"Sie haben uns angelogen"

Seite 2: Geschichten und serielles Erzählen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Serien und Spielereihen erzählen übergreifende Geschichten. Dabei ist "Erzählung" mehrfach besetzt. Erstens werden konkrete Geschichten um bestimmte Protagonisten erzählt, etwa um die Versuche der Crew des Raumschiffs Discovery, den Krieg gegen die Klingonen zu gewinnen. Zweitens werden zusammenhängende Welten mit eigener Historie etabliert (dies gilt sowohl für heute übliches serielles Erzählen als auch in sich abgeschlossene Folgen älterer Serien). Drittens schließlich erzählen fiktionale Geschichten und Geschichte auch etwas über die Zeit und die Gesellschaft, in der sie geschrieben und dargestellt werden; es werden bestimmte Narrative verhandelt, die in der Zeit und Gesellschaft jeweils relevant sind oder durch die Autoren und Produzenten als relevant gesetzt werden.

Der Begriff "Narrativ", für sich genommen, suggeriert mitunter Tiefgründigkeit, aber Narrative können auch trivial sein. Wenn etwa in der VOX-Sendung "Shopping Queen" kritisiert wird, dass das Aussehen einer Kandidatin (ihr "Look") "nichts erzählen" würde, dann wird damit das normative Narrativ fortgeschrieben, dass Kleidung etwas erzählen bzw. dass man mit Kleidung seine eigene Identität ausdrücken soll.3

Das Narrativ ist der konkreten Geschichte übergeordnet bzw. schwingt im Hintergrund mit, selbst wenn es nicht bewusst gemacht wird. Wenn man als Shopping Queen-Zuschauer die in der Sendung vertretene Sicht akzeptiert, dass "ein Look" etwas "erzählen" soll, dann teilt man dieses Narrativ, auch ohne aus kulturwissenschaftlicher Sicht darüber zu reflektieren, dass man das gerade tut. Wichtig ist in dem Moment, dass eine Geschichte Menschen zusammenführt. Man kann sich als Teil einer Gruppe sehen, die ähnliche Weltbilder vertritt. Wenn die geteilte Geschichte dann noch kohärent (zusammenhängend) ist, entsteht eine durchaus wohlige Atmosphäre der Zufriedenheit, die freilich auch für die Produzenten der Geschichten positiv ist.

Deshalb ist man in Fernsehproduktionen mittlerweile auf serielles Erzählen umgeschwenkt und neigen viele Menschen zum Binge Watching ganzer Staffeln. Endlos-Buch- und Comicreihen verkaufen sich teils seit Jahrzehnten und es werden immer neue Fortsetzungen von Kinofilmen und Computerspielen auf den Markt geworfen. Unvollendete Geschichten (z.B. bei vorzeitig abgesetzten Serien oder bei unbefriedigenden Enden) führen zu Verärgerung, und tiefe Eingriffe in einen etablierten Serien-Kanon (wie eben bei "Star Trek: Discovery") rufen Protest hervor.

Es gibt offenbar ein Bedürfnis nach Zusammenhang und Geschlossenheit, offene Enden und ungeklärte Fragen erzeugen Unzufriedenheit. Deswegen sind Religionen und Verschwörungstheorien mit geschlossenen Weltbildern immer noch erfolgreich, und deswegen wird auch eine eher häppchenweise twitternde, sich teils selbst widersprechende Person wie Donald Trump mitunter als beunruhigend wahrgenommen.

Carolin Emcke hat im Februar 2017 in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar zum US-Präsidenten veröffentlicht, bei dem sie ihm die Produktion von "Lärm" vorwirft. Trump hätte eine "zersetzende Kraft", weil "Inhalte für ihn beim Sprechen überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheinen". Emcke stellt einen "Kollaps jedes sinnhaften politischen Diskurses" fest. Ein sinnhafter Diskurs ist genau das: Ein aufeinander bezogener Austausch zusammenhängender Erzählungen. "Kein Tag vergeht", so Emcke, "da dieser Präsident sich nicht selbst widerspricht, eine frühere Position räumt oder leugnet. Öffentliche Worte sind bei Trump immer nur im Augenblick des Aussprechens gültig." Ganz ähnlich wie in Orwells "1984", aber ohne sich explizit darauf zu beziehen, stellt Emcke eine "permanente Gegenwart" fest, "die komplette Abwesenheit von Gedächtnis und Geschichte".

Emckes Erzählung von Trump ist ein Beispiel für zahlreiche ähnliche Ungewissheiten der heutigen westlichen Gesellschaften (vgl. dazu die Einleitung dieser Essay-Reihe), vor deren Hintergrund man wohl feststellen muss, dass allseits akzeptierte, im Wesentlichen unhinterfragte Narrative nicht mehr existieren - die Geschichten, die sich Menschen erzählen, um sich ihrer eigenen Identität, Zugehörigkeit und Rolle zu versichern, passen nicht mehr zueinander, sind in sich nicht immer kohärent und ändern sich zu schnell. Sie sind damit auch zu schwierig nachzuvollziehen, weil man nicht mehr hinterherkommt.

