Science March: Spät, aber wichtig

Seite 2: Schlechtere Arbeitsbedingungen

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In den letzten zwanzig Jahren haben sich nämlich die Arbeitsbedingungen auf dem akademischen Arbeitsmarkt zunehmend verschlechtert. Dahinter stecken nicht nur ökonomische Faktoren, die mit der Globalisierung zu tun haben, sondern auch politische Entscheidungen. So führt die zunehmende Fokussierung auf Drittmittelforschung zu immer mehr Forschungsprojekten mit begrenzter Dauer - und für die sind eben flexibel anzustellende, doch hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler notwendig.

Ein Übersichtsartikel in Nature zeigte, dass sich die Anzahl der Postdocs, also Forschende nach der Promotion, in den USA von 1979 bis 2012 verdreifachte. Dabei haben Postdocs in der Regel nicht nur befristete Verträge, sondern verdienen auch nur in etwa die Hälfte.

Warum eigentlich für die Wissenschaft auf die Straße gehen? Es fällt mir leichter, zu sagen, warum ich es lieber nicht sollte. Denn die Forschung und Lehre an Hochschulen finde ich oft ziemlich schlecht: die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die strikten Hierarchien, die allgegenwärtige Vetternwirtschaft, die schlechten Aussichten auf Arbeitsstellen, die Benachteiligung von Frauen, Migranten und sozial Unterprivilegierten…

Kommentar des Berliner Postdocs Thomas Grohmann auf Zeit Online

Billige Arbeitskräfte

Zusammen mit den Doktorandinnen und Doktoranden sind sie, ökonomisch gesehen, damit vor allem eins: billige Arbeitskräfte, deren hoch spezialisierte Tätigkeiten (noch) nicht automatisiert werden können. In den Lebenswissenschaften, wo rund zwei Drittel der Postdocs arbeiten, wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben: So bekommen Forschende in der Medizin in Deutschland die Arbeitszeit für ihre Doktorarbeit teilweise gar nicht vergütet. Ich habe im eigenen Bekanntenkreis genügend solcher Exemplare gehabt, die fast zu jeder Tages- und Nachtzeit für die Laborleitung bereit standen.

Warum aber Drittmittelforschung? Zum einen wegen Kürzungen öffentlicher Mittel. Es war ein ausdrücklicher Wunsch der Wissenschaftspolitik etwa auch in der Bologna-Erklärung von 1999, dass Forscherinnen und Forscher im Wettbewerb zueinander stehen. Konkurrenzkampf sichere die Qualität. Zum anderen sind Drittelmittel auch zu einem Maßstab für Qualität geworden.

Auswuchernde Qualitätskontrolle

Das bringt mich auf einen anderen Punkt, nämlich die Qualitätssicherung. Auch dies stand so schon in der Bologna-Erklärung. Dazu kam die Anforderung der Standardisierung. Diese dient wiederum der besseren Vergleichbarkeit von Forschenden und Disziplinen untereinander. Dabei war und ist es oft genug egal, ob man Äpfel mit Birnen vergleicht, so lange man nur vergleicht - und das heißt vor allem: quantifiziert.

Es geht um den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Forschungsansätzen, deren Leistungen und den vergleichenden Bewertungen derselben. Manche Leistungsmaße (z.B. wirtschaftliche Verwertbarkeit, Publikationsanzahl, Zitationsindex) sind so beschaffen, dass mit ihnen bestimmte Forschungsansätze systematisch bevor- bzw. benachteilt werden. Dies ergibt sich schlicht aus den strukturellen Eigenarten der jeweiligen Ansätze. …

Wenn diese Evaluationspraxis um sich greift und wenn deren Ergebnisse wissenschaftspolitische Entscheidungen lenken, dann führt dies in der Psychologie zu einer starken Engführung ihres Erkenntnisfeldes. Dies hat massive Kompetenzverluste zur Folge, verbunden mit wichtigen berufspolitischen Konsequenzen.

Der inzwischen lang emeritierte Psychologieprofessor Uwe Laucken hat die erkenntnisschädigenden Folgen der heutigen Qualitätssicherung bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 2002 geschildert.

Faktisch gibt es im Konkurrenzkampf also einen Drittmittelzwang. In meinen Arbeitsverträgen, die dank des Einsatzes der Gewerkschaften hier in den Niederlanden für die nachfolgenden Generationen entschärft wurden, stand das so auch ausdrücklich drin: Wer keine Gelder einwirbt, der fliegt raus. Damit werden Forschende aber nicht nur unter Druck gesetzt, sondern auch von externen Einflüssen abhängig, eben den Geldgebern.

Ende der Unabhängigkeit

Das können sowohl öffentliche Institutionen sein als auch private Stiftungen oder die Industrie. Das klingt vielleicht unschuldig, bedeutet aber in der Praxis, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mehr selbst ihre Agenda bestimmen können. Das führt gerade in der Gesundheits- und Pharmaforschung, in der es um Milliarden gehen kann, zu problematischen Interessenskonflikten.

Dabei stehen viel zu wenig Drittmittel zur Verfügung. In den wichtigsten Runden ist es nicht unüblich, dass die Erfolgsquoten zwischen gerade einmal zehn und zwanzig Prozent liegen. Und auch diese Bedingungen verschlechterten sich mit der Zeit: Einem anderen Nature-Bericht zufolge fielen die Erfolgsquoten bei den amerikanischen National Institutes of Health etwa zwischen 1985 und 2014 auf die Hälfte.Sozialdarwinismus oder fairer Wettbewerb?

