"Seit Anfang der 30er Jahre gab es in unseren Köpfen immer einen Krieg gegen irgendetwas"

Marcus Raskin, Politik-Professor und Mitbegründer des "Institute for Policy Studies", über den Afghanistan-Krieg, die Gefahr eines Angriffs auf den Iran, den innenpolitischen Belagerungszustand und die Chancen eines Linksrucks in den USA

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Der am 30.April 1934 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Russland in Milwaukee/Wisconsin geborene Marcus Raskin ist einer der profiliertesten Vordenker des linksliberalen Lagers in den USA. Ende der 50er Jahre zunächst Berater einer Gruppe linksliberaler Kongressabgeordneter (darunter James Rossevelt, dem ältesten Sohn des ehemaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt) wurde er 1961 als Assistent des Nationalen Sicherheitsberaters McGeorge Bundy Mitglied der Administration des neu gewählten Präsidenten John F. Kennedy. Nach Auseinandersetzungen mit Bundy über die von diesem befürwortete Eskalation des Militäreinsatzes in Indochina wechselte Raskin in die bildungspolitische Abteilung des Präsidentenamtes. 1963 verließ er den Regierungsdienst und gründete zusammen mit Richard Barnet, einem ehemaligen leitenden Beamten des US-State Departement das unabhängige und progressive Institute for Policy Studies. Zugleich lehrte er an der George Washington University Politikwissenschaften.

Charakteristisch für Raskins Lebenslauf war und ist die Verbindung von theoretischer Arbeit und praktischer Intervention. So verfasste er gemeinsam mit Bernard Fall 1965 den “Vietnam Reader”, der inhaltliche Grundlage zahlreicher Teach-ins im ganzen Land war und einen wichtigen Anteil an der Entwicklung der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg hatte. 1968 wurde Marcus Raskin zusammen vier weiteren prominenten Intellektuellen wegen Verschwörung zur Unterstützung des Widerstandes angeklagt. Die Gruppe wurde als die “Boston 5” bekannt und später freigesprochen. Auch danach spielte das Engagement in der Friedensbewegung eine wichtige Rolle, sei es in den 80er Jahren in der Bewegung für einen Stopp der atomaren Rüstung als Vorsitzender von Sane-Freeze (heute Peace Action) oder im Rahmen der Bewegungen gegen den Afghanistan- und den Irak-Krieg.

Stark beeinflusst wird Raskins Denken, der auch zum Herausgeberkreis der Zeitschrift The Nation gehört und über enge Kontakte in Gewerkschaftskreise und die schwarze Bürgerrechtsbewegung verfügt, von den Arbeiten des amerikanischen Pragmatisten John Dewey, dem französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre und generell der Politik der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre.

Marcus Raskin. Bild: IPS

Professor Raskin, halten Sie es für möglich, dass sich die Bush-Administration trotz ihrer schlechten Umfragewerte in ein neues militärisches Abenteuer stürzt und den Iran angreift?

Marcus Raskin: Bush hat ganz klar gesagt, dass er die Absicht hat, vor dem 20. Januar 2009 (an dem er sein Amt an seinen Nachfolger übergibt; Anm.d.V.) all das zu tun, was er für notwendig hält. Und der Präsident hat stets erklärt, dass er das Gesicht des Mittleren Ostens verändern will. Er ist zu einem neuen Konflikt bereit, weil er den Krieg als Teil der amerikanischen Tradition und die Vereinigten Staaten als kriegerischen Staat betrachtet. Nach dem 11.September 2001 hat er, um die Präventivschläge zu rechtfertigen, den „Opfer“-Begriff benutzt. Das ist etwas Neues. Vom 2.Weltkrieg bis zu den Terroranschlägen gegen Washington und New York war es unmöglich, erfolgreich die Vorstellung zu nutzen, dass die USA Opfer seien. Sicher hat Bush an Macht verloren und die Leute glauben ihm nicht mehr, aber wenn sich der Präsident für ein Bombardement entscheidet, werden die Militärs ihm folgen. Sollte Israel den Iran angreifen, dann wird es die Unterstützung der Vereinigten Staaten haben und zwar sowohl von den Republikanern als auch von den Demokraten. Kurz gesagt, es kann sein, dass sich der Präsident, der am 20.Januar 2009 die Macht übernimmt, in der schrecklichen Lage befinden wird, mit einem sich ausweitenden Krieg fertig werden zu müssen.

In Ihrem Buch “The four freedoms under siege” sprechen Sie von der Belagerung der vier Freiheiten. Was meinen Sie damit?

Marcus Raskin: Die Armut, die wachsende Ungleichheit, die Geheimoperationen der Regierung und die Kontrolle der Bürger bringen die von Präsident Roosevelt vor dem Kriegseintritt 1941 verkündeten Freiheiten (Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie Freiheit von Not und Angst) in Gefahr. Parallel zum Diskurs über die Freiheiten hat immer auch jener andere Diskurs eine Rolle gespielt, dem zufolge man die Bevölkerung mit Hilfe des Krieges mobilisieren muss. Das heißt durch den Krieg gegen die Armut, den Krieg gegen den Krebs usw. Seit Anfang der 30er Jahre gab es in unseren Köpfen immer einen Krieg gegen irgendetwas. Einen kriegerischen Staat, der gleichzeitig die individuellen Rechte und die Möglichkeit, sie durchzusetzen, garantierte.

Viele europäische Regierungen versprechen aktuell Washington ein stärkeres Engagement in Afghanistan, erwähnt seien hier nur die jüngsten Äußerungen von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy, Italiens Ministerpräsident Berlusconi oder Deutschlands Verteidigungsminister Jung. Wie sieht für die USA die Lage an der ersten Front aus, die im so genannten “Krieg gegen den Terror” eröffnet wurde?

Marcus Raskin: Sowohl Barack Obama als auch John McCain schlagen vor, die militärische Präsenz in Afghanistan zu erhöhen. Die Niederlagen des britischen Empire und Russlands haben uns nichts gelehrt, weil die USA glauben, dass sie die Geschichte schreiben und aus der Geschichte nichts lernen müssen. Ein Prinzip, das zu vielen Fehlern geführt hat. Zu strategischen Fehlern (die Kriegsführung betreffend) und zu moralischen Fehlern (in der Frage, warum man ihn überhaupt führt). Alle Regierungen – auch die den USA feindlich gesinnten – meinen, dass die Vereinigten Staaten eine „unentbehrliche Macht“ seien. Eine neue Generation ist allerdings dabei, ein anderes Gefühl zu verbreiten, eine andere Meinung zu vertreten. Ich meine die Gewaltfreiheit, den Aufbau von Bewegungen von unten, die Bedeutung, Gruppen zusammenzubringen, die bislang nicht miteinander gesprochen haben. Tausende von Schwarzen, Frauen und Weißen, denen die Kämpfe der Armen gegen die 20% der Reichsten auf diesem Planeten und der Kampf für die Umwelt am Herzen liegt. Wenn sich diese Bewegungen im Laufe der kommenden fünf Jahre vereinen, werden die USA gerade dann eine Linkswende erleben, wenn andere Länder nach rechts rücken. Ich halte es zum Beispiel für wahrscheinlich, dass Obama – falls er zum Präsidenten gewählt wird – weniger enge Beziehungen zu Sarkozy und Berlusconi unterhält und dafür stärkere Beziehungen zu Lateinamerika.

Dennoch: Warum ist Afghanistan für die Vereinigten Staaten so wichtig?

Marcus Raskin: Der Irak-Krieg wurde – als „präventiver Krieg“ – auch von vielen demokratischen Kongressmitgliedern kritisiert, die ihn für unmoralisch und nicht notwendig hielten. Afghanistan dagegen wird als ein Ort betrachtet, an dem man früher hätte intervenieren müssen, um die Ölpipelines zu kontrollieren, die durch dieses Land führen, aus dem man sich nicht zurückziehen kann, weil das wie eine Flucht aussehen würde und die USA in Krisenzeiten noch weniger glaubwürdig erscheinen ließe. Außerdem wird der Krieg in Afghanistan als ein „Zivilisationskrieg“ propagiert, in dem der Westen und die Vereinigten Staaten die Möglichkeit haben, einen Teil der islamischen Welt zu „erziehen“. Selbstverständlich trägt auch dieser Krieg dazu bei das enorme Ausmaß der Militärausgaben zu rechtfertigen.

Wird sich Amerika unter einem Präsidenten Obama stärker verändern als unter einem Präsidenten McCain?

Marcus Raskin: Ich glaube, dass es sowohl bei der Wahl eines Demokraten als auch bei der Wahl eines Republikaners zu einer Veränderung, zu einem Politikwechsel kommen kann. Es besteht die Möglichkeit einer neuen Verpflichtung in Übereinstimmung mit den Russen (mit denen zusammen wir über die größte Anwahl an Sprengköpfen verfügen), die Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Und es ist möglich, dass Washington das Ziel der Nichtverbreitung von Atomwaffen auf die internationale Agenda setzt. Falls Bush oder die Israelis allerdings, unter dem Vorwand, dass die Islamische Republik Iran dabei sei, ein Atomwaffenarsenal anzulegen, während Washington ganz genau weiß, dass Tel Aviv längst über Atomwaffen verfügt, einen Krieg gegen den Iran vom Zaun brechen, dann wird das in einem Desaster enden.