"Sie haben uns angelogen"

Star Trek: Discovery. Bild: Columbia Broadcasting System (CBS)

Medien im epikritischen Zeitalter. Kanon und Head Canon in "Star Trek: Discovery" und "The Elder Scrolls"

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Zwei Serienuniversen In dieser Essay-Reihe geht es um die identitätsstiftende Wirkung, die individueller Umgang mit Medien in unserer Zeit haben kann. Als übergreifendes Bild dafür wurde im letzten Teil "Der Kanon im Kopf" - der Einleitung der Reihe - der popkulturelle Begriff des Head Canon gewählt, der mit dem traditionellen Kanon-Begriff verwandt ist. Zwei Franchises eignen sich besonders gut dazu, beide Begriffe auf heutige Medien bezogen zu erläutern.

Zum einen ist da "Star Trek", das seit über 50 Jahren in immer neuen Formen auf den Serien- und Film-Markt dringt. "Star Trek" ist auch außerhalb der eigenen Fan-Szene zumindest dem Namen nach vielen Menschen bekannt: Von Mr. Spock, der Enterprise oder den Klingonen hat man oft auch dann schon mal gehört, wenn man "Star Trek" nicht verfolgt.

Zurzeit versucht die Serie "Star Trek: Discovery", eine an heutige Sehgewohnheiten angepasste Fortführung des Franchise umzusetzen. Anders als die neueren Filme nach J.J. Abrams soll "Star Trek: Discovery" nach Aussage der Produzenten den jahrelang eingeführten Kanon respektieren und damit auch Fans der früheren Serien und Filme abholen. Zumindest in den Augen vieler Kanon-treuer Fans passiert das aber keineswegs, was zu teils extrem negativen Kommentaren im Web führt, die auch den durchaus recht wohlwollenden professionellen Kritiken zur neuen Serie widersprechen.

Star Trek: Discovery. Bild: Columbia Broadcasting System (CBS)

Zum anderen ist da die Computerspiel-Reihe "The Elder Scrolls", deren Bekanntheitsgrad außerhalb der Spielszene zwar keineswegs mit Film- und TV-Franchises vergleichbar ist, die aber eine sehr aktive Fan-Fiction-Szene um sich versammelt. In jedem "Elder Scrolls"-Spiel gibt es eine Menge fiktionaler Texte, die Geschichte und Geschichten der Spielwelt Tamriel darstellen und die eigentlichen Erzählungen der Spiele (ihren Plot) anreichern. Daraus entsteht ein Kanon (in Spielen oft die "lore" genannt), der umfangreich und im Allgemeinen recht konsistent ist.

Einer der Bestandteile dieses Kanons ist jedoch, dass die Veränderbarkeit des Kanons selbst kanonisch ist. So konnte die zu Tamriel gehörende Provinz Cyrodiil jahrelang als dichter Dschungel beschrieben werden, aber im Spiel "The Elder Scrolls 4: Oblivion" als eher lichte, mitteleuropäisch anmutende Welt dargestellt werden. Rückwirkend wurde dieses "Retconning"1 durch ein spielwelt-internes, realititätsveränderndes Ereignis erklärt, den sogenannten "Drachenbruch".

Ganz praktisch handelt es sich dabei natürlich vor allem um ein eher plumpes Mittel, willkürlich wirkende Entscheidungen der Entwickler der Spiele zu begründen. Und wendet man kulturwissenschaftliche Kanon-Definitionen an, nach denen ein Kanon gerade durch die Unveränderbarkeit gekennzeichnet ist2, handelt es sich hier um ein Paradoxon.

Interessant ist aber, dass nach anfänglichen kritischen Diskussionen die Möglichkeit für solche "Drachenbrüche" von vielen Fans akzeptiert wurde. Insbesondere einige semi-offizielle Fiktionen von Michael Kirkbride (Autor vieler früherer offizieller Texte aus der Elder-Scrolls-Serie) haben dazu beigetragen und werden als quasi-kanonisch angesehen. Im Sub-Reddit r/teslore werden regelmäßig Aspekte dieses Phänomens diskutiert, bis hin zu obskuren Details, etwa dass die ganze Welt von einem Träumer geträumt wird und der Frage, was passiert, wenn dieser Träumer eines Tages aufwacht. Solche Fragen kommen in den Spielen nicht vor, funktionieren für Kanon-interessierte Fans aber als Hintergrund bzw. sind sogar für sich selbst stehend von Interesse, bis zu dem Punkt, dass selbst die offiziellen Spiele nur als eine mögliche Sicht auf den Kanon gelten, aber nicht als die einzig mögliche.

