"Sie haben uns angelogen"
Seite 3: Die Funktion eines Kanons
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Die gesellschaftliche Funktion eines Kanon ist mehr als nur "der Kanon" im Sinne einer Text- oder Mediensammlung, deren "Wert" sich in ihrer eigenen Rezeption erschöpfte (vgl. die Einleitung zu dieser Essayreihe). Ein Kanon im traditionellen Sinne erbringt eine Reihe allgemeiner Ordnungsfunktionen für menschliche Gesellschaften, indem er (1) vormediale gesellschaftliche Prozesse medial fixiert und (2) die Veränderbarkeit der so entstandenen Medien eingrenzt, was wiederum stabilisierend auf die gesellschaftlichen Prozesse wirkt.
In seinem bekannten Werk "Das kulturelle Gedächtnis" zeichnet Jan Assmann diese Funktionen in der historischen Entwicklung nach und gliedert sie in konkrete und abstrakte Aspekte. Auf der konkreten Seite ist zunächst der Bedeutungswandel vom kanonischen (Einzel-)Text einerseits zum Kanon als Textsammlung andererseits bemerkenswert. Kanonisierung mit Einzeltexten war ein Aspekt beim Wandel von "ritueller zu textueller Kohärenz"5, d.h. bereits existierende Abläufe wurden schriftlich fixiert und dabei in ihrem Sinngehalt klarer definiert. Entscheidend ist für Assmann hier "der Akt der Schließung", d.h. das Verbot, etwas an den Texten zu verändern: "Sie verlangen wortlautgetreue Überlieferung".
Erst ab dem 4. Jahrhundert, im Zuge kirchlicher "Synodalbeschlüsse ('Kanones')"6 wurde der Begriff Kanon auf Textbestände angewandt, also in dem Sinne, wie er auch heute noch für "Klassiker" der Literatur, Musik, Filme usw. verwendet wird. Die konkreten Konzepte Textkanon und Klassikerkanon erbringen Funktionen, die Assmann als die abstrakten Prinzipien "Maßstab und Kriterium" bzw. "Norm und Prinzip" bezeichnet.7 Das heißt, Medien und Medienbestände geben bestimmte Maßstäbe und Normen wieder bzw. werden selbst auch nach diesen Maßstäben und Normen produziert bzw. ausgewählt. Manches gehört dazu, manches wird ausgeschlossen.
"Die 'Richtschnur' des Kanon […] zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen A und Nicht-A".8 Beispielsweise "[zieht] der logische [Kanon diese Trennungslinie] zwischen Wahr und Falsch". Assmann spricht jedoch nur dann vom Kanon, wenn A als "das unbedingt [Hervorh. M.D.] Erstrebenswerte"9 angesehen wird; ansonsten gehört A zum - weniger starren - "Strom der Tradition".10 Sowohl Kanon als auch Tradition tragen zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft bei, doch der Kanon ist unveränderbar: "der geheiligte Bestand"11, der "eine kollektive Identität [formt]".12
Jan Assmanns Einteilung von Kanon in konkrete (Textkanon, Klassikerkanon) und abstrakte (Maßstab und Kritierum bzw. Norm und Prinzip) Aspekte lässt sich auch auf den popkulturellen Canon-Begriff anwenden, wie das Beispiel "Star Trek: Discovery" zeigt. Auf der konkreten Seite betrifft die neue Serie zunächst den Klassikerkanon, also frühere Serien und Filme des "Star Trek"-Franchise, sowie den Text- oder allgemeiner Strukturkanon, d.h. die Fakten, die in einzelnen Bestandteilen des Klassikerkanons gezeigt wurden und die man (zumindest als an Kanon-Treue interessierter Fan) als unveränderbar ansieht: Klingonen haben in der Regel lange Haare, Hologramme zur Kommunikation werden erstmals im 24. Jahrhundert eingesetzt, Mr. Spock hat keine Schwester, Sternenflotten-Uniform-Oberteile im 23. Jahrhundert sind einfarbig golden, rot oder blau, und jedes Schiff hat ein eigenes Abzeichen.13
Ein Großteil der aktuellen Kritik an der neuen Serie bezieht sich auf Widersprüche zum Klassikerkanon: Die bisher gezeigten Klingonen sind unbehaart, Nachrichtenaustausch via Hologramm scheint allgegenwärtig, die Hauptdarstellerin ist als Pflegekind von Mr. Spocks Eltern quasi dessen Adoptivschwester, die Uniformen sind blaue Overalls mit dezenten Farbstreifen, und in der ganzen Sternenflotte wird das gleiche Schiffsabzeichen genutzt.14
Auf der abstrakten Seite ist es ähnlich. Hier geht es um bestimmte Werte, die viele Fans mit "Star Trek" assoziieren und oft an der Person des ursprünglichen "Star Trek"-Erfinders, Gene Roddenberry, festmachen, etwa Forscherdrang, Toleranz für das Fremde, der Vorzug friedlicher oder diplomatischer Lösungen für politische Konflikte, wertschätzender Umgang miteinander, und nicht zuletzt Humor. "Star Trek: Discovery" präsentiert nun eine Geschichte, in der ein Forschungsschiff zum Kriegsschiff wird, zuerst geschossen und dann gefragt wird, Crewmitglieder untereinander offensichtliche Konflikte und Abneigungen zeigen, und in denen es kaum leichte Momente gibt. Dies wird von vielen als eine Abkehr von den ursprünglichen Werten des Franchise wahrgenommen, und einige Fans finden sich in der neuen Serien deswegen selbst nicht wieder.
