüsse auf das Weiße Haus: Wie Russland in die Autokratie abglitt
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Beim Sonnenaufgang des 4. Oktober umstellte die russische Armee das Parlamentsgebäude. Nachdem Jelzins Erklärung von seinem Pressedienst bekannt gegeben wurde, gab Jelzin den Befehl, das russische Parlament mit Panzern zu beschießen. 187 Menschen starben nach offiziellen Angaben. Darunter auch Abgeordnete.
Philip Casula kommentiert für "Dekoder":
Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, blieb in der Fassade des Weißen Hauses ein großes, schwarzes Loch. Die Panzergranaten waren in der 14. Etage auf Geheiß des Präsidenten Boris Jelzin eingeschlagen, um den Widerstand des Parlaments zu brechen. Es war dasselbe Weiße Haus, vor dem Boris Jelzin zwei Jahre zuvor, während des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow, noch auf einen Panzerwagen gestiegen war und zur Verteidigung der Errungenschaften der Perestroika aufgerufen hatte; dasselbe Haus, in dem sich die Befürworter der Perestroika 1991 verschanzt hatten und dabei von tausenden Moskauern schützend umringt worden waren.
In der politischen Ikonografie Russlands ist das Weiße Haus damit ein höchst widersprüchliches Symbol: Es steht für die letzte Phase der sowjetischen Macht und für den Aufstieg Jelzins zum Sinnbild der Demokratie in Russland, zugleich markiert es aber auch den Anfang vom Ende einer jungen postsowjetischen, parlamentarischen Demokratie.
Volle Unterstützung aus Washington
Am folgenden Tag rief Clinton bei Jelzin an:
Guten Abend, Boris. Ich wollte dich anrufen und meine Unterstützung zum Ausdruck bringen. Ich habe die Ereignisse genau verfolgt und versucht, dich so gut wie möglich zu unterstützen." Clinton lobte den russischen Präsidenten: "Sie haben alles genau so gemacht, wie Sie es tun mussten, und ich gratuliere Ihnen zu der Art und Weise, wie Sie mit der Krise umgegangen sind." Jelzin antwortet: "Danke für alles. Ich umarme sie von ganzem Herzen.
Nur zweieinhalb Wochen später besuchte der damalige US-Außenminister Warren Christopher den russischen Präsidenten. Jelzin lobte die neue Verfassung, die "den Standards der besten westlichen Demokratien" entspreche und es ermögliche, "das alte totalitäre Regime mit der den Sowjets übertragenen Macht zu beenden."
In diesem für die Frage der NATO-Osterweiterung wichtigen Gespräch war Christopher voll des Lobes für Jelzin und gab die "hohe Wertschätzung" des US-Präsidenten weiter. Laut Christopher bewunderte Clinton "die Zurückhaltung", die Jelzin seit Beginn der Krise an den Tag gelegt habe, und dass er am Ende so handelte, dass "der geringste Verlust von Menschenleben verursacht wurde".
In der US-amerikanischen Administration scheint es nur wenig Kritiker gegeben zu haben. Eine Ausnahme: James Collins, der als Chargé d'Affaire in der US-Botschaft in Moskau arbeitete, verwies in seiner Meldung an Warren Christopher kurz vor dessen Treffen mit Jelzin, dass "sogar viele Reformer sich Sorgen um die Errichtung einer neuen russischen Demokratie machen, die so stark auf die Präsidialmacht ausgerichtet ist". Die neue russische Verfassung bezeichnete er als "unausgereift", weil sie zu viel Macht in die Hände des Präsidenten lege. Er äußerte zudem starke Zweifel, inwiefern die anstehende Wahl tatsächlich demokratischer Natur sein werde.
Eine Gewalttat mit Folgen
"Die damalige Clinton-Regierung sah in Jelzin den Garanten für den demokratischen Übergang in Russland und betrachtete den Ausgang der Krise als einen Sieg der demokratischen Kräfte, so bedauerlich der Verlust von Menschenleben auch war. Viele russische Demokraten betrachteten die Ereignisse von 1993 hingegen als Wendepunkt von der Demokratie zu einer zunehmend paternalistischen und autokratischen Herrschaft Jelzins und seines Nachfolgers." So die Einschätzung von Svetlana Savranskaya vom National Security Archive.
Jelzins Gewalteinsatz sicherte den Erhalt einer pro-westlichen Administration im Kreml, aber sie hinterließ Russland auch ein superpräsidiales politisches System und führte zudem zum "Verlust des Glaubens an die Demokratie" in Russland.
