Schwererer Abschied vom Korporatismus
CDU und SPD wollen gemeinsam Gesetze und bei Bedarf auch die Verfassung ändern, um den etablierten Gewerkschaften Konkurrenz vom Hals zu halten
Letzte Woche fällte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil, das in der Politik selten einhellige Ablehnung hervorrief: Es hob die Tarifeinheit auf, weshalb es nun in mehr Unternehmen als bisher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften nebeneinander geben kann.
Hubertus Heil, in der SPD-Bundestagsfraktion zuständig für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit, prognostizierte eine durch das Urteil angestoßene Entwicklung, die "weder vernünftig noch im Interesse sozialer Stabilität" sei". Und Michael Fuchs, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, brachte sogar eine Verfassungsänderung ins Spiel, mit der er die Gerichtsentscheidung aushebeln will. Es könne, so Fuchs in bemerkenswerter Verachtung der Tarifautonomie, schließlich nicht angehen, dass "jeder durchzieht, wozu er gerade Lust hat".
Doch nicht nur CDU und SPD, auch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sind sich darin, wie die Politik auf das Urteil reagieren sollte, bemerkenswert einig: Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), warnte vor der "Zersplitterung des Tarifvertragssystems", der "Vervielfachung kollektiver Konflikte" und - für einen Unternehmerfunktionär ausgesprochen ungewöhnlich - vor einer "Spaltung der Belegschaften". Dafür hätten die Äußerungen des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer der "Krisen und Chaos" an die Wand malte, genauso gut aus den Reihen derer kommen können, denen Sommer theoretisch als Opponent gegenüberstehen sollte.
Es ist möglich, dass Sommer die Befürchtung hegt, eine indirekt aus dem Urteil folgende steigende Zahl von Streiks könne sich im Endergebnis für alle Arbeitnehmer negativ auswirken. Aber vieles spricht auch dafür, dass seine Äußerungen von einer noch größeren und deutlich realeren Gefahr für sein eigenes Gewerkschaftskartell bestimmt sind.
Die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften gingen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zurück. Das liegt zum Teil am Zeitgeist - aber dieser Zeitgeist war wiederum dadurch geprägt, dass die etablierten Organisationen die objektiven Interessen von immer mehr Arbeitnehmern nicht mehr durchsetzten. Besonders augenfällig zeigte sich dies in den letzten Jahren bei Transnet und Verdi.
Die DGB-Bahngewerkschaft Transnet sprach sich - anders als ihre kleinen Konkurrenten GDL und GDBA für die Privatisierung der Bahn aus. Ihr ehemaliger Chef Hansen wechselte kurz nach einem Tarifabschluss nicht nur in den Bahnvorstand, sondern stellte von dort aus auch gleich noch Forderungen nach einem kräftigen Personalabbau.
Versagergewerkschaft Verdi
Das andere besonders frappante Negativbeispiel, die Riesengewerkschaft Verdi, sollte vom Öffentlichen Dienst bis zu den Verlagen alles unter einen Hut bringen. Als sich vor neun Jahren die Gewerkschaften für Angestellte (DAG), Postler (DPG), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Medien, Druck, Papier, Publizistik und Kunst (IG Medien) sowie für öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) zusammengeschlossen wurden, da war viel davon die Rede, dass sich die Gewerkschaften durch den Zusammenschluss "fit" für die "neue Zeit" machen würden. Doch wie bei ähnlich enthusiastisch betriebenen Elefantenhochzeiten von Unternehmen folgte auch bei Verdi schon bald Ernüchterung.
2001 hatte die gerade neu entstandene "größte Dienstleistungsgewerkschaft der Welt" fast 2,9 Millionen Mitglieder. Fünf Jahre später waren es nur noch gut 2,2 Millionen. Die Funktionäre schoben diesen Rückgang auf den Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst, in der Druckindustrie und bei den Banken. Das war zum Teil richtig - doch dazu, dass die Entlassenen Verdi den Rücken kehrten, trug auch eine Vervielfachung der Beiträge für Erwerbslose entscheidend bei.
Zudem kann auch der Arbeitsplatzabbau den rapiden Mitgliederschwund bei Weitem nicht vollständig erklären: Eine weitere wichtige Ursache liegt offenbar in der Unzufriedenheit von immer mehr Mitgliedern über eine fast beispiellose Versagensgeschichte: Außer "Lohnerhöhungen" unter oder nur knapp über der Inflationsrate kam selten etwas heraus - dafür gab es regelmäßig unbezahlte Verlängerungen der Arbeitszeit.
Möglicherweise um davon abzulenken, dass nach Tarifverhandlungen immer häufiger die Maximalziele der Arbeitgeber schöngeredet werden mussten, verlegte sich die "Dienstleistungsgewerkschaft" auf Forderungen wie die nach mehr Monopolrechten für die Rechteinhaberindustrie, während dem Carta-Autor Philipp Otto zufolge "nahezu der gesamte Bereich der Kreativschaffenden im Internet [...] bei Verdi kein zu Hause" mehr findet.
Allerdings stand die Dienstleistungsgewerkschaft hier nicht allein: Auch der DGB machte mehr mit Aufrufen zur Internet-Zensur auf sich aufmerksam, als mit dem Erkämpfen neuer Arbeitnehmerrechte. Zur EU, einem Kernproblem von Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen, schwiegen die häufig eng mit der Politik verbandelten Funktionäre dagegen oder lobten sogar den "Verfassungsvertrag".
Funktionäre in Aufsichtsräten
Verdi-Chef Bsirske blieb auch dann noch im Amt, als bekannt wurde, dass er in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem nur 0,1 Prozent über der Inflationsrate liegenden Tarifabschluss mit der Lufthansa auf Kosten der Fluggesellschaft in einen fünfwöchigen Südseeurlaub flog. Bsirske, so wurde vonseiten der Verdi-Funktionäre argumentiert, wäre der kostenlose Erste-Klasse-Flug in den Urlaub als Aufsichtsratsmitglied bei der Lufthansa zugestanden, weshalb es sich nicht um Korruption, sondern höchstens um "Instinktlosigkeit" handeln könne. Doch genau diese Argumentation legt offen, dass der Kern des Problems weniger im Fehlverhalten einer einzelnen Person liegt, als in der Organisations- und Verwaltungspraxis großer Gewerkschaften.
Wozu sind professionelle Funktionäre nötig? Ohne sie, so die Befürworter, stünden schlecht ausgebildete Arbeitnehmervertreter in der Gefahr, bei Tarifverhandlungen über den Tisch gezogen zu werden. Die Argumentation ist nicht ganz von der Hand zu weisen - auch wenn sie aus einer Zeit stammt, als Arbeiter mit ein paar Jahren Volksschule häufig nicht nur keine Bilanzen, sondern auch andere Sachen nicht lesen konnten. Doch zu diesem Argument gibt es mittlerweile ein gewichtiges Gegenargument - nämlich, dass über das Funktionärswesen eine besondere Form der "Sozialpartnerschaft" entstand: Manager und Funktionäre gehören - Schnauzbärte und hässliche Sakkos hin und her - nicht nur derselben Gehaltsklasse, sondern auch derselben sozialen Schicht an. Und beide verkehren nicht nur auf Flügen der Ersten Klasse eng miteinander, sondern auch in Aufsichtsräten.
Die Suche nach konkreten Erfolgen bei der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen durch Gewerkschaftsfunktionäre in solchen Aufsichtsräten bleibt bemerkenswert erfolglos - außer, man zählt auch Fälle wie den von Ex-IG-Metall-Chef Klaus Zwickel hinzu, der im Vodafone-Skandal durch seine "Stimmenthaltung" mit dafür sorgte, dass dem Manager Esser Abfindungen und Prämien in Höhe von insgesamt 59 Millionen Mark gezahlt werden konnten. Ein Handeln, das wenigstens einem Arbeitnehmer eine gehörige Gehaltssteigerung einbrachte - auch wenn der kein Gewerkschaftsmitglied war.
Ende der gewerkschaftlichen Niedriglohnpolitik?
Die gerichtlich erzwungene Lockerung der DGB-Monopole könnten auch ein Ende der prozentualen Lohnerhöhungen einläuten - eine Art gewerkschaftliche Niedriglohnpolitik, die Ungleichheiten verschärft. Die DGB-Gewerkschaften setzten nämlich trotz zunehmenden Auseinanderklaffens der Einkommensschere auch in den Neunziger und Nuller Jahren auf prozentuale Steigerungen statt auf Festbetragsforderungen - zum Nachteil der Geringverdiener.
Auf die Frage, warum statt einer prozentualen nicht eine Festbetragsforderung erhoben wird, antwortete Verdi Telepolis vor ein paar Jahren ausweichend, dass dies das "Entgeltsystem durcheinanderbringen" und dazu führen würde, dass sich die Einkommensgruppen immer mehr annähern. Tatsächlich ist in der bundesdeutschen Realität genau das Gegenteil der Fall: Zwischen 1995 und 2005 stieg die Lohnspreizung nach OECD-Angaben erheblich - was bedeutet, dass sich die Einkommensgruppen gesamtwirtschaftlich gesehen nicht annäherten, sondern entfernten.
Noch deutlicher wird die Wirkung prozentualer Lohnsteigerungen, wenn man die Managergehälter für einen Vergleich heranzieht, die allerdings übertariflich gezahlt werden: Erhält ein Manager mit einer Million Jahresgehalt 3 Prozent mehr, dann sind das 30.000 Euro und damit mehr als das Doppelte des Jahresgehalts eines Geringverdieners mit 15.000 Euro. Bei diesem würde ein dreiprozentiger "Lohnzuwachs" zu einem großen Teil von Preissteigerungen für Energie und andere Güter des täglichen Bedarfs aufgefressen.
Obwohl die Managergehälter außertariflich gezahlt werden, sind auch hier die Gewerkschaften mit verantwortlich - durch ihre Mandate in den Aufsichtsräten, über die sie in den letzten Jahren den Gehaltssteigerungen, Boni und Abfindungen zustimmten. Dietmar Hexel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands kündigte vor zwei Jahren im Handelsblatt an, dass Vertreter der Gewerkschaften in solchen Gremien "überhöhten" Managergehältern nicht mehr zustimmen würden. Bei der Definition dessen, was "überhöht" ist, legte der großzügige Gewerkschafter dabei durchaus andere Maßstäbe an als jene, nach denen Manager Niedrigverdienerforderungen ab etwa 3 Prozent als "überhöht" bezeichnen: "Zweistelligen Zuwachsraten bei Vorstandsbezügen", so Hexel, "werden wir nicht mehr zustimmen".