"Seit George Romero mussten Innereien einen starken Imageverlust hinnehmen"

Haggis mit Kartoffeln und Schwarzwurzeln. Alle Fotos: Maria Loderer:

Telepolis-Tischgespräche, Teil 1: Haggis

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Die zunehmende Ideologisierung des Essens lässt Telepolis keine andere Wahl: Ein Team von Essenstestern muss in das umkämpfte Terrain der kulinarischen Hegemonie geschickt werden. Aufgrund der möglichen Konstituierung schottischen Selbstbewusstseins am 18. September beginnt die Forschungsreise mit dem dortigen Nationalgericht: Dem Haggis.

Reinhard Jellen: Ich referiere kurz, was ich über den Haggis recherchiert habe: Er besteht aus dem Magen eines Schafes, welcher mit Herz, Gehirn, Leber, Lunge, Nierenfett, Kutteln, Rindertalg und Zwiebeln sowie Hafermehl gefüllt wird. George W. Bush jr. äußerte zum G8-Gipfel 2005 in Edinburgh die Befürchtung, ihm werde das hiesige Nationalgericht gereicht - wegen Beigabe der Schafslunge ist die Einfuhr von Haggis in die USA verboten.

Der schottische Nationaldichter Robert Burns formulierte dereinst:

Ye Powrs, wha mak mankind your care
And dish them out their bill o' fare
Auld Scotland wants nae skinking ware
That jaups in luggies
But, if ye wish her gratefu prayer
Ghee her a haggis!

Und ich finde, dass der Haggis anbetracht der Tatsache, dass er wirklich greißlich aussieht - in etwa so wie eine in Straßenstaub gekotzte Blut- und Leberwurst mit gehackten Zwiebeln - gar nicht so schlecht mundet. Ein deftiges Volksgericht halt. Vermutlich auch eine Arme-Leute-Essen.

Haggis mit Kartoffeln und Schwarzwurzeln. Alle Fotos: Maria Loderer:

Peter Mühlbauer: Sieht zumindest so aus.

Martin Lickleder: Zumindest ein Schafsbesitzer-Essen.

Celeste Hardy: Schmeckt's denn überhaupt nach Schaf?

Alle: Nein.

Peter Mühlbauer: Es ist nicht klar, was der Engländer am Haggis mehr verabscheut: Die Innereien oder das Hafermehl. Aus dem 18. Jahrhundert ist von Samuel Johnson die Äußerung überliefert: 'Hafer ist ein Getreide, mit dem man in England die Pferde füttert und in Schottland die Menschen.' Der Johnson-Biograph James Boswell hat daraufhin entgegnet: 'Deswegen ist England für seine Pferde berühmt und Schottland für seine Männer.' Mich erinnert der Haggis an Blut- und Leberwurst.

Martin Lickleder: Aber gummiert. Gerade der Hafer macht ihn unverwechselbar. Wenn man mehr Gewürze hätte, was sie eben in der britischen Küche nicht haben, könnte man etwas richtig Tolles draus machen. So schmeckt es ein wenig unspezifisch, aber man kann es schon essen.

Hubert Erb: Ich habe gedacht, es würde deftiger schmecken, mit mehr Speck.

Martin Lickleder: Das sind eben die hagereren, wettergegerbten schottischen Schafe.

Reinhard Jellen: Sind Innereien jetzt so ungesund wie behauptet wird - oder ist das eine Veganer-Falschinformation?

Reinhard Jellen: Sind Innereien jetzt so ungesund wie behauptet wird - oder ist das eine Veganer-Falschinformation?

Peter Mühlbauer: Wenn man's übertreibt kann man einen erhöhten Harnsäurespiegel bekommen.

Martin Lickleder: Leber ist extrem eisenhaltig, wie man es früher vom Spinat behauptet hat. Viel kann man aber vom Haggis nicht essen. Wär halt gut, wenn es eine pikante Soße dazu gäbe.

Peter Mühlbauer: Es ist halt wie bei allen Innereien-Gerichten so, dass sie extrem sättigend sind.

Martin Lickleder: Es fehlt auch das Kraut dazu. Wie generell in der britischen Küche geht mir das Spiel mit den verschiedenen Aspekten ab. Die Gerichte sind immer nur fett und süß. Gewürze sind in der traditionellen englischen Küche eh Mangelware, aber auch mit dem Sauren könnte man doch schöne Beilagen probieren.

Peter Mühlbauer: Habt ihr auch den Eindruck, dass Innereien seit den 70er Jahren stärker tabuisiert werden?

Der Nachtisch: Schottisches Shortbread.

Hubert Erb: Seit dem Einbrechen der George A. Romero-Filme in die Populärkultur mussten Innereien in der Tat einen herben Imageverlust hinnehmen.

Martin Lickleder: Ein Grund für die Tabuisierung der Innereien ist sicher in der Industrialisierung der Nutzviehtötung zu suchen. Bis in die 70er Jahre gab es noch überwiegend Metzgereien mit Hausschlachtung, das hat sich bis heute stark verändert. Früher waren die Innereien sehr billig, sie waren aber auch recht empfindlich und mussten schnell gegessen werden.

Mit der Fernschlachtung ist deren Transport und Lagerung zu kostspielig geworden. Außerdem kommt es mir schon so vor, als ob die Leute beim Fleischgenuss zur Abstraktion neigten und nicht gerne spezielle Organe verspeisen. Vielleicht ein Grund, warum der Leberkäs immer noch recht beliebt ist, obwohl sich in dem gerüchteweise alles wiederfindet: Augen, Zähne, Klauen ...

Peter Mühlbauer: In der Fernsehserie Ein echter Wiener geht nicht unter aus den siebziger Jahren gibt es noch das Beischl, also das Saure Lüngerl, als offenbar ganz besonders plakative Form des proletarischen Essens. Heute käme Mundl Sackbauer mit Schnitzel wahrscheinlich billiger weg.

Martin Lickleder: Im Biomarkt, und das ist natürlich ein Gipfel der Heuchelei, bekommt man keine Leber angeboten, sondern nur das Filet. Denn eigentlich wäre es im Sinne einer Re-Ökologisierung des Fleischverzehrs durchaus sinnvoll, das ganze Tier besser zu verwerten und nicht nur das Schnitzel herauszuschneiden. Ich finde das schade. In Frankreich werden immer noch sehr viele Innereien serviert. Die Königsdisziplin ist hier die Kutteln- oder Gänseleberzubereitung.

In Teil 2 der Tischgespräche findet eine Smoothie-Probe am Münchner Viktualienmarkt statt.

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