"Sie haben uns angelogen"

Seite 4: Head Canon

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Um individuelle, d.h. beim Rezipienten liegende, Abweichungen vom Kanon zu begründen, wird verschiedentlich der Begriff Head Canon genutzt. Besonders oft geschieht das in der Fan-Fiction-Szene; oben wurde es bereits kurz am Beispiel von "The Elder Scrolls" erwähnt. Anders als der Kanon-Begriff ist Head Canon kulturwissenschaftlich kaum belegt. Eher findet man den Ausdruck im individuellen Sprachgebrauch, in Blogs und in popkulturellen Wikiprojekten. Das Urban Dictionary bezeichnet "head canon" oder "headcanon" als Ideen, Glaubensinhalte oder Aspekte einer Geschichte, die in den zugrundeliegenden Medien (z.B. einer Serie, einem Film, einem Buch usw.) nicht erwähnt, aber von dem Nutzer des jeweiligen Mediums oder von den Fans insgesamt akzeptiert werden. Die Wiktionary-Definition hebt hervor, dass Grundlage ein fiktionales Universum ist und dass sich Head Canon auf einen individuellen Fan (nicht auf mehrere Fans) bezieht (anders als das auf Gruppen bezogene Fanon, ein Kompositum aus Fan und Canon).

In gewisser Weise ist das Kompositum aus Head und Canon damit ein Paradox. Wenn der Kanon für überindividuelle Ordnungen sorgt, bei denen individuelle Abweichungen noch stärker als bei bloßer Tradition ausgeschlossen werden sollen, dann suggeriert Head Canon genau das Gegenteil. Er ist eine Stellungnahme zum Kanon, die diesem, wenn schon nicht widerspricht, doch zumindest im Kanon wahrgenommene Lücken - die genannten plot holes - füllen hilft.

Hierüber schreibt Emily Asher-Perrin in einem Blogeintrag. Sie beschreibt das Entstehen eines Head Canon als Prozess, über den sie sich erst hinterher bewusst wird: "I like really bad movies sometimes. […] [O]n occasion, someone points out to me that said media is crap, and I give them my most puzzled stare. And then I realize I’ve headcanoned it. […] I inferred elements that were never in the script."

Der entscheidende Punkt hier ist Inferenz ("inferred"). Aus vorgefundenen Elementen werden Schlüsse gezogen, die über das Vorgefundene hinausgehen. Das ist das Herstellen von Kohärenz, die weitere Sinnzuschreibungen auch in Hinblick auf eine lückenhafte Erzählung erleichtert: "I just made up an entire background for them in my head."15

Rachel Barenblat beschreibt Ähnliches für das Verfassen von Fan Fiction. Laut Barenblat schreiben Fans eines Mediums Geschichten, "when the story we are given leaves us with questions or concerns".16 Auch hier werden Lücken gefüllt, wird Kohärenz hergestellt. Der besondere Twist bei Barenblat ist ein Bezug, den sie zur Identität der Fans herstellt. Fan Fiction schreibe man auch, "when we don't see ourselves mirrored (or, worse, when we see ourselfes depicted poorly)". Man schreibe Fan Fiction, wenn man sich selbst nicht wiederfinde. Hier werden die Rezipienten der Medien in das Medium hereingeholt, womit Fan Fiction ebenso wie der traditionelle Kanon-Begriff identitätsstiftende Bedeutung gewinnt. Man muss aber nicht erst Fan Fiction schreiben. Auch kritische Kommentare werden aus solchem Grund verfasst.

Wiederum kann "Star Trek: Discovery" als aktuelles Beispiel dienen. Wie oben erwähnt, befasst sich ein Teil der kritischen Kommentare nicht nur unter strukturellen Aspekten (Fakten der fiktionalen Historie, Technik, Aussehen) mit Kanon-Abweichungen, sondern mit den Maßstäben, Normen und Prinzipien, die dem Kanon zugrundeliegen - den sogenannten ursprünglichen Werten von "Star Trek".17

Die Verfasser solcher Kommentare stellen zunächst fest, dass sie diese ursprünglichen Werte in der neuen Serie nicht oder nicht ausreichend wahrnehmen. Beispielsweise war der Umgang der Protagonisten früherer Serien und Filme untereinander von Respekt und Wertschätzung geprägt, während in der neuen Serie deutliche Konflikte bis eindeutige Abneigung zutage treten. Zudem liegt der Fokus der Serie bislang auf Krieg statt auf der Erforschung des Unbekannten, und wenn Forschung gezeigt wird, dann nur, um dem Krieg zu dienen. Es ist das Gegenteil dessen, weswegen man selbst "Star Trek" mag. "Das ist kein Star Trek", kann man daher sinngemäß oder wörtlich oft lesen, es sei sogar eine "Abscheulichkeit" ("abomination", wie etwa auf MetaCritic wiederholt geäußert wird).

Den Kern der Kritik aus dieser Richtung kann man als folgendes Narrativ zusammenfassen: Es kann ja sein, dass zu der in Discovery gezeigten Zeit der fiktionalen "Star-Trek"-Historie die fast schon pazifistischen Werte der Föderation noch nicht so ausgeprägt waren. Aber das will man nicht sehen. Man will nicht sehen, wie sich die aus früheren Serien bekannten positiven Werte aus einem Krieg heraus vielleicht irgendwann entwickeln, sondern man will eine Welt sehen, in der diese Werte bereits aktiv gelebt werden. Man möchte einen hellen, optimistischen Kontrapunkt zur heutigen als dunkel und bedrohlich wahrgenommenen Gesellschaft sehen.

Ähnlich wie "Star Trek: The Next Generation" in den 1980er Jahren soll eine friedlichere Welt gezeigt werden, nicht ein Spiegelbild der derzeitigen Welt. Dies aber (und das ist entscheidend) soll nicht allein aus eskapistischen Gründen geschehen, sondern weil diese Darstellung ein Vorbild sein könnte, die derzeitige Welt in eine entsprechende Richtung weiterzuentwickeln. So, wie frühere Star-Trek-Serien Menschen dazu inspiriert haben, bestimmte Interessen zu entwickeln oder Berufe zu ergreifen, soll dies auch Star Trek: Discovery tun. Eine solche auf das "echte" Leben ausstrahlende identitätsstiftende Wirkung wird der neuen Serie aber bisher nicht zugetraut, und auch der eigene, mitunter von Star Treks Idealen inspirierte Lebensweg findet sich in der neuen Serie nicht ausreichend wieder.18

Wo der Umgang mit diesem Narrativ konstruktiv wird, kann von Head Canon gesprochen werden. Ähnlich wie Asher-Perrin es beschrieb ("I've headcanoned it"), versucht man Kanon-Abweichungen auch auf der Seite der Normen und Prinzipien einzuordnen. Dabei macht man sich den Kanon selbst zunutze. Eine zurzeit häufig genutzte Strategie (ein Head Canon) ist etwa, die in "Star Trek: Discovery" gezeigten Abweichungen, etwa die unethischen Experimente an Tieren oder das kompromisslose Handeln des Captains der USS Discovery, der "Sektion 31" zuzuschreiben - einer in "Star Trek: Deep Space Nine" eingeführten Geheimorganisation innerhalb der Sternenflotte, die im Dunkeln, außerhalb der üblichen Normen und Werte operiert, um ebendiese Werte zu schützen.

Eine andere Strategie beruht darauf, auf den Kriegszustand hinzuweisen - sonst übliche Ideale wären da einfach nicht durchzuhalten. Und zeitweise wird auch, eher zynisch, spekuliert, dass es sich vielleicht um das aus anderen Star-Trek-Serien bekannte, gewalttätige Spiegeluniversum handeln könnte. Solchen Überlegungen liegt der Versuch zugrunde, die bisher etablierten Identitäten von Welt und Individuum mit den wahrgenommenen Abweichungen in Einklang zu bringen. Head Canon ist ein Mittel, solche kognitiven Dissonanzen aufzulösen.

Zur echten Wirklichkeit

Für die weiteren Teile dieser Essay-Reihe ist nun folgende These entscheidend: Nichts anderes als das bis hierher für fiktionale Werke Beschriebene lässt sich auch in kritisch-zweifelnden bis ablehnenden Kommentaren unter journalistischen Beiträgen zeigen. Die Schreiber solcher Kommentare nehmen z.B. Lücken in der Berichterstattung wahr oder sie fühlen sich selbst nicht richtig repräsentiert, z.B. als Anhänger bestimmter politischer oder gesellschaftlicher Gruppierungen. Das in den journalistischen Beiträgen als gültig präsentierte Weltbild wird dann nicht als kohärent wahrgenommen, was wie eine Aufforderung wirkt, dazu Stellung zu beziehen - fehlenden Informationen zu ergänzen, Gegendarstellungen anzubringen oder auch einfach die Motive der Autoren zu hinterfragen.

Im nächsten Teil dieses Essays lesen Sie, worin die strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten des Umgangs mit Medienprodukten insgesamt liegen, und warum sich der oben eingeführte Begriff Head Canon eignet, auch nicht-fiktionale Wahrnehmung von Medien zu beschreiben.