"Star Trek: Discovery" widerspricht also an vielen Stellen sowohl konkreten als auch abstrakten Aspekten des etablierten Kanons. Diese Wahrnehmung wird noch verschärft, weil die Produzenten der neuen Serie wiederholt behaupten, sie würden sich an den etablierten Kanon halten, und hätten dafür sogar ein eigenes Team. Dies wird von manchen Fans als blanke Lüge aufgefasst; wahrscheinlicher ist wohl, dass sowohl Produzenten als auch Fans, anders als die Kulturwissenschaft, keine Unterscheidung zwischen Kanon und Tradition treffen. Um jedenfalls die wahrgenommenen Widersprüche aufzulösen, gibt es theoretisch vier Wege, die aus Sicht kanon-treuer Fans alle unbefriedigend sind:
(a) Die früheren Serien und Filme könnte man nachträglich verändern oder durch Neuverfilmungen ersetzen, sodass es keine Widersprüche zur neuen Serie mehr gibt (dies wäre in etwa der Umgang mit medial repräsentierter Wirklichkeit, den George Orwell in "1984" beschreibt). Dabei würde der Klassikerkanon zwar bestehen bleiben, aber der Strukturkanon verändert, was sich jedoch durch den Kanonstatus desselben verbietet.
(b) Man könnte den früheren Serien und Filmen auch den Status des Kanonischen aberkennen und sie eher als offene Traditionslinien begreifen. Dies ist die Strategie von Reboots, wie es z.B. die Star-Trek-Filme seit J.J. Abrams sind; auch das "Battlestar Galactica"-Remake von 2004-2009 war dafür ein Beispiel. Der Status dieser Medien oder einzelner bekannter Elemente daraus im Allgemeinen kulturellen Gedächtnis (zu dem sowohl Kanon als auch Tradition beitragen) wäre dadurch kaum angetastet: Mr. Spock bleibt Mr. Spock.
(c) Man könnte innerhalb der Erzählung die Veränderbarkeit des Kanon als kanonisch definieren. Das ist begrifflich ein Widerspruch in sich, wird aber, wie oben schon beschrieben, z.B. in den "Elder Scrolls"-Spielen genutzt, um späteres "Retconning" zu erklären. Für "Star Trek" scheint die Akzeptanz so eines Vorgehens eher unwahrscheinlich. Nach dem ersten Abrams-Film hat sich schnell der Konsens gebildet, dass man seitdem zwei Zeitlinien oder Universen unterscheidet, und dass das aus dem Klassikerkanon bekannte (als "Prime" bezeichnete) Universum unabhängig von der neuen (als "Kelvin" bezeichneten) Zeitlinie weiterbesteht, gleichsam wie um es vor den ungeliebten Änderungen zu schützen.
(d) Schließlich könnte man die in "Star Trek: Discovery" gezeigten Änderungen erzählerisch als Sonderfall erklären, z.B. als kurze Phase der fiktionalen Historie, die später kaum bekannt ist, aber letztlich in die bekannte Historie mündet, sowohl auf konkreter als auch abstrakter Seite. Manche Andeutungen weisen bereits in diese Richtung; einige "Star Trek"-Romane haben Ähnliches bereits vorgemacht. Hier würde der bestehende Kanon letztlich nicht entscheidend verändert, sondern die Abweichungen blieben nicht mehr als das: Eine für die Historie letztlich unbedeutende Episode, die von späteren Föderationshistorikern genauso vernachlässigt werden kann wie die neue Serie von kanon-treuen Fans ignoriert werden kann.