Schwache Staaten schaffen

Seite 2: Außenpolitik als Verhinderungsstrategie

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Diese kurze Sozialgeschichte des Irak verdeutlicht, dass erheblicher Aufwand nötig sein kann, um einen einmal funktionierenden Staat zu zerstören. In diesem Fall dauerte es 30 Jahre, kostete Billionen von US-Dollar und Millionen Menschenleben, rechnet man die indirekten Kriegsopfer mit ein.

Der Fall des Iran-Irak-Kriegs, als internationale Akteure unterschiedliche Konflikte zwischen zwei etwa gleich starken Parteien nutzten, um eigene Interessen in der Region durchzusetzen, stellt mit einem Rückblick auf die Kolonialgeschichte eher den Normalfall als eine Ausnahme dar. Insbesondere das britische Empire setzte auf unterschiedliche Varianten des Divide et impera. Das heißt, neben den unmittelbar naturkundlichen Information über Klimaverhältnisse, topographische Zugänglichkeit und mögliche Rohstoffe wurden mit großem Aufwand völkerkundliche Daten erhoben, die es dem Empire ermöglichten, sich als fremde Macht, ausgehend von kleinen Handelsstützpunkten, in regionale Konflikte einzuschalten und diese für sich auszunutzen. In Indien, Nigeria und wo auch immer sie landeten, schürten die britischen Pioniere systematisch Konflikte entlang religiöser oder ethnischer Linien, um den eigenen Aufwand für die Durchsetzung der Herrschaft möglichst gering zu halten.

Im Irak, bereits von 1920 bis 1932 unter offiziellem britischen Mandat, und bis 1958 unter indirekter Herrschaft der Briten, war man entsprechend sensibilisiert, als die Siegermächte die irakische Südzone um Basra unter die Kontrolle der ehemaligen Kolonialmacht gaben. Verglichen mit dem Rest des Landes, wo die "tollen grünen Riesen" vom US-Marine Korps allerlei Unheil anrichteten, blieb es im Süden zunächst relativ ruhig, was auch daran lag, dass sich die Briten in Basra einem weitgehend einheitlichen Machtblock von schiitischen Oppositionsgruppen gegenübersahen, angeführt von Muktada al-Sadr.

Dies trug dazu bei, dass sich schnell Ansätze einer neuen Staatlichkeit wie eine funktionierende öffentliche Verwaltung, ein neues Justizsystems und vor allem relativ stabile irakische Sicherheitsinstitutionen entwickelten, die klar von den Sadristen dominiert waren, welche den sofortigen Abzug aller Besatzungstruppen aus dem Irak forderten. Allerdings nahmen nicht nur die Konflikte zwischen Besatzungsmächten und Sadristen zu. Im Verlauf des Jahres 2004 schienen auch die Spannungen zwischen verschiedenen irakischen Gruppen zu eskalieren, was sich unter anderem in zahlreichen Bombenanschlägen auf Märkte und öffentliche Plätze äußerte.

In dieser Situation kam es im September 2005 bei einer zunächst harmlos erscheinenden Verkehrskontrolle zu einer Schießerei, bei der ein irakischer Polizist von den Fahrzeuginsassen getötet wurde. Die beiden Festgenommen stellten sich überraschend als arabisch gekleidete Angehörige der britischen Spezialeinheit SAS heraus (Showdown in Basra). In ihrem Auto fanden sich neben zahlreichen Waffen auch 120 Kilo Sprengstoff und dazugehörige Fernzünder.

Für die Iraker lag die Interpretation auf der Hand: "Jeder kennt die Agenda der Besatzer", erklärte etwa einer der sadristischen Führer, Abdel al-Daraji, dem britischen Telegraph, "ihre Absicht ist es, den Irak in ein instabiles Schlachtfeld zu verwandeln, damit sie hier ihren Interessen nachgehen können." Die Briten, glaubte al-Daraji, führen Anschläge auf schiitische Zivilisten aus, um sie sunnitischen Gruppen in die Schuhe zu schieben. Dieser Interpretation schlossen sich nicht nur zahlreiche Beobachter aus arabischen Ländern an. Der Korrespondent des britischen Independent, Robert Fisk, kommentierte lakonisch: "Der britische Imperialismus hat schon immer sektiererische Konflikte provoziert und politische Attentate durchgeführt, um sich an der Macht zu halten."

Diese Strategie ist allerdings auch ihrem großen Verbündeten nicht fremd. Als im Frühjahr 2005 der Widerstand gegen die alliierten Truppen seinen Höhepunkt erreichte, griffen auch die US-Streitkräfte auf bewährte Methoden zurück, was auch in zahlreichen amerikanischen Medien offen diskutiert wurde.

Die BBC recherchierte zehn Jahre nach dem Einmarsch, dass General David Petraeus dafür Spezialisten für die Aufstandsbekämpfung einsetzte, die in den 1980er Jahren bereits in Lateinamerika ihr Unwesen getrieben hatten. "Ziel der Operation war es, die sektiererische und interkonfessionelle Gewalt im Irak zu schüren, um so den Aufstand gegen die Besatzungsmacht einzudämmen", so die Autoren.

Die beiden Verantwortlichen für das Programm, James H. Coffman und James Steele, setzten dafür vor allem auf Personen, die nicht von der neuen Regierungsgewalt profitierten, also zumeist auf Sunniten, häufig aus den ehemaligen Sicherheitskräften Saddam Husseins. Mit den "Sons of Iraq" (SOI) bzw. den "Awakening Councils" - Ende 2008 handelte es sich laut den von Wikileaks veröffentlichten Iraq-War-Logs um 54.000 Milizionäre - schufen die USA irreguläre Verbände, die in Opposition zur offiziell unterstützten Zentralregierung in Bagdad standen. Genau aus diesem Milieu entstand das aktuelle Machtvakuum im Irak, in dem der "Islamische Staat" seine scheinbar überraschenden Erfolge feiert. So lautet die Einschätzung der ehemaligen Geheimdienstler Derek Harvey und Michael Pregent gegenüber CNN: "Im Jahr 2013 waren die Sons of Iraq praktisch nicht mehr existent, aber Tausende ihrer ins Abseits gedrängten ehemaligen Mitglieder unterstützten mit dem 'Islamischen Staat in Irak und Syrien' den Krieg gegen die irakische Regierung".

Geographie und Außenpolitik

Es ist nicht einfach, innerhalb der europäischen Diskussionen über Außenpolitik eine Erklärung für diese beispiellose Zerstörungswut gegenüber dem Irak zu finden. Die plausibelste Erklärung bieten vielleicht die Überlegungen von Zbigniew Brzeziński, der Mitte der 1990er Jahre intensiv an der Debatte um Amerikas zukünftige Rolle in der Welt beteiligt war.

Er beschrieb den Irak in seinen geographischen Kategorien als einen natürlichen Feind für Washingtons Pläne zur Raumordnung im Nahen und Mittleren Osten, unabhängig davon, welche Regierung in dem Land regiert. Der Irak, so Brzeziński, liegt anders als Ägypten zentral in der arabischen Welt, zu der er, anders als etwa der Iran, gehört. Außerdem verfügt das Land über die erforderliche Größe, die Naturressourcen und - sehr wichtig - die religiöse und kulturelle Vielfalt, um sich automatisch zu einer bestimmenden Regionalmacht in der arabischen Welt zu entwickeln. Mehr noch als es ein isolierter Blick auf die irakischen Ölvorkommen erlaubt, erklärt diese sozialgeographische Konfiguration, warum das Land heute ein "Failed State" ist.

Als sich der damalige NATO-Oberbefehlshaber General Wesley Clark im Jahr 2001 bei US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erkundigte, ob die amerikanischen Streitkräfte ernsthaft erwägen, den Irak anzugreifen, antwortete Rumsfeld: "Oh, schlimmer noch!" Er präsentierte ein als geheim klassifiziertes Memo, das er angeblich mit den Worten erläuterte: "Dies ist ein Memo, das beschreibt, wie wir in den nächsten fünf Jahren in sieben Länder einmarschieren, beginnend mit dem Irak, dann Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und schließlich, am Ende, in den Iran."

In den meisten der genannten Länder konnte jeder Zeitungsleser die Entwicklung in den vergangenen Jahren verfolgen. Außer Libyen erlebte bisher keines dieser Länder einen direkten militärischen Angriff, aber die bekannten außenpolitischen Strategien zielten auch dort auf Demontage und Zerstörung.

Auch wenn die Obama-Administration im Sinne einer demokratischen Außenpolitik weniger auf direkte Intervention setzt, bleibt doch der Eindruck, dass seine berüchtigte Prämisse "Leading from behind" denselben Zielen gewidmet ist wie der betonte Unilateralismus und der direkte Interventionismus der Bush-Administration. Dass auch Barack Obama dem Militär weiterhin eine zentrale Funktion bei der Gestaltung von Außenpolitik zuweist, betonte er kürzlich auf seiner Rede vor Soldaten in Westpoint: "Das Militär ist und wird immer das Rückgrat der amerikanischen Führung auf der Weltbühne sein." Auch wenn er zugeben müsse, dass die Unterstützung für den Militärmachthaber Al-Sisi in Ägypten reine "Sicherheitsinteressen" zugrunde liegen, richte sich Amerikas Engagement in Zukunft stärker auf "humanitäre Kriege", bei denen einerseits die Schwelle für den direkten Militäreinsatz höher liegt und zweitens die Verbündeten und Partner enger eingebunden werden müssten. Zudem werde Amerika die "Werkzeuge um Diplomatie und Entwicklung erweitern; um Sanktionen und Isolierung; Appelle an das Völkerrecht".

Damit skizziert der amerikanische Präsident den Rahmen, in dem aktuell die Spannungen mit der Ukraine verlaufen. Dies ist der Rahmen, den Frank-Walter Steinmeier und Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz in München beschreiben, wenn sie die Bundesrepublik kriegstauglich machen wollen. Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch "früher, entschiedener und substanzieller" einzubringen. Einen solchen Einsatz von Frank-Walter Steinmeier eröffnete beispielsweise die Ukraine-Krise.