Wiederum Emcke über Trump: "[W]ährend [d]ie amerikanischen Redaktionen […] sich noch feiern für jeden Scoop, in dem sie Trump einen Fehler oder ein Vergehen nachweisen konnten, überrumpelt der sie schon mit der nächsten Aktion" und wird dafür von manchen verachtet, von anderen gefeiert, wieder andere stehen fassungslos daneben und können sich keinen Reim darauf machen. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens über den gemeinsamen Kanon der Erzählungen mehr.

"Sich einen Reim auf etwas machen" - diese Redewendung verweist gleich zweifach auf das Geschichtenerzählen. Auf die Struktur der Sprache selbst (eben sich reimende Wörter in den Versen eines Gedichts oder eines Liedes), und auf den Inhalt des sprachlich ausgedrückten (denn in der Regel sind die Verse von Gedichten und Liedern inhaltlich zusammenhängend und erzählen damit Geschichten). Wie partizipatives Geschichtenerzählen heutzutage vor sich geht, und wie dabei versucht wird, sich einen Reim auf die Welt zu machen, das kann man - wie sollte es auch anders sein - dank des Internet sehr genau und quasi in Echtzeit beobachten. Man warte nur auf der Startseite eines Nachrichtenportals auf einen Bericht oder Meinungsbeitrag, der ein kontroverses Thema aufgreift und schaue sich die Minuten später eintreffenden Leserkommentare dazu an.

Der ursprüngliche Beitrag ist Teil einer wie auch immer gearteten Erzählung zu dem verhandelten Thema. Es wird nicht lange dauern, bis Leser auf scheinbare oder echte Lücken in dieser Erzählung oder auf Widersprüche zu anderen Erzählungen zum selben Thema hinweisen und Vermutungen darüber anstellen, wie die wahrgenommenen Inkonsistenzen oder Inkohärenzen zustandekommen und wie sie zu füllen wären - sozusagen die "plot holes" der Erzählung.

"Plot holes" (Löcher im Handlungsverlauf) ist ein Begriff, der normalerweise genutzt wird, um auf Logikbrüche in den Erzählungen und Darstellungen von Filmen, Serien, Literatur oder Spielen hinzuweisen. Besonders gut lassen sich solche kommunikativen Strukturen bei großen medialen Franchises beobachten, die ein "Fandom" um sich versammelt haben. Dort haben sich die Begriffe "Canon", "Fanon" (Fan-Canon) und "Head Canon" entwickelt. Sie können in diesem Feld fast als etabliert angesehen werden, um den Umgang mit fiktionalen Welten und Weltbildern zu diskutieren.

Für ein aktuelles Beispiel betrachte man die Kommentare zu "Star Trek: Discovery", in denen nicht nur Widersprüche zur bisher etablierten Geschichte dieser Serie (also Brüche mit dem Kanon), sondern auch in der Handlung der einzelnen Folgen selbst kritisiert werden.4 Strukturell werden in solchen Kommentaren meist nach einer Einleitung einzelne Punkte aufgelistet, die aus Sicht des Kommentarschreibenden in der kritisierten Erzählung keinen Sinn ergeben oder in früheren Serien und Filmen eingeführten Fakten widersprechen.

Im Fall Discoverys kritisiert etwa ein Nutzer im Heise-Forum: "Fast kein Satz wird gesprochen, der nicht von aufgeblasenem Pathos trieft, ohne aber die geringste Plausibilität in der Situation zu haben" - die Schlüsselbegriffe hier sind Plausibilität und Situation, oder allgemeiner: der Kontext der Erzählung. In der Regel folgen auf solche Kommentare dann Zustimmungen oder Einschränkungen, letztere versuchen dann zu zeigen, warum die Kommentare unrecht haben, oder sie bringen kontextverändernde Relativierungen, die die Tragweite der Kommentare einschränken. Dieselbe Struktur trifft auch auf ‚professionelle‘ Kritik in Form von Rezensionen und darauf folgende Kommentare zu.

Allgemein lässt sich die Struktur als kommunikative Sequenz aus drei Schritten beschreiben: (1) Erzählung (z.B. der Film, das Buch, das Computerspiel), (2) Stellungnahme (Rezensionen oder Kommentare zur Erzählung), (3a) Relativierung (Einschränkung der in Rezension oder Kommentar geäußerten Stellungnahme) bzw. (3b) Zustimmung (zur Stellungnahme).

Diese Struktur ist nicht sehr überraschend, denn jede Diskussion zu einem beliebigen Thema funktioniert so. Es ist für diesen und die folgenden Teil der Essay-Reihe aber hilfreich, sich diese Struktur bewusst zu machen bzw. im Hinterkopf zu behalten. Interessant ist nämlich, dass nicht nur die kommunikativen Strukturen, mit denen plot holes, Kanon-Brüche und ähnliche Phänomene diskutiert werden, ganz ähnlich denen sind, die auf Meldungen und Meinungsbeiträge in Nachrichtenportalen produziert werden, sondern auch die Funktion dieser Strukturen für Kommunikation und damit Identitätsbildung von Gruppen und Individuen ähnlich ist. Dies berührt auch die Erwartungen, die von Lesern an solche Beiträge gestellt werden, was bis zur Aufforderung gehen kann, künftig stärker die Sichtweise dieser Leser zu vertreten. Dazu kommen wir ausführlicher in Teil drei dieser Essay-Reihe; zunächst soll die begriffliche Grundlage noch etwas geschärft werden.