Selbst wenn man hier die harte Konsequenz zieht, dass dies eben Sozialdarwinismus ist und der Wettbewerb der Qualitätssicherung dient, kosten diese Bemühungen Zeit, die nicht für Forschung verwendet werden kann. Gemäß einer Umfrage unter Forschenden bleibt nicht einmal mehr 40% der Zeit zum Forschen. Allein ein Fünftel fällt demnach für Drittmittelanträge und Verwaltung an.

Was hierbei noch gar nicht berücksichtigt wurde, ist die Fairness des Wettbewerbs. Drittmittelanträge werden genauso wie Publikationen von externen Gutachterinnen und Gutachtern beurteilt, den sogenannten Peer Reviewern. Zwar glaube ich prinzipiell an das Gute im Menschen, doch selbst wenn die Kolleginnen und Kollegen nicht unter starkem Zeitdruck stehen, wie es meistens der Fall ist, kann hier viel schief gehen.

Begutachtung mit Interessenkonflikt

Natürlich spricht viel für eine unabhängige Begutachtung, wieder das Stichwort Qualitätssicherung. Das Prädikat "Wissenschaft" soll Erkenntnisse auf besondere Art und Weise auszeichnen. Genauso argumentierten auch viele Demonstrierende auf dem March of Science. Fehler, ob absichtlich oder versehentlich, können schlimme Folgen haben, wenn wir etwa an die Medikamentensicherheit oder komplexe Technologien denken.

In der Praxis haben aber die Peer Reviewer, manchmal auch mit Blick auf neutrale Schiedsrichter auch als Referees bezeichnet, in der Regel einen Interessenkonflikt: Entweder besitzen sie die nötige Fachkenntnis; dann sind sie aber wahrscheinlich Freunde des Forschenden oder aber Konkurrenten und damit in beiden Fällen nicht neutral. Oder sie sind Fachfremde und müssten sich unter großem Zeitaufwand, der in aller Regel nicht entschädigt wird, erst in die Materie einarbeiten. Eine Bekannte erzählte sogar einmal, von einem befreundeten Wissenschaftler habe sie ihr eigenes, anonymisiertes Paper zur Begutachtung zugeschickt bekommen - weil der andere es wegen Zeitdrucks nicht bearbeiten konnte.

Kapital- und Aufmerksamkeitsinteressen

Dabei ist die wichtigste Instanz auf dem Wege ins Peer Review noch gar nicht genannt: der Editor. Viele sind sich nicht im Klaren darüber, dass die Editors häufig Angestellte gewinnorientierter Unternehmen sind, nämlich der Verlage, gerne mit Niederlassung in den USA oder Großbritannien. Sie haben zwar wahrscheinlich selbst eine wissenschaftliche Ausbildung, arbeiten aber nicht mehr in der Wissenschaft, sondern in der Privatwirtschaft.

Bei ihnen landen alle unveröffentlichten Forschungsideen; in ihren Händen liegt es, eine Forschungsarbeit gleich abzulehnen oder an Gutachterinnen und Gutachter zu schicken. Dabei muss allen klar sein, dass man durch die Auswahl der Peer Reviewer den Erfolg einer Begutachtung entscheidend beeinflussen kann. Die Fachzeitschriften stehen aber in Konkurrenz untereinander, wer die Arbeiten publiziert, die am meisten zitiert werden.

Das bedeutet also: Entscheidungen darüber, wer etwa in Deutschland, den Niederlanden, in Schweden und so weiter Professorin oder Professor wird, hängen von Kapital- und Aufmerksamkeitsinteressen ab - und von den konkreten Handlungen privatwirtschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den englischsprachigen Ländern.

Blindes Vertrauen

Der wichtigste Schritt sowohl beim Veröffentlichen von Artikeln als auch beim Einwerben von Drittmitteln hängt entscheidend von Personen ab, die weder demokratisch legitimiert sind, noch öffentlich arbeiten. Die Arbeit der Editors ist in der Regel ebenso geheim wie die Namen der Peer Reviewer. Wenn diese nicht gut arbeiten, steht und fällt die Wissenschaft mit der persönlichen Integrität von Personen, die häufig genug nicht der Forschung, sondern ihren Geldgebern verpflichtet sind.

Wenn man bedenkt, wie viel Macht, Geld, Einfluss und Erfolg an den Entscheidungen solcher Personen hängt, dann ist es äußerst merkwürdig, dass ihnen schlicht vertraut wird. Man denke kurz an die Dopingfälle des Sports oder Korruptionsskandale von Firmen, denen man jahrelang blind vertraute. In jedem Fall ist damit klar, dass das System des Peer Reviews nicht den Kriterien eines fairen und rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens genügt.

Öffentliches wird geheim entschieden

Dabei könnte diese kulturelle und in ihrem Wesen selbst philosophisch-rechtswissenschaftliche Errungenschaft der modernen Wissenschaft durchaus als Vorbild dienen, nämlich mit Richterinnen und Richtern als unabhängigen Urteilsinstanzen und der Möglichkeit einer Berufung. Zur Fairness gehört auch die Akteneinsicht. Man könnte also den ganzen Prozess des Peer Reviews zumindest öffentlich machen, damit die essentiellen Entscheidungen einer ohnehin auf Veröffentlichung ausgerichteten Wissenschaft nicht länger im Geheimen getroffen werden.

So wichtig der March for Science war, so sehr hat mir diese selbstkritische Komponente gefehlt. Gerne wurde gesagt, dass Wissenschaft auf Fakten basiert, nicht auf Meinungen; aber auch Fakten beruhen auf der Interpretation von Theorien und Daten. Deshalb gibt es ja auch gerade Meinungsverschiedenheiten unter Forschenden: weil sie unterschiedlicher Ansicht darüber sind, wie etwas zu messen oder zu beschreiben sei und wie die unter einer Messung oder Beschreibung entstandenen Beobachtungen und Daten zu verstehen sind.