Masha Gessen betont die gravierenden Konsequenzen von Jelzins Befehl, den die USA ausdrücklich gutgeheißen haben: "Was aber in Moskau 1993 passierte, diese Antwort der Regierung auf Konflikt, der Einsatz von Gewalt, war ein totalitäres Signal, das als solches von der Gesellschaft verstanden wurde."
Zwei Monate später, am 12. Dezember 1993, stimmte die russische Bevölkerung in einem Referendum mit knapper Mehrheit für eine neue Verfassung. Sie gab dem Präsidenten im Kreml nahezu uneingeschränkte Macht. Dieser konnte nun im Prinzip nicht mehr des Amtes enthoben werden, während das ebenso demokratisch gewählte Parlament an den Rand des politischen Prozesses gedrängt wurde.
Die neue Verfassung definierte Russland erstmals in seiner Geschichte als demokratischen Rechtsstaat. Alexander Heinrich gibt zu bedenken:
Mit ihrer Fokussierung auf die alles überragende Rolle eines Präsidenten, der ohne Vizepräsident auskommt und Vetos des Parlaments nicht mehr fürchten muss, legte diese Verfassung aber auch den Grundstein für die Machtvertikale und die vom Kreml "gelenkte Demokratie", das Abgleiten Russlands in die Autokratie.
Am 12. Dezember fand auch die Parlamentswahl statt, die Jelzin eine herbe Niederlage zufügte. Seine Partei erhielt nur 15 Prozent, während die nationalistische Liberaldemokratische Partei von Wladimir Schirinowski mit 23 Prozent stärkste Partei wurde und die Kommunisten auf zwölf Prozent kamen.
Philip Casula kommentiert die weitreichenden Konsequenzen des Sturms auf das Parlament:
Die Folgen der Ereignisse von 1993 sind heute verfassungsrechtlich ebenso schwerwiegend wie politisch-kulturell. Dass die alte Verfassung von 1978 nicht für das postsowjetische Russland taugte, wussten damals beide demokratisch legitimierten Institutionen. Doch sie fanden aus dieser Sackgasse keinen legalen Ausweg und stellten sich solange stur, bis Jelzin Panzer auf die Straßen Moskaus schickte.
Letztlich drückte er mit Waffengewalt eine Verfassung durch, die einen möglichen russischen Parlamentarismus im Keim erstickte und seitdem nur noch ein Zentrum der Macht vorsieht: den russischen Präsidenten. Zwar ist diese Verfassung formal die demokratischste, die das moderne Russland jemals hatte, doch fehlen ihr Checks and Balances, die wechselseitige Kontrolle der Institutionen. Der Präsident schwebt förmlich über dem politischen System, während Parlament und Regierung kaum mehr als Ausführungsorgane der Politikvorgaben aus dem Kreml sind.
Die neue demokratische Verfassung begründete einen Superpräsidentialismus, wie ihn kaum eine andere demokratische Verfassungspraxis kennt. Eine demokratische Verfassung allein vermag also nicht, eine liberal-demokratische Ordnung zu begründen. Denn es ist diese Zentralität des Präsidenten, die das politische System Russlands prägt.
Wenn man die außerordentliche Machtfülle des aktuellen Präsidenten Russlands Wladimir Putin beklagt, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass diese Machtfülle primär auf die Verfassungsänderung durch Boris Jelzin zurückzuführen ist und dies ohne die Unterstützung der USA wohl kaum möglich gewesen wäre. Sicherlich war die Situation damals extrem komplex und lässt sich auch heute mit 30 Jahren Abstand kaum objektiv einschätzen, aber ignorieren darf man die indirekte Beteiligung des Westens an dieser Entwicklung nicht.
Gedenktage wären eine passende Gelegenheit, um über das zu erinnernde Ereignis und auch die eigene Beteiligung nachzudenken und nicht zuletzt auch das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen sowie die mögliche Verantwortung zu sehen, die man selbst trägt. Ein Gedenktag, der aber nicht einmal im öffentlichen Diskurs wirklich wahrgenommen wird und dann auch nur ausschnittweise des Ereignisses gedenkt, ohne die Blinden Flecken zur Kenntnis nehmen zu wollen, ist bestenfalls eine verpasste Gelegenheit. Schlimmstenfalls eine verzerrte Geschichtswahrnehmung.
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