Die praktische Folge ist, dass letztlich so gut wie jede Abweichung von der in den Spielen etablierten lore akzeptabel ist, sofern man sie aus der kanonischen Möglichkeit der Abweichung heraus begründet. Entwickler künftiger Teile der Serie können sich darauf genauso berufen wie Autoren von Fan Fiction, sowie jeder Spieler und Leser: Die jeweils als gültig akzeptierte Welt besteht aus den Wahrnehmungen und Interpretationen, die man selbst als gültig bestimmt, anderes kann ausgeblendet werden.

Das ist der funktionale Kern des in Fan-Fiction-Szenen genutzten Begriffs Head Canon (wir kommen darauf weiter unten zurück), es erinnert aber auch daran, wie die "Filterblasen" sozialer Medien funktionieren (diese Ähnlichkeit ist Anlass dieser Essay-Reihe und wird in späteren Teilen weiter ausgeführt).

Geschichten und serielles Erzählen

Serien und Spielereihen erzählen übergreifende Geschichten. Dabei ist "Erzählung" mehrfach besetzt. Erstens werden konkrete Geschichten um bestimmte Protagonisten erzählt, etwa um die Versuche der Crew des Raumschiffs Discovery, den Krieg gegen die Klingonen zu gewinnen. Zweitens werden zusammenhängende Welten mit eigener Historie etabliert (dies gilt sowohl für heute übliches serielles Erzählen als auch in sich abgeschlossene Folgen älterer Serien). Drittens schließlich erzählen fiktionale Geschichten und Geschichte auch etwas über die Zeit und die Gesellschaft, in der sie geschrieben und dargestellt werden; es werden bestimmte Narrative verhandelt, die in der Zeit und Gesellschaft jeweils relevant sind oder durch die Autoren und Produzenten als relevant gesetzt werden.

Der Begriff "Narrativ", für sich genommen, suggeriert mitunter Tiefgründigkeit, aber Narrative können auch trivial sein. Wenn etwa in der VOX-Sendung "Shopping Queen" kritisiert wird, dass das Aussehen einer Kandidatin (ihr "Look") "nichts erzählen" würde, dann wird damit das normative Narrativ fortgeschrieben, dass Kleidung etwas erzählen bzw. dass man mit Kleidung seine eigene Identität ausdrücken soll.3

Das Narrativ ist der konkreten Geschichte übergeordnet bzw. schwingt im Hintergrund mit, selbst wenn es nicht bewusst gemacht wird. Wenn man als Shopping Queen-Zuschauer die in der Sendung vertretene Sicht akzeptiert, dass "ein Look" etwas "erzählen" soll, dann teilt man dieses Narrativ, auch ohne aus kulturwissenschaftlicher Sicht darüber zu reflektieren, dass man das gerade tut. Wichtig ist in dem Moment, dass eine Geschichte Menschen zusammenführt. Man kann sich als Teil einer Gruppe sehen, die ähnliche Weltbilder vertritt. Wenn die geteilte Geschichte dann noch kohärent (zusammenhängend) ist, entsteht eine durchaus wohlige Atmosphäre der Zufriedenheit, die freilich auch für die Produzenten der Geschichten positiv ist.

Deshalb ist man in Fernsehproduktionen mittlerweile auf serielles Erzählen umgeschwenkt und neigen viele Menschen zum Binge Watching ganzer Staffeln. Endlos-Buch- und Comicreihen verkaufen sich teils seit Jahrzehnten und es werden immer neue Fortsetzungen von Kinofilmen und Computerspielen auf den Markt geworfen. Unvollendete Geschichten (z.B. bei vorzeitig abgesetzten Serien oder bei unbefriedigenden Enden) führen zu Verärgerung, und tiefe Eingriffe in einen etablierten Serien-Kanon (wie eben bei "Star Trek: Discovery") rufen Protest hervor.

Es gibt offenbar ein Bedürfnis nach Zusammenhang und Geschlossenheit, offene Enden und ungeklärte Fragen erzeugen Unzufriedenheit. Deswegen sind Religionen und Verschwörungstheorien mit geschlossenen Weltbildern immer noch erfolgreich, und deswegen wird auch eine eher häppchenweise twitternde, sich teils selbst widersprechende Person wie Donald Trump mitunter als beunruhigend wahrgenommen.

Carolin Emcke hat im Februar 2017 in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar zum US-Präsidenten veröffentlicht, bei dem sie ihm die Produktion von "Lärm" vorwirft. Trump hätte eine "zersetzende Kraft", weil "Inhalte für ihn beim Sprechen überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheinen". Emcke stellt einen "Kollaps jedes sinnhaften politischen Diskurses" fest. Ein sinnhafter Diskurs ist genau das: Ein aufeinander bezogener Austausch zusammenhängender Erzählungen. "Kein Tag vergeht", so Emcke, "da dieser Präsident sich nicht selbst widerspricht, eine frühere Position räumt oder leugnet. Öffentliche Worte sind bei Trump immer nur im Augenblick des Aussprechens gültig." Ganz ähnlich wie in Orwells "1984", aber ohne sich explizit darauf zu beziehen, stellt Emcke eine "permanente Gegenwart" fest, "die komplette Abwesenheit von Gedächtnis und Geschichte".

Emckes Erzählung von Trump ist ein Beispiel für zahlreiche ähnliche Ungewissheiten der heutigen westlichen Gesellschaften (vgl. dazu die Einleitung dieser Essay-Reihe), vor deren Hintergrund man wohl feststellen muss, dass allseits akzeptierte, im Wesentlichen unhinterfragte Narrative nicht mehr existieren - die Geschichten, die sich Menschen erzählen, um sich ihrer eigenen Identität, Zugehörigkeit und Rolle zu versichern, passen nicht mehr zueinander, sind in sich nicht immer kohärent und ändern sich zu schnell. Sie sind damit auch zu schwierig nachzuvollziehen, weil man nicht mehr hinterherkommt.

Wiederum Emcke über Trump: "[W]ährend [d]ie amerikanischen Redaktionen […] sich noch feiern für jeden Scoop, in dem sie Trump einen Fehler oder ein Vergehen nachweisen konnten, überrumpelt der sie schon mit der nächsten Aktion" und wird dafür von manchen verachtet, von anderen gefeiert, wieder andere stehen fassungslos daneben und können sich keinen Reim darauf machen. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens über den gemeinsamen Kanon der Erzählungen mehr.

"Sich einen Reim auf etwas machen" - diese Redewendung verweist gleich zweifach auf das Geschichtenerzählen. Auf die Struktur der Sprache selbst (eben sich reimende Wörter in den Versen eines Gedichts oder eines Liedes), und auf den Inhalt des sprachlich ausgedrückten (denn in der Regel sind die Verse von Gedichten und Liedern inhaltlich zusammenhängend und erzählen damit Geschichten). Wie partizipatives Geschichtenerzählen heutzutage vor sich geht, und wie dabei versucht wird, sich einen Reim auf die Welt zu machen, das kann man - wie sollte es auch anders sein - dank des Internet sehr genau und quasi in Echtzeit beobachten. Man warte nur auf der Startseite eines Nachrichtenportals auf einen Bericht oder Meinungsbeitrag, der ein kontroverses Thema aufgreift und schaue sich die Minuten später eintreffenden Leserkommentare dazu an.

Der ursprüngliche Beitrag ist Teil einer wie auch immer gearteten Erzählung zu dem verhandelten Thema. Es wird nicht lange dauern, bis Leser auf scheinbare oder echte Lücken in dieser Erzählung oder auf Widersprüche zu anderen Erzählungen zum selben Thema hinweisen und Vermutungen darüber anstellen, wie die wahrgenommenen Inkonsistenzen oder Inkohärenzen zustandekommen und wie sie zu füllen wären - sozusagen die "plot holes" der Erzählung.

"Plot holes" (Löcher im Handlungsverlauf) ist ein Begriff, der normalerweise genutzt wird, um auf Logikbrüche in den Erzählungen und Darstellungen von Filmen, Serien, Literatur oder Spielen hinzuweisen. Besonders gut lassen sich solche kommunikativen Strukturen bei großen medialen Franchises beobachten, die ein "Fandom" um sich versammelt haben. Dort haben sich die Begriffe "Canon", "Fanon" (Fan-Canon) und "Head Canon" entwickelt. Sie können in diesem Feld fast als etabliert angesehen werden, um den Umgang mit fiktionalen Welten und Weltbildern zu diskutieren.

Für ein aktuelles Beispiel betrachte man die Kommentare zu "Star Trek: Discovery", in denen nicht nur Widersprüche zur bisher etablierten Geschichte dieser Serie (also Brüche mit dem Kanon), sondern auch in der Handlung der einzelnen Folgen selbst kritisiert werden.4 Strukturell werden in solchen Kommentaren meist nach einer Einleitung einzelne Punkte aufgelistet, die aus Sicht des Kommentarschreibenden in der kritisierten Erzählung keinen Sinn ergeben oder in früheren Serien und Filmen eingeführten Fakten widersprechen.

Im Fall Discoverys kritisiert etwa ein Nutzer im Heise-Forum: "Fast kein Satz wird gesprochen, der nicht von aufgeblasenem Pathos trieft, ohne aber die geringste Plausibilität in der Situation zu haben" - die Schlüsselbegriffe hier sind Plausibilität und Situation, oder allgemeiner: der Kontext der Erzählung. In der Regel folgen auf solche Kommentare dann Zustimmungen oder Einschränkungen, letztere versuchen dann zu zeigen, warum die Kommentare unrecht haben, oder sie bringen kontextverändernde Relativierungen, die die Tragweite der Kommentare einschränken. Dieselbe Struktur trifft auch auf ‚professionelle‘ Kritik in Form von Rezensionen und darauf folgende Kommentare zu.

Allgemein lässt sich die Struktur als kommunikative Sequenz aus drei Schritten beschreiben: (1) Erzählung (z.B. der Film, das Buch, das Computerspiel), (2) Stellungnahme (Rezensionen oder Kommentare zur Erzählung), (3a) Relativierung (Einschränkung der in Rezension oder Kommentar geäußerten Stellungnahme) bzw. (3b) Zustimmung (zur Stellungnahme).

Diese Struktur ist nicht sehr überraschend, denn jede Diskussion zu einem beliebigen Thema funktioniert so. Es ist für diesen und die folgenden Teil der Essay-Reihe aber hilfreich, sich diese Struktur bewusst zu machen bzw. im Hinterkopf zu behalten. Interessant ist nämlich, dass nicht nur die kommunikativen Strukturen, mit denen plot holes, Kanon-Brüche und ähnliche Phänomene diskutiert werden, ganz ähnlich denen sind, die auf Meldungen und Meinungsbeiträge in Nachrichtenportalen produziert werden, sondern auch die Funktion dieser Strukturen für Kommunikation und damit Identitätsbildung von Gruppen und Individuen ähnlich ist. Dies berührt auch die Erwartungen, die von Lesern an solche Beiträge gestellt werden, was bis zur Aufforderung gehen kann, künftig stärker die Sichtweise dieser Leser zu vertreten. Dazu kommen wir ausführlicher in Teil drei dieser Essay-Reihe; zunächst soll die begriffliche Grundlage noch etwas geschärft werden.

Die Funktion eines Kanons

Die gesellschaftliche Funktion eines Kanon ist mehr als nur "der Kanon" im Sinne einer Text- oder Mediensammlung, deren "Wert" sich in ihrer eigenen Rezeption erschöpfte (vgl. die Einleitung zu dieser Essayreihe). Ein Kanon im traditionellen Sinne erbringt eine Reihe allgemeiner Ordnungsfunktionen für menschliche Gesellschaften, indem er (1) vormediale gesellschaftliche Prozesse medial fixiert und (2) die Veränderbarkeit der so entstandenen Medien eingrenzt, was wiederum stabilisierend auf die gesellschaftlichen Prozesse wirkt.

In seinem bekannten Werk "Das kulturelle Gedächtnis" zeichnet Jan Assmann diese Funktionen in der historischen Entwicklung nach und gliedert sie in konkrete und abstrakte Aspekte. Auf der konkreten Seite ist zunächst der Bedeutungswandel vom kanonischen (Einzel-)Text einerseits zum Kanon als Textsammlung andererseits bemerkenswert. Kanonisierung mit Einzeltexten war ein Aspekt beim Wandel von "ritueller zu textueller Kohärenz"5, d.h. bereits existierende Abläufe wurden schriftlich fixiert und dabei in ihrem Sinngehalt klarer definiert. Entscheidend ist für Assmann hier "der Akt der Schließung", d.h. das Verbot, etwas an den Texten zu verändern: "Sie verlangen wortlautgetreue Überlieferung".

Erst ab dem 4. Jahrhundert, im Zuge kirchlicher "Synodalbeschlüsse ('Kanones')"6 wurde der Begriff Kanon auf Textbestände angewandt, also in dem Sinne, wie er auch heute noch für "Klassiker" der Literatur, Musik, Filme usw. verwendet wird. Die konkreten Konzepte Textkanon und Klassikerkanon erbringen Funktionen, die Assmann als die abstrakten Prinzipien "Maßstab und Kriterium" bzw. "Norm und Prinzip" bezeichnet.7 Das heißt, Medien und Medienbestände geben bestimmte Maßstäbe und Normen wieder bzw. werden selbst auch nach diesen Maßstäben und Normen produziert bzw. ausgewählt. Manches gehört dazu, manches wird ausgeschlossen.

"Die 'Richtschnur' des Kanon […] zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen A und Nicht-A".8 Beispielsweise "[zieht] der logische [Kanon diese Trennungslinie] zwischen Wahr und Falsch". Assmann spricht jedoch nur dann vom Kanon, wenn A als "das unbedingt [Hervorh. M.D.] Erstrebenswerte"9 angesehen wird; ansonsten gehört A zum - weniger starren - "Strom der Tradition".10 Sowohl Kanon als auch Tradition tragen zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft bei, doch der Kanon ist unveränderbar: "der geheiligte Bestand"11, der "eine kollektive Identität [formt]".12

Jan Assmanns Einteilung von Kanon in konkrete (Textkanon, Klassikerkanon) und abstrakte (Maßstab und Kritierum bzw. Norm und Prinzip) Aspekte lässt sich auch auf den popkulturellen Canon-Begriff anwenden, wie das Beispiel "Star Trek: Discovery" zeigt. Auf der konkreten Seite betrifft die neue Serie zunächst den Klassikerkanon, also frühere Serien und Filme des "Star Trek"-Franchise, sowie den Text- oder allgemeiner Strukturkanon, d.h. die Fakten, die in einzelnen Bestandteilen des Klassikerkanons gezeigt wurden und die man (zumindest als an Kanon-Treue interessierter Fan) als unveränderbar ansieht: Klingonen haben in der Regel lange Haare, Hologramme zur Kommunikation werden erstmals im 24. Jahrhundert eingesetzt, Mr. Spock hat keine Schwester, Sternenflotten-Uniform-Oberteile im 23. Jahrhundert sind einfarbig golden, rot oder blau, und jedes Schiff hat ein eigenes Abzeichen.13

Ein Großteil der aktuellen Kritik an der neuen Serie bezieht sich auf Widersprüche zum Klassikerkanon: Die bisher gezeigten Klingonen sind unbehaart, Nachrichtenaustausch via Hologramm scheint allgegenwärtig, die Hauptdarstellerin ist als Pflegekind von Mr. Spocks Eltern quasi dessen Adoptivschwester, die Uniformen sind blaue Overalls mit dezenten Farbstreifen, und in der ganzen Sternenflotte wird das gleiche Schiffsabzeichen genutzt.14

Auf der abstrakten Seite ist es ähnlich. Hier geht es um bestimmte Werte, die viele Fans mit "Star Trek" assoziieren und oft an der Person des ursprünglichen "Star Trek"-Erfinders, Gene Roddenberry, festmachen, etwa Forscherdrang, Toleranz für das Fremde, der Vorzug friedlicher oder diplomatischer Lösungen für politische Konflikte, wertschätzender Umgang miteinander, und nicht zuletzt Humor. "Star Trek: Discovery" präsentiert nun eine Geschichte, in der ein Forschungsschiff zum Kriegsschiff wird, zuerst geschossen und dann gefragt wird, Crewmitglieder untereinander offensichtliche Konflikte und Abneigungen zeigen, und in denen es kaum leichte Momente gibt. Dies wird von vielen als eine Abkehr von den ursprünglichen Werten des Franchise wahrgenommen, und einige Fans finden sich in der neuen Serien deswegen selbst nicht wieder.

Star Trek: Discovery. Bild: Columbia Broadcasting System (CBS)

"Star Trek: Discovery" widerspricht also an vielen Stellen sowohl konkreten als auch abstrakten Aspekten des etablierten Kanons. Diese Wahrnehmung wird noch verschärft, weil die Produzenten der neuen Serie wiederholt behaupten, sie würden sich an den etablierten Kanon halten, und hätten dafür sogar ein eigenes Team. Dies wird von manchen Fans als blanke Lüge aufgefasst; wahrscheinlicher ist wohl, dass sowohl Produzenten als auch Fans, anders als die Kulturwissenschaft, keine Unterscheidung zwischen Kanon und Tradition treffen. Um jedenfalls die wahrgenommenen Widersprüche aufzulösen, gibt es theoretisch vier Wege, die aus Sicht kanon-treuer Fans alle unbefriedigend sind:

(a) Die früheren Serien und Filme könnte man nachträglich verändern oder durch Neuverfilmungen ersetzen, sodass es keine Widersprüche zur neuen Serie mehr gibt (dies wäre in etwa der Umgang mit medial repräsentierter Wirklichkeit, den George Orwell in "1984" beschreibt). Dabei würde der Klassikerkanon zwar bestehen bleiben, aber der Strukturkanon verändert, was sich jedoch durch den Kanonstatus desselben verbietet.

(b) Man könnte den früheren Serien und Filmen auch den Status des Kanonischen aberkennen und sie eher als offene Traditionslinien begreifen. Dies ist die Strategie von Reboots, wie es z.B. die Star-Trek-Filme seit J.J. Abrams sind; auch das "Battlestar Galactica"-Remake von 2004-2009 war dafür ein Beispiel. Der Status dieser Medien oder einzelner bekannter Elemente daraus im Allgemeinen kulturellen Gedächtnis (zu dem sowohl Kanon als auch Tradition beitragen) wäre dadurch kaum angetastet: Mr. Spock bleibt Mr. Spock.

(c) Man könnte innerhalb der Erzählung die Veränderbarkeit des Kanon als kanonisch definieren. Das ist begrifflich ein Widerspruch in sich, wird aber, wie oben schon beschrieben, z.B. in den "Elder Scrolls"-Spielen genutzt, um späteres "Retconning" zu erklären. Für "Star Trek" scheint die Akzeptanz so eines Vorgehens eher unwahrscheinlich. Nach dem ersten Abrams-Film hat sich schnell der Konsens gebildet, dass man seitdem zwei Zeitlinien oder Universen unterscheidet, und dass das aus dem Klassikerkanon bekannte (als "Prime" bezeichnete) Universum unabhängig von der neuen (als "Kelvin" bezeichneten) Zeitlinie weiterbesteht, gleichsam wie um es vor den ungeliebten Änderungen zu schützen.

(d) Schließlich könnte man die in "Star Trek: Discovery" gezeigten Änderungen erzählerisch als Sonderfall erklären, z.B. als kurze Phase der fiktionalen Historie, die später kaum bekannt ist, aber letztlich in die bekannte Historie mündet, sowohl auf konkreter als auch abstrakter Seite. Manche Andeutungen weisen bereits in diese Richtung; einige "Star Trek"-Romane haben Ähnliches bereits vorgemacht. Hier würde der bestehende Kanon letztlich nicht entscheidend verändert, sondern die Abweichungen blieben nicht mehr als das: Eine für die Historie letztlich unbedeutende Episode, die von späteren Föderationshistorikern genauso vernachlässigt werden kann wie die neue Serie von kanon-treuen Fans ignoriert werden kann.

Head Canon

Um individuelle, d.h. beim Rezipienten liegende, Abweichungen vom Kanon zu begründen, wird verschiedentlich der Begriff Head Canon genutzt. Besonders oft geschieht das in der Fan-Fiction-Szene; oben wurde es bereits kurz am Beispiel von "The Elder Scrolls" erwähnt. Anders als der Kanon-Begriff ist Head Canon kulturwissenschaftlich kaum belegt. Eher findet man den Ausdruck im individuellen Sprachgebrauch, in Blogs und in popkulturellen Wikiprojekten. Das Urban Dictionary bezeichnet "head canon" oder "headcanon" als Ideen, Glaubensinhalte oder Aspekte einer Geschichte, die in den zugrundeliegenden Medien (z.B. einer Serie, einem Film, einem Buch usw.) nicht erwähnt, aber von dem Nutzer des jeweiligen Mediums oder von den Fans insgesamt akzeptiert werden. Die Wiktionary-Definition hebt hervor, dass Grundlage ein fiktionales Universum ist und dass sich Head Canon auf einen individuellen Fan (nicht auf mehrere Fans) bezieht (anders als das auf Gruppen bezogene Fanon, ein Kompositum aus Fan und Canon).

In gewisser Weise ist das Kompositum aus Head und Canon damit ein Paradox. Wenn der Kanon für überindividuelle Ordnungen sorgt, bei denen individuelle Abweichungen noch stärker als bei bloßer Tradition ausgeschlossen werden sollen, dann suggeriert Head Canon genau das Gegenteil. Er ist eine Stellungnahme zum Kanon, die diesem, wenn schon nicht widerspricht, doch zumindest im Kanon wahrgenommene Lücken - die genannten plot holes - füllen hilft.

Hierüber schreibt Emily Asher-Perrin in einem Blogeintrag. Sie beschreibt das Entstehen eines Head Canon als Prozess, über den sie sich erst hinterher bewusst wird: "I like really bad movies sometimes. […] [O]n occasion, someone points out to me that said media is crap, and I give them my most puzzled stare. And then I realize I’ve headcanoned it. […] I inferred elements that were never in the script."

Der entscheidende Punkt hier ist Inferenz ("inferred"). Aus vorgefundenen Elementen werden Schlüsse gezogen, die über das Vorgefundene hinausgehen. Das ist das Herstellen von Kohärenz, die weitere Sinnzuschreibungen auch in Hinblick auf eine lückenhafte Erzählung erleichtert: "I just made up an entire background for them in my head."15

Rachel Barenblat beschreibt Ähnliches für das Verfassen von Fan Fiction. Laut Barenblat schreiben Fans eines Mediums Geschichten, "when the story we are given leaves us with questions or concerns".16 Auch hier werden Lücken gefüllt, wird Kohärenz hergestellt. Der besondere Twist bei Barenblat ist ein Bezug, den sie zur Identität der Fans herstellt. Fan Fiction schreibe man auch, "when we don't see ourselves mirrored (or, worse, when we see ourselfes depicted poorly)". Man schreibe Fan Fiction, wenn man sich selbst nicht wiederfinde. Hier werden die Rezipienten der Medien in das Medium hereingeholt, womit Fan Fiction ebenso wie der traditionelle Kanon-Begriff identitätsstiftende Bedeutung gewinnt. Man muss aber nicht erst Fan Fiction schreiben. Auch kritische Kommentare werden aus solchem Grund verfasst.

Wiederum kann "Star Trek: Discovery" als aktuelles Beispiel dienen. Wie oben erwähnt, befasst sich ein Teil der kritischen Kommentare nicht nur unter strukturellen Aspekten (Fakten der fiktionalen Historie, Technik, Aussehen) mit Kanon-Abweichungen, sondern mit den Maßstäben, Normen und Prinzipien, die dem Kanon zugrundeliegen - den sogenannten ursprünglichen Werten von "Star Trek".17

Die Verfasser solcher Kommentare stellen zunächst fest, dass sie diese ursprünglichen Werte in der neuen Serie nicht oder nicht ausreichend wahrnehmen. Beispielsweