Schwellenerfordernisse
Die Bundesrepublik erkennt die internationale Gerichtsbarkeit nicht vorbehaltlos an
Vor genau zehn Jahren erhielt der Internationale Strafgerichtshof mit dem Inkrafttreten des Römischen Statuts seine Rechtsgrundlage und konnte damit seine Arbeit aufnehmen (USA und Israel boykottieren den Internationalen Gerichtshof). Die Bundesrepublik hat sich offiziell stets zu dieser Institution bekannt, will ihr aber ebenso wenig wie dem Internationalen Gerichtshof uneingeschränkte Befugnisse zugestehen. Insbesondere Vergehen von bundesdeutschen Streitkräften bei Auslandseinsätzen hat Berlin den Zuständigkeitsbereichen der Den Haager Richter entzogen.
"Wir brauchen einen internationalen Strafgerichtshof (...) Bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskrieges muss der Gerichtshof tätig werden können", forderte 1997 der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dementsprechend feierte sein Nachfolger Joschka Fischer den Gerichtshof zu dessen Start im Juli 2002 als einen "Meilenstein des Völkerrechts".
An dieser Bewertung der Einrichtung, die von Individuen begangene Menschenrechtsverletzungen ahndet, hat sich offiziell bis heute nichts geändert. Noch Mitte des Monats drängte Außenminister Guido Westerwelle Libyen, das mit Den Haag streitet, weil es dem Diktator-Sohn Saif Al Islam al Gaddafi selber den Prozess machen möchte und deshalb sogar die angereiste Anwältin Melinda Taylor und ihre Übersetzerin festsetzte, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zu kooperieren.
Unterwerfungserklärung mit Vorbehalten
Dabei arbeitet die Bundesrepublik selber nicht vorbehaltlos mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und dem Internationalen Gerichtshof (IGH), der für Konflikte zwischen Staaten zuständig ist, zusammen. So hat sie sich zwar 2008 als 66. Nation der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs unterstellt, in der "Unterwerfungserklärung" aber auch einige gravierende Ausnahmen geltend gemacht.
"Streitigkeiten, welche die Verwendung von Streitkräften im Ausland" oder die "Nutzung des Hoheitsgebietes (...) für militärische Zwecke" betreffen, möchte Deutschland lieber nicht in Den Haag verhandelt sehen. Es befindet sich damit in der nicht durchgehend illustren Gesellschaft von Dschibuti, Kenia, Malawi, Sudan, Ungarn, Indien, Griechenland, Malta, Honduras, Mauritius und Nigeria. "Bestürzt" zeigte sich die Gewerkschaft Ver.di in einem Offenen Brief an den damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier dann auch über den doppelten Streitkräfte-Vorbehalt. "Deutschland erweckt dadurch den Eindruck, es erwäge Militär-Einsätze, von denen es selbst nicht überzeugt sei, dass ihre Völkerrechtsmäßigkeit vom IGH, dem höchsten Rechtssprechungsorgan der UNO, bejaht würde", heißt es in dem Schreiben.
Und in der Tat gaben Ängste über juristische Konsequenzen von Bundeswehr-Aktionen den Ausschlag für die Schaffung rechtsfreier Räume in der Unterwerfungserklärung. "Der Kosovo-Konflikt habe gezeigt, dass auch Deutschland militärische Gewalt in Situationen anwende, in denen die völkerrechtliche Zulässigkeit eben dieser Gewaltanwendung zumindest fraglich gewesen sei. Ähnliches gelte für die Unterstützung des Militär-Einsatzes der Vereinigten Staaten im Jahr 2003", gab der "Rat der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht" im Vorfeld der Entscheidung die Bedenken eines seiner Mitglieder wieder. Andere Völkerrechtler der Gesellschaft plädierten hingegen im Namen des Interesses an einer weiteren Verrechtlichung internationaler Beziehungen für eine vorbehaltlose Anerkennung der Gerichtsbarkeit von Den Haag oder warnten im Falle einer Einschränkung ihres Geltungsbereiches vor einem Ansehensverlust für die Bundesrepublik. Die Studiengruppe des Rates gelangte deshalb in der Frage nicht zu einem einhelligen Votum. "Der Ausschluss der IGH-Zuständigkeit für Militär-Einsätze bleibt ein strittiges Problem", resümierte das Gremium.
