Selenskyj in Washington: Was passiert, wenn die Ukraine-Hilfe der USA ausläuft?

Seite 2: Die Auswirkungen

Die Auswirkungen einer Kürzung der Mittel wären nicht sofort sichtbar, vor allem angesichts des langsamen Tempos der Kämpfe während des Winters, würden aber zu einer schrittweisen Reduzierung der ukrainischen Operationen führen, so Cancian gegenüber RS.

Seiner Einschätzung nach ist das Tempo der Hilfe im Vergleich zu den ersten Tagen des Krieges "bereits rückläufig", obwohl ein stetiger Strom von Waffenlieferungen angesichts der für die Herstellung neuer Waffen erforderlichen Zeitspanne noch jahrelang anhalten wird.

"Wenn dieser Strom nachlässt, wird auch die militärische Fähigkeit der Ukraine abnehmen", sagte Cancian. "Irgendwann, wahrscheinlich im Januar, wäre die Ukraine nicht mehr in der Lage, eine umfassende Gegenoffensive zu starten, und im Februar wäre sie vielleicht überhaupt nicht mehr in der Lage, Angriffe durchzuführen."

Was Biden versprochen hat

"Später im Frühjahr wäre die Ukraine vielleicht kaum noch in der Lage, die Russen aufzuhalten", fuhr er fort. "Es ist nicht so, dass sie keine [Waffen] hätten, aber sie hätten nicht den nötigen Nachschub, um Operationen auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten."

Bidens zusätzlicher Antrag sieht die Bereitstellung von rund 59 Milliarden Dollar für die Ukraine vor. Ein Drittel davon ist für humanitäre Hilfe und direkte wirtschaftliche Unterstützung bestimmt, während der Großteil für verschiedene militärische Zwecke verwendet wird.

Von den 38,7 Mrd. Dollar Militärhilfe sind etwa 30 Milliarden für den Kauf von Waffen für die Ukraine oder den Abbau von US-Lagerbeständen vorgesehen. Die verbleibenden acht Milliarden Dollar sind für den Ausbau der US-Truppenpräsenz in Europa als Reaktion auf den Ukraine-Krieg vorgesehen, wobei ein kleiner Teil der Mittel für die Überwachung der Hilfe bestimmt ist.

Die Auftragnehmer aus den USA

Cancian merkt an, dass ein Großteil dieser Mittel als Investition in die US-Wirtschaft verstanden werden sollte, da ein großer Teil davon an amerikanische Auftragnehmer fließen wird. Dieses Argument, das auch die Regierung Biden vorgebracht hat, wird von Gegnern höherer Militärausgaben kritisiert, die darauf hinweisen, dass die Verteidigungsausgaben weniger Arbeitsplätze schaffen als viele andere Formen von Staatsausgaben.

Auf wirtschaftlicher Ebene wäre eine plötzliche Kürzung der US-Finanzierung weniger drastisch als ein Ende der Militärausgaben, da ein Großteil der ukrainischen Budgethilfe von der Europäischen Union stammt.

Doch selbst diese Finanzierung könnte von Ungarn blockiert werden, das unter dem rechtsgerichteten Premierminister Viktor Orbán seine europäischen Partner oft frustriert hat. (Selenskyj und Orban schienen am Rande der Amtseinführung des Präsidenten in Argentinien am vergangenen Wochenende in einen heftigen Streit zu geraten).

Politischer Nachhall

Ein Ende der US-Hilfe wäre eine scharfe Abfuhr für die Regierung Biden, die seit Langem argumentiert, dass die amerikanische Unterstützung für die Ukraine so lange andauern wird, bis Kiew sein erklärtes Ziel der Rückeroberung seines gesamten Territoriums, einschließlich der Krim, erreicht hat.

Viele glauben, dass auch die europäischen Staaten ihre Finanzierung zurückziehen würden, wenn die US-amerikanische Unterstützung endet, so Cancian. "Die Logik ist die gleiche wie in den USA", erklärte er.

Dort gibt es sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite Elemente, die gegen die hohen Kosten und den mangelnden Erfolg sind. Wenn die Vereinigten Staaten aufhören, werden viele ihrer Kritiker darauf verweisen und sagen: "Die Vereinigten Staaten hören auf. Warum schicken wir Geld für einen erfolglosen Versuch?"

Neues Narrativ

Während die Möglichkeit einer Einstellung der Hilfe wächst, haben einige Analysten argumentiert, dass es für die Biden-Regierung an der Zeit sei, ihren Ansatz für den Krieg zu ändern und realistischere Ziele zu setzen – ein Schritt, der die Bedenken in Europa dämpfen und gleichzeitig den Kritikern des Weißen Hauses im Inland entgegenkommen könnte, die argumentieren, dass der Präsident keine klare Strategie für den Krieg hat.

Das Weiße Haus sollte versuchen, ein neues Narrativ zu entwickeln: dass es sich um einen Verteidigungskrieg für die Ukraine und eine strategische Niederlage für Russland handelt, und dass die USA die Ukraine unterstützen können, während sie gleichzeitig anerkennen, dass es andere nationale Sicherheitsprioritäten gibt, die möglicherweise Vorrang haben müssen,

argumentierte Emma Ashford vom Stimson Center im Guardian. "Dieses Narrativ ist weniger ehrgeizig, sondern pragmatischer".

Vor allem aber würde dieser Ansatz die Biden-Regierung im Falle einer Wiederwahl im November in eine viel stärkere Position versetzen, um die Waffenstillstandsverhandlungen Ende 2024 fortzusetzen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Responsible Statecraft. Sie finden das englische Original hier. Übersetzung: David Goeßmann.