Selbstkontrolle statt Cyberpolizei und Filter?

Auch die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia kennt kein Patentrezept gegen Kinderporno und Rassismus im Netz

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Die Freiwillige Selbstkontrolle der Multimedia-Diensteanbieter sieht ihr Modell als erfolgreich an, um Neonazis, Gewaltdarstellungen und harte Pornographie aus dem Netz zu bannen. Die Verlagerung einschlägiger Angebote ins Ausland kümmert den Verband bisher wenig. Dabei gehen immer mehr Richter davon aus, dass nationales Recht auch international einforderbar sein muss. Inhalte- und Zugangsanbieter sowie ihre Kontrollgremien stehen in Sachen internationales Strafrecht noch ziemlich ratlos da.

Ulrike Peichert von der Redaktion der auch im Web mit einer Homepage vertretenen Sendung Wahre Liebe ist irritiert. Obwohl die Websites zahlreicher anderer Magazine viel freizügigere Szenen zur Schau stellen, hat sie kürzlich zwei seltsame Faxe bekommen. In einem empörte sich ein Surfer, dass das ach so schlüpfrige Angebote ohne Zugangssperre für Minderjährige zugänglich sei. Wenig später fragte derselbe Zeitgenosse an, ob die zur Schau gestellten Bilder käuflich zu erwerben seien. "Diese Doppelmoral", schüttelt Peichert mit dem Kopf. Am liebsten würde sie dem Absender die Polizei ins Haus schicken. Aber erst wolle sie sich beraten lassen, ob die JPEGs auf der Site nicht vielleicht doch einen Millimeter Fleisch zu viel zeigen.

Mit ihrem Problem ist Peichert nicht allein. Content-Provider und Zugangsanbieter sind verunsichert, welche Inhalte sie im Web darstellen dürfen. Dabei hatte der Gesetzgeber mit dem Teledienstegesetz und den dort in Paragraph 5 geregelten Verantwortlichkeitsstufen ein für allemal für Klarheit sorgen wollen. Darin wird eine Haftung für fremde Inhalte, zu denen ein Internet-Provider nur den Zugang vermittelt, weitgehend ausgeschlossen. Für eigene oder zu eigen gemachte Angebote haftet ein Provider dagegen auch bei Fahrlässigkeit.

Beachten müssen Inhalte-Anbieter vor allem, dass sie nicht gegen die in zahlreichen Gesetzen geregelten Vorgaben zum Jugendschutz verstoßen. Dazu müssen sie einen Jugendschutzbeauftragten einstellen – oder einem Gremium beitreten, das dessen Aufgaben stellvertretend übernimmt. Dazu hat sich bereits 1997 gleichzeitig mit Inkrafttreten des Teledienstegesetzes die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia (FSM) gegründet, der inzwischen 435 Unternehmen aus der deutschen Medien- und Telekommunikationswirtschaft angehören.

Widerwille gegen Filter- und Ratingsysteme

So weit, so gut. Die FSM feiert sich selbst nach dreieinhalb Jahren Bestehen als "funktionierendes Modell für das 4. Medium", womit vermutlich das Internet gemeint sein soll. Doch die immer wieder in Wellen aufschäumende Debatte rund um Kinderpornographie und Neonazis im Netz macht den in der FSM versammelten Firmen ziemlich zu schaffen. Und auch wenn sich das Gremium auf den Standpunkt stellt, nur für das nationale Territorium der Bundesrepublik verantwortlich zu sein, sprechen mehrere Entscheidungen in- und ausländischer Gerichte eine andere Sprache. Fieberhaft sucht die FSM daher auch über ihre Dachgesellschaft INHOPE (Internet Hotline Providers in Europe) zumindest innerhalb der Europäischen Union und über latenten Druck auch zusammen mit internationalen Providern den Kampf gegen umstrittene Inhalte zu forcieren.

Doch die Arbeit des Selbstkontrollverbands ist immer eine Gratwanderung. "Wir können anderen Ländern nicht sagen, wir Deutsche regeln die Inhalte im gesamten Netz", stellte Arthur Waldenberger, Vorstandsvorsitzender des Gremiums, am heutigen Freitag während einer Forumstagung der FSM in Berlin klar. Nichts stehe der Organisation ferner, als sich zu einer internationalen Cyber-Schlageinheit hochzuspielen. Themen wie dem Jugendschutz oder der Verhinderung von neonazistischem Gedankengut könne man sich nur nähern, wenn man die kulturellen Werte und Gesetze in anderen Ländern im Auge behalte.

So wehrt sich die FSM vor allem gegen die unter anderem von der Bertelsmann-Stiftung und ihrer Internet Content Rating Association (ICRA) vorangetriebenen Vorhaben, international Filtersysteme gegen bestimmte Netzinhalte einzuführen. "Die Anbieter können nicht gezwungen werden, alle ihre Inhalte zu bewerten und in eine Ratingskala einzuordnen", meint Waldenberger. Das wäre ein unglaublich aufwendiges und letztlich nicht durchführbares Verfahren. Einen ähnlichen, mittelständische Provider killenden Effekt würde von der Ausweitung des Katalogs strafbarer Inhalte ausgehen.

Selbstkontrolle als Zauberwort auch im internationalen Bereich?

Als zahnloser Tiger will das Selbstkontrollorgan der deutschen Internet-Wirtschaft allerdings auch nicht dastehen. "Die Freiwillige Selbstkontrolle ist ein Reizthema", gibt Waldenberger zu. "Viele rufen nach einer internationalen Cyberpolizei oder wollen, dass der Staat Zensur ausübt." So hatte der Zentralrat der Juden erst jüngst angekündigt, gegen Internet-Provider klagen zu wollen, die den Zugang zu so genannten "Hass-Seiten" von Deutschland aus nicht sperren (Zentralrat der Juden will gegen Provider vorgehen).

Doch von derartigen Forderungen hält der FSM-Vorstand wenig. Er setzt auch im internationalen Bereich auf die Selbstkontrolle der Provider. Über INHOPE könne man mit guten Argumenten erheblich schneller und unbürokratischer an die Provider im Ausland herankommen und mehr ausrichten als die Behörden, so Waldenberger. Denn strafrechtlich seien deutschen Polizeistellen oft sogar die Hände gebunden, da neonazistische Parolen beispielsweise in den USA vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind. "Wir können den betroffenen Providern dagegen mit der Frage konfrontieren, ob sie sich wirklich mit den aufgefundenen Inhalten identifizieren wollen, und ihnen nahelegen, sie aus den Netz zu nehmen."

Direkt zuständig fühlt sich die FSM für Inhalte auf ausländischen Servern bisher allerdings nicht. Dem Gros der im vergangenen Jahr eingegangenen 1587 Beschwerden – das sind sechsmal mehr als 1999 – steht der Verband daher machtlos gegenüber, da sie nicht auf Rechnern hierzulande lagern. Das war nur bei 274 Eingaben der Fall. Davon hatten 131 einen rechtsradikalen Hintergrund. 64 Nutzer beschwerten sich wegen pornographischen Inhalten, 18 wegen Gewaltdarstellungen.

Den "explosionsartigen Anstieg" der Beschwerden erklärt Heiko Wiese, Rechtsanwalt und Vorprüfer des Organs, mit der verstärkten öffentlichen Diskussion um das Aufblühen des Neonazismus seit vergangenem Sommer. "Es gibt immer wieder Wellen" parallel zur Medienberichterstattung, bestätigt Waldenberger. So sei 1999 fast nur Kinderpornographie gemeldet worden.

Immer mehr Beschwerden mit immer weniger Substanz

Den hohen Anteil an "Ausschuss" bei den Beschwerden sieht die FSM auch in Zusammenhang mit der gesteigerten Aufmerksamkeit der Mediennutzer. Allerdings "nimmt die Qualität der Beschwerden seitdem ab", klagt Wiese. Statt seriöser Anfragen von Eltern und Lehrern erhalte die FSM immer mehr "Jokes und offensichtlich unbegründete Beschwerden." Erhöht hat sich auch der Anteil an anonymen Hinweisen, die von der Selbstkontrollstelle nicht bearbeitet werden. "Wir brauchen einen konkreten Ansprechpartner, um den Eingaben nachzugehen", erläutert Waldenberger. Sonst könnten dahinter auch konkurrierende Diensteanbieter stecken, die der Konkurrenz eins auswischen wollten.

Von den 274 Beschwerden erwiesen sich im vergangenen Jahr 42 Prozent als berechtigt. In diesen Fällen schreibt die FSM den Inhalteanbieter an und bittet um eine Stellungnahme zu dem erhobenen Verdacht. "Fast 80 Prozent der Beschwerden haben sich damit erledigt", führt Wiese aus, da die Betroffenen ihre Inhalte zurückziehen würden. Oft handele es sich um Jugendliche, die sich über die Brisanz ihrer Webdarbietungen nicht im Klaren gewesen seien. Wittern die Prüfer beim FMS eine offensichtliche Straftat hinter einer Meldung, leiten sie diese anonymisiert an die Strafverfolgungsbehörden weiter. Die Streichung des Namens des eigentlichen Beschwerdeführers sei nötig, so Waldenberger, da Staatsanwälte anderen Falls bereits ein Verfahren gegen diesen eingeleitet hätten.

Selbst die FSM arbeitet in einer juristischen Grauzone, wenn sie die beanstandeten Websites dokumentiert. "Wir machen uns eigentlich strafbar, wenn wir verdächtiges Material downloaden", erklärt Waldenberger. Dabei sei sie im Teledienstegesetz ausdrücklich erwähnt. Noch habe aber kein Staatsanwalt an ihrer Seriosität gezweifelt.

Aufgrund ihrer Recherchen musste die FSM im vergangenen Jahr in 20 Fällen eine offizielle Beschwerde bei den Inhalteproduzenten sowie bei den Providern einreichen, die beanstandete Angebote parat hielten. "Die deutschen Provider reagieren darauf in der Regel sofort", freut sich Wiese. Schließlich seien sie gesetzlich nach Paragraph 5 des Teledienstegesetzes auch dazu verpflichtet. Theoretisch könnte eine Rüge der FSM folgen, die der Anbieter dann entsprechend den Regeln des Presserats – dem Selbstkontrollorgan der "alten" Medienwelt – veröffentlichen müsste. Ansonsten drohe der Ausschluss aus der FSM.

Letztlich sind sich die Macher des Gremiums aber im Klaren darüber, dass sie gegen Windmühlen kämpfen. "Wer bewusst volksverhetzende oder rechtsradikale Inhalte verbreiten will, geht ins Ausland", weiß Wiese. Die FSM sieht sich daher nur als Teil eines "Gegennetzes" und weltweiten Puzzles. Kooperationen will sie nicht nur im internationalen Rahmen sondern auch mit Initiativen der gesellschaftlichen Kontrolle wie dem Verein N@IIN – No Abuse in Internet (www.naiin.org/) vorantreiben, der im Herbst eine Meldestelle für rechtsradikale Seiten im Web eröffnet hatte.

Staaten dehnen ihre Strafgewalt aus

Doch nach der Aufsehen-erregenden Entscheidung eines französischen Gerichts gegen das Webportal Yahoo (Bis ans Ende), das nach Auffassung des Pariser Richters den Zugang französicher Surfer zu Auktion nazistischer Gedenkstücke auch auf dem Heimatserver des Unternehmens in Kalifornien sperren muss, sowie der Entscheidung des Bundesgerichtshof im "Toeben-Fall" (Wachsende Besorgnis über BGH-Urteil gegen Holocaust-Leugner), wonach ein deutscher Anbieter rechtsradikaler Inhalte im Ausland hierzulande zur Rechenschaft gezogen werden kann, stehen auch Selbstkontrollorgange wie die FSM vor neuen Aufgaben. "Immer mehr Staaten erstrecken ihre Strafgewalt auf Internet-Angebote, die zwar auf einem ausländischen Server gespeichert, jedoch auch von ihrem Staatsgebiet aus abrufbar sind", warnt Ulrich Sieber, Ordinarius für Rechtsinformatik an der Universität München.

Der Cybercrime-Experte empfiehlt den Anbietern inzwischen, auch die wichtigsten ausländischen Rechtsordnungen zu berücksichtigen: "Insbesondere, wenn ein fremder Staat Vollstreckungsmöglichkeiten gegen einen ausländischen Informationsanbieter hat oder wenn die Mitarbeiter dieses Anbieters weiter gefahrlos in die entsprechenden ausländischen Staaten reisen wollen."

Die FSM hat sich selbst noch nicht mit diese neuen Entwicklungen der Rechtslage beschäftigt. Als neuen Service bietet das Gremium aber seit kurzem eine unabhängige juristische Gutachterkommission, die ein geplantes Multimedia-Angebot auf die Übereinstimmung mit dem Verhaltenskodex des Gremiums hin überprüft. Angesichts der wachsenden internationalen Herausforderungen und wachsender Mitgliederzahlen hat sich die FSM zudem dazu durchgerunden, einen hauptamtlichen Geschäftsführer zu berufen und ein Büro in Berlin bis zum Jahresende zu eröffnen. Bisher hat das Selbstkontrollorgan auf ehrenamtliche Mitarbeiter zurückgegriffen.