Die damals regierende Große Koalition schloss sich der Position der Unbill für die Hardthöhe befürchtenden Juristen an und bestand auf den Ausnahmeregelungen, den Blättern für die deutsche und internationale Politik zufolge vor allem auf Druck des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung und des Ex-Innenministers Wolfgang Schäuble hin.
Obstruktion gegen Artikel 16
Aber auch auf anderen Feldern internationalen Rechts arbeitet Deutschland beharrlich daran, dem Land im Allgemeinen und der Bundeswehr im Besonderen Verfahren zu ersparen. So wendet sich der Staat vehement dagegen, die Beihilfe zu Völkerrechtsverletzungen unter Strafe zu stellen und lehnt deshalb die Aufnahme des Artikels 16 in den Kodex der Rechtsvorschriften zur Staaten-Verantwortlichkeit ab. Dieser Paragraph entspreche nicht dem Völkergewohnheitsrecht, also den ungeschriebenen, sich an allgemeinen ethischen Standards orientierenden Gesetzen, die den Umgang der Nationen untereinander leiten, argumentierte Deutschland in einem Kommentar zu einem Entwurf des Artikels. Damit setzte es sich nicht nur von den Auffassungen aller anderen Länder ab, es ignorierte auch anderslautende Urteile des Internationalen Gerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts.
Nach Ansicht des Völkerrechtlers Helmut Philipp Aust, der dem Artikel 16 ein ganzes Buch gewidmet hat, könnte ein solches Rechtsinstitut das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen begrenzen. Es würde die Staaten zwingen, sich schon frühzeitig darüber Rechenschaft abzulegen, inwieweit ihr Handeln mit dazu beiträgt, gravierende Verstöße gegen ethische Normen zu ermöglichen und so zu Korrekturen veranlassen, schreibt der Wissenschaftler in "Complicity and the Law of State Responsibility".
Davon will die Bundesrepublik allerdings nichts wissen. Gerade weil sie die Ahnung umtreibt, dass einige ihrer Handlungen den Tatbestand der Beihilfe erfüllen könnten, lehnt sie den Paragraphen ab. Die Gewährung von Überflugrechten für US-Maschinen während des Irak-Kriegs zählt ebenso dazu wie die von BND-Agenten vor Ort geleistete Unterstützung. Auch Waffen-Exporte und die Duldung von Flügen über bundesdeutsches Territorium, mit denen die CIA Terror-Verdächtigte in geheime Lager transportierte, stehen in Gefahr, unter den Komplizenschaftsartikel zu fallen. Selbst zivile Akte wie die zeitweilige Finanzierung eines Staudamm-Projektes in der Türkei, dessen Realisierung die Vertreibung von Kurden aus der Region zur Folge hatte, drohen justiziabel zu werden.
Oberst Klein kein schwerer Junge
Aber die Bundesrepublik bemüht sich andererseits auch darum, das internationale Recht zu vervollkommnen. So engagiert sie sich schon seit Jahren dafür, "Aggressionsverbrechen" unter Strafe zu stellen. Nach ihrem Willen soll Den Haag dem Entwurf des Artikels gemäß "das Planen, Vorbereiten, Einleiten oder Ausführen eines Angriffs, der in seinem Wesen, seiner Schwere und seinem Ausmaß offensichtlich die UN-Charta verletzt – durch eine Person, die politische oder militärische Schritte eines Staates auslösen oder Kontrolle darüber ausüben kann", verfolgen. Um dieses Anliegen zu promovieren, hat das Bundesjustizministerium aus Anlass des 10. Geburtstages des Internationalen Strafgerichtshofs sogar ein zweitägiges Symposium in Berlin abgehalten.
Allerdings müssen bundesdeutsche Militärs auch nicht Sorge tragen, wegen eines Aggressionsverbrechens in Den Haag zu landen. Der Artikel-Entwurf enthält nämlich eine so genannte Schwellenklausel, der zufolge nur gewichtige Verstöße gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot Ermittlungen nach sich ziehen. Aber nicht nur das schützt Bundeswehr-Angehörige. "Insbesondere auch aus deutscher Sicht viel wichtiger als das Schwere-Kriterium ist die weitere Konsequenz des Definitionsvorschlages, wonach die Beteiligung an solchen Gewalt-Einsätzen von der Strafbarkeit ausgenommen ist, über deren Völkerrechtswidrigkeit mit ernst zunehmenden Gründen gestritten werden kann", heißt es in einer Kurzstellungnahme des Völkerrechtlers Carl Kress für den Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Und da man nach Meinung von Kress, der den Aggressionsverbrechen-Paragraphen im Auftrag der Bundesregierung in internationalen Kommissionen mitkonzipiert hat, beispielsweise über die Rechtmäßigkeit des Kosovo-Einsatzes streiten kann, ist das schon einmal kein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof. Auch "humanitäre Interventionen", den Afghanistan-Krieg und die 1997 erfolgte Militär-Operation zur Evakuierung von 120 Personen aus Albanien rechnet der Jurist einer vor Strafverfolgung schützenden "Grauzone" zu.
Die Bundesregierung selber führt jedoch nicht die Angst vor Kalamitäten für ihre Truppe als Grund dafür an, in den supranationalen Strafgesetzbüchern so viel Wert auf solche Grauzonen zu legen und Ausnahme-Regelungen in Anspruch zu nehmen. Auf eine Telepolis-Anfrage, weshalb die Bundesrepublik in ihrer Unterwerfungserklärung auf dem Streitkräfte-Vorbehalt bestand, nennt das Auswärtige Amt profanere Motive:
Dem Römischen Statut liegt ausdrücklich der 'Grundsatz der Komplementarität' zugrunde, wonach der IStGH nur dann Gerichtsbarkeit über ein im Römischen Statut aufgeführtes Verbrechen ausüben darf, wenn ein Staat, der Gerichtsbarkeit über diese Verbrechen hat, 'nicht willens oder nicht in der Lage (ist), die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen' (vgl. Artikel 17 Absatz 1 Römisches Statut).
Auswärtiges Amt
Diese Nachrangigkeit hatte schon Klaus Kinkel 1997 in seiner Rede vor der Generalversammlung der UN hervorgehoben, und auch das Auswärtige Amt nennt die Komplementarität auf seiner Internet-Seite an erster Stelle der bedeutsamsten Grundsätze des Internationalen Strafgerichtshofs.
Libyen und anderen Ländern traut die Bundesrepublik jedoch nicht zu, im Sinne eines solchen Grundsatzes zu handeln und Menschenrechtsverletzungen ihrer eigenen Staatsbürger ordnungsgemäß vor Gericht zu bringen. Dabei bestehen ernstliche Zweifel an der Urteilskraft in eigener Sache. Der Bundeswehr-Oberst Georg Klein beispielsweise, der im September 2009 in Kundus einen Bombenangriff auf einen Tanklastzug befahl, bei dem über 100 Menschen – ein Großteil davon Zivilisten – starben, ging straffrei aus. Es kam nicht einmal zu einem Verfahren. Die Bundesanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein und die Bundeswehr hielt die Angelegenheit sogar schon nach Vorermittlungen für erledigt, während das Oberlandesgericht Düsseldorf einer Mordanklage die Zulassung verweigerte.
Und ob ein gesonderter Gerichtsstand für Straftaten von Soldaten im Ausland, wie ihn die Bundesregierung derzeit in Kempten plant, solche Kollateralschadensfälle angemessener beurteilen wird, steht auch sehr in Frage, soll er doch laut Bundesjustizministerium mit Juristen operieren, "die sich mit den speziellen Abläufen von Auslandseinsätzen und Auslandsermittlungen auskennen".