Schweden greift nach dem Impfpass

Impfquote nicht viel besser als Deutschland, keine Masken, aber beneidenswert niedrige Inzidenzen - Schwedens Gesundheitsbehörde will trotzdem "Plan B" umsetzen

Schweden hat aktuell eine Wocheninzidenz von rund 60 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. In Deutschland liegt dieser Wert aktuell bei mehr als 300. Alle diese Werte haben eine Dunkelziffer, und in Schweden dürfte sie gerade besonders hoch sein. Denn seit dem 1. November müssen sich Geimpfte bei Symptomen nicht mehr unbedingt testen lassen - es sei denn, sie arbeiten im Gesundheitswesen, brauchen ärztliche Hilfe oder gehören zu einer erwiesenen Infektionskette.

Sie sollen natürlich zu Hause bleiben, bis sie wieder symptomfrei sind. Diese eingeschränkte Testempfehlung ist heftig kritisiert worden und wurde nun auch wieder geändert: Ab dem 22. November sollen sich wieder alle testen lassen, die Symptome haben, unabhängig vom Impfstatus. Gleiches gilt bei Infektionen im Haushalt. Begründet wurde dies mit einer veränderten Situation angesichts der Entwicklung in den Nachbarländern und steigenden Zahlen in einigen schwedischen Regionen.

Aussagekräftiger als die Inzidenzen ist ein Blick auf die Krankenhausbelegung. In ganz Schweden liegen zurzeit rund 270 Personen wegen Covid-19 im Krankenhaus, davon 30 auf der Intensivstation, bei 10,3 Millionen Einwohnern. Diese Zahlen sind seit Ende September ziemlich stabil geblieben. In Deutschland liegen zurzeit allein in den Intensivstationen mehr als 3000 Covid-Patienten.

Nicht nur in Deutschland, auch in Schwedens Nachbarländern Dänemark, Norwegen und Finnland sind Inzidenzen und Krankenhausaufnahmen zuletzt stark angewachsen. "Wir sehen diesen Anstieg bei uns nicht. Aber wir können uns nicht zurücklehnen und auf das Beste hoffen", so Karin Tegmark Wisell, die neue Chefin der Behörde für Öffentliche Gesundheit, bei der Pressekonferenz am Mittwoch.

Die Nachricht kommt überraschend

Sie rechnet mit einem Anstieg auch in Schweden. Auch die im Haus entwickelten Szenarien sprechen dafür. Die Behörde hat daher die Einführung eines "vaccinpass" ("Impfpass") oder "vaccinbevis" ("Impfnachweis") beantragt, also einen QR-Code, mit dem der Corona-Impfstatus nachgewiesen wird.

Dieses Dokument soll ermöglichen, dass Veranstalter ihre Räume weiterhin voll besetzen dürfen - aber nur mit Geimpften. Angedacht sind Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen. Der Impfnachweis soll keine Pflicht für den Veranstalter sein. Nutzt er ihn nicht, könnte er aber zu anderen Schutzmaßnahmen verpflichtet sein - wie etwa mehr Abstand zu ermöglichen und somit weniger Publikum zuzulassen. Der Impfpass soll ab dem 1. Dezember gelten. Zurzeit gibt es überhaupt keine Einschränkungen. Es trägt auch fast niemand eine Maske.

Die Nachricht kommt etwas überraschend, da die Corona-Situation in Schweden ja vergleichsweise ruhig ist - bisher war die Behörde eher dafür bekannt, zu spät zu reagieren. Allerdings war die Option auf einen Impfpass bereits im Sommer als "Plan B" zur Beratung in den zuständigen Ausschuss gegeben worden. Der Nachweis soll auch tatsächlich nur an Geimpfte vergeben werden - also weder an Getestete noch an Genesene.

Gegen den "Vaccinpass" wurden schon zuvor juristische Bedenken geäußert. Wie die Bevölkerung die Nachricht aufnimmt, muss sich noch zeigen. Über die Frage muss das Parlament abstimmen, denn Schweden hat zurzeit nur eine Übergangsregierung: Ministerpräsident Stefan Löfvén hat zwar nach der Regierungskrise im Herbst noch einmal eine Mehrheit für sich zusammenbekommen, hat nun aber endgültig seinen Rücktritt eingereicht.

Seine designierte Nachfolgerin ist Magdalena Andersson, bisher Finanzministerin und frisch zur Vorsitzenden der Sozialdemokraten gewählt. Sie muss noch um die Linkspartei werben, um bei der Wahl zur Ministerpräsidentin nicht durchzufallen. Sie darf dabei aber auch nicht die Zentrumspartei verprellen, sonst reicht es nicht.

Die geheimnisvolle schwedische Immunität

Woran liegt es nun, dass Schweden von dieser Welle so vergleichsweise wenig betroffen ist? Auf diese Frage antwortete Staatsepidemiologe Anders Tegnell in der jüngsten Pressekonferenz: "Ich weiß es nicht." Man habe darüber diskutiert, ob es mit den vielen Infektionen in der Vergangenheit zu tun haben könnte. Aber andere Länder - wie beispielsweise Belgien - seien in der Vergangenheit ebenfalls stark betroffen gewesen.

Schweden habe allerdings nie das öffentliche Leben so weit heruntergefahren wie andere Länder - deshalb sei der Unterschied nach dem Ende der Maßnahmen nicht so groß. Selbstverständlich hänge die Frage mit Immunität zusammen. Es sei aber schwer, Immunität zu messen. Man müsse darauf vorbereitet sein, dass es eine Entwicklung wie in den Nachbarländern geben könne.

Mögliche Faktoren, die eine Rolle spielen könnten: Die Impfquote in Schweden (68,7 Prozent) ist kaum höher als in Deutschland (67,8 Prozent). Es sind allerdings mehr Personen der Altersgruppe geimpft, die besonders gefährdet ist. Die über 60-Jährigen sind zu mehr als 90 Prozent vollständig geimpft. In Deutschland sind es laut Robert-Koch-Institit 85,7 Prozent der über 60-Jährigen. In Schweden gibt es nun ebenfalls Auffrischungsimpfungen, zunächst für die Altersgruppe ab 65 Jahren.

Schweden hatte in der Vergangenheit eine höhere Virusverbreitung und hat daher auch eine höhere Zahl an Genesenen. 1,18 Millionen Infektionen wurden dort bisher offiziell erfasst, das entspricht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. In Deutschland sind 5,19 Millionen Infektionen offiziell erfasst. Das sind etwas mehr als sechs Prozent.

Bei einer Untersuchung auf Antikörper September/Anfang Oktober mit fast 3000 Proben aus allen Altersgruppen der schwedischen Bevölkerung hatten 75,6 Prozent Antikörper, also ein höherer Anteil als die Impfquote von aktuell 68,7 Prozent.

Schweden hat die Schulen so weit wie möglich offen gelassen. Lediglich für die älteren Schüler gab es Phasen mit Fernunterricht - und bei ganz akuten Ausbrüchen. Mit Ankunft der britischen und der Delta-Variante des Coronavirus waren Kinder und Jugendliche stärker von der Pandemie betroffen. Nach einer Untersuchung zu Antikörpern bei Kindern und Jugendlichen im Juni 2021 hatten bereits mehr als 30 Prozent der Elf- bis 15-Jährigen Antikörper - obwohl die Impfungen für diese Altersgruppe noch gar nicht begonnen hatten. Das Ergebnis beruht auf einer Untersuchung von 642 Kindern und Jugendlichen.

Die hohe Virusverbreitung in Schweden in den früheren Phasen hatte bekanntlich ihren Preis: 15.000 Tote, vor allem in der ersten und zweiten Welle. Das Covid-Datenportal zählt außerdem 26.300 Menschen ab 18 Jahren mit Long Covid und 739 Fälle unter Minderjährigen.

Immer wieder wird auch die geringe Bevölkerungsdichte angeführt. Das ist insofern richtig, als dass es in Schweden einfacher möglich ist, Orte ohne viele Menschen zu finden. Die Menschen haben aber trotzdem Familien, gehen arbeiten, in die Schule und benutzen öffentliche Verkehrsmittel, haben also Kontakte. Die extrem dünn besiedelte Region Norrbotten hat im Verhältnis zur Einwohnerzahl über den gesamten Zeitraum gesehen genauso viele Infizierte gehabt wie das ganze Land.

Wann wird das Virus endemisch?

In seinem jüngsten Podcast widmete sich Virologe Christian Drosten unter anderem der Frage, wann Sars-CoV-2 seinen Status als Pandemie-Erreger verliert und in einem Land endemisch wird - also ein Erreger unter vielen. Im Optimalfall geschieht dies, wenn das Virus auf eine Gesellschaft mit einer maximal möglichen Impfquote trifft, wo nur noch wenige daran schwer erkranken.

Alle, die damit in Kontakt kommen, boostern dadurch ihre Immunität. "Man kann dann eine Nachdurchseuchungswelle in der Bevölkerung erlauben, die dem entspricht, was eine schwere Influenza-Saison ausmacht", so Drosten. Hoffnung dafür sieht er beispielsweise in Spanien. Als nicht optimales Beispiel nennt er Großbritannien, wo diese "Nachdurchseuchung" zu vielen Todesfällen geführt hat, aber insgesamt inzwischen auch zu einer hohen Immunität durch die vielen Infektionen.

Sowohl für Spanien als auch für Großbritannien sieht er aber gute Chancen, dass das Virus dort im kommenden Sommer als endemisch gelten kann und kein Problem mehr für die Gesellschaft darstellt. Deutschland sieht er aufgrund der niedrigen Impfquote noch nicht dort.

Kann Schweden auch darauf hoffen, dass Sars-CoV-2 dort im kommenden Jahr kein Problem mehr darstellt? Die vergleichsweise niedrige Zahl der Erkrankten - ohne Maskenpflicht und andere Arten von Einschränkungen - lässt zumindest darauf schließen, dass die Immunität viel höher ist als die Impfquote es nahelegt. Es ist allerdings deutlich geworden, dass weder Tegnell noch Behördenchefin Tegmark Wisell allein darauf vertrauen wollen.

Die Situation erlaubt Schweden aber, noch die Werkzeuge zurecht zu legen, während andere Länder schon wieder in den Katastrophenmodus kommen. Der Impfpass soll auch Druck auf diejenigen machen, die sich bisher nicht haben impfen lassen. Möglicherweise wird die Diskussion darüber aber von der Frage überlagert, ob Magdalena Andersson nun zur Ministerpräsidentin gewählt wird - oder ob die Linkspartei es zum zweiten Mal in diesem Jahr auf eine Regierungskrise ankommen lässt.

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