Selenskyj vs. Saluschnyj: Vertrauen in ukrainische Politik bröckelt, nicht aber in die Armee

Seite 2: Die Unterstützung des Volkshelden bröckelt

Die Unterstützung Selenskyjs sank bis Ende 2023 auf 60 Prozent. Dem ukrainischen Parlament, beherrscht von seiner Partei, trauen sogar nur 11 Prozent, Selenskyjs Regierungsmannschaft 14 Prozent.

Völlig unberührt von diesem Vertrauensverlust blieb jedoch das ukrainische Militär, dem auch im Dezember 2023 96 Prozent der Ukrainer vertrauten und dessen damaligem Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, der mit 88 Prozent auf eine weiter überwältigende Vertrauensbasis kam.

Die brenzlige Lage der Ukraine aktuell lastet die Bevölkerung also vor allem ihrer Politik und nicht der Armee an. Selenskyj verfügt infolge seiner radikalen Kurswechsel über keine ideologisch durch seine Ziele überzeugte Wählerbasis.

Armeechef Saluschnyj wurde unversehens zum populären, politischen Rivalen. Aufgrund des Kriegsrechts sind Wahlen in der aktuellen Ukraine ausgesetzt, Selenskyjs aktuelle Amtszeit wäre sonst momentan gerade zu Ende.

Mehr Zustimmung für General Saluschnyj

Just zu diesem Zeitpunkt erbrachte eine Umfrage, dass im Falle von Präsidentschaftswahlen wesentlich mehr Leute für Saluschnyj als für Selenskyj gestimmt hätten.

Wohl nicht zufällig wurde Saluschnyj zur Zeit, als die Umfrage lief, aus dem Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte entfernt und auf einen Botschafterposten in Großbritannien ins ferne Ausland versetzt. Sein Nachfolger Oleksandr Syrskyj verfügt über viel militärische Erfahrung, aber keine annähernd gleich große Vertrauensbasis im ukrainischen Wahlvolk.

Selenskyj hofft so, einen politischen Rivalen in der unruhigen ukrainischen Politik weniger zu haben. Da viele andere Politgrößen etwa des Euromaidan schon wieder vom Politsumpf verschluckt wurden, könnte diese Strategie aufgehen, sofern es militärisch für Kiew in den nächsten Monaten nicht katastrophal läuft.

Es gibt zwei ukrainische Linke

Wer sich wundert, warum in einem Artikel über die ukrainische Politik weder die politische Linke noch die gerade in Russland viel zitierten ukrainischen Rechtsextremen eine Rolle spielen, dem seien am Ende noch entsprechende Informationen nachgeliefert. Natürlich sind beide politische Richtungen in der Ukraine vorhanden.

Die linken Kräfte waren in der nachsowjetischen Ukraine von Anfang an gespalten. Altlinke Kommunisten hatten, ähnlich wie ihre Genossen in Russland, lange aktive Kader, wirkten jedoch auf die jüngeren Ukrainer sehr unattraktiv.

Ihren Todesstoß erhielt die prorussische Altlinke ebenfalls durch die russische Ukraine-Invasion. Es folgte ein Verbot der KPU, der Vorsitzende Symonenko ging ins weißrussische Exil.

Neue moderne Linke

Die Repression traf hier aber eine bereits aussterbende Kraft, einige ukrainische Kommunisten wechselten zu den separatistischen Rebellen, andere wanden sich von der Partei wie von Russland ab.

Neben den Altkommunisten gab es seit den 1990er-Jahren eine neue, modernere Linke, die mit den Kommunisten in deren Sowjetnostalgie nicht konform ging. Diese stellte sich bei Beginn des Krieges 2022 weitgehend hinter die Verteidigung ihres Landes.

Sie engagiert sich seitdem vor allem humanitär. Ihre Vertreter schockieren auf internationalen Gesprächszirkeln immer wieder kriegskritische internationale Linke mit der Forderung nach einer möglichst großen Unterstützung Kiews durch westliche Waffen. Sie wurden vom ukrainischen Liberalismus mehr oder weniger assimiliert.

Rechtsextreme beherrschen die Straße, aber nicht die Politik

Die Rechtsextremen in der Ukraine spielten eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Straßengewalt des Euromaidan, danach in militärischen Freiwilligeneinheiten und bis heute in ihren Einheiten in der ukrainischen Armee.

Sie gelten als harte Kämpfer, aber auch als offen faschistisch – ohne die Scham manch westlicher Rechtsextremer beim Bezug auf das Dritte Reich.

Mit Symbolen der Nazizeit hält man sich nach einigen Skandalen 2014 eher aus Rücksicht auf westliche Unterstützung zurück – die Leute sind, sofern nicht gefallen, noch die gleichen. Der Rechte Sektor oder das Bataillon Asow sind Neofaschisten mit internationaler Bekanntheit.

Auch die allgemeine Freude von Rechtsextremen an Militanz und Krieg führte zu ihrer Konzentration im Armee-Segment, wie man das ja auch deutschen Spezialeinheiten nachsagt.

Anders als Gesinnungsgenossen in vielen westlichen Staaten schafften die ukrainischen Rechtsextremen es jedoch nicht, ihre Straßen- und Schützengrabenaktionen in dauerhafte politische Erfolge zu verwandeln. Rechte Bewegungen versagten bei den letzten ukrainischen Parlamentswahlen 2019, nur ein einzelner Abgeordneter aus der einst starken Rechtspartei Swoboda sitzt seitdem über ein Direktmandat noch im Parlament.

Politisches System nicht gefestigt

Größer ist die Macht der Ultrarechten auf der Straße, auch gibt es keine "Brandmauer" im rechtsliberalen ukrainischen Mainstream. Die Neofaschisten verfügen aufgrund ihres Frontkampfes über ein gewisses Ansehen.

Obwohl Selenskyj ab dem dritten Jahr seiner Amtszeit die Pfade seines früheren Linksliberalismus verließ, ist es jedoch keinesfalls gerechtfertigt, ihn – wie es das offizielle Russland tut – als "ukrainischen Nazi" zu bezeichnen. Wie die exilrussische Onlinezeitung Meduza feststellt, hat die russische Propaganda das Ausmaß der Verbreitung nationalistischer Gefühle in der Ukraine immer übertrieben.

"Dafür wurden reale Fälle von Rechtsextremismus herangezogen", schreibt die Zeitung, "aber diese Fälle wurden so dargestellt, als wären sie etwas Alltägliches und Allgegenwärtiges im Land". Sie sind nicht allgegenwärtig, auch nicht an der Politikspitze.

Trotz alledem ist das ukrainische politische System weit von Stabilität entfernt, ebenso wie das einstige Volksheldentum von Wolodymyr Selenskyj, das nun gerade einmal zwei Jahre anhielt.

Maßgeblich wird es vom Fortgang des Krieges und der wirtschaftlichen Situation der Ukrainer abhängen, in welche Richtung sich das politische System in Kiew weiter bewegt. Denn die Verantwortung für beides sehen die Ukrainer vor allem in ihrer Politik, der sie mehrheitlich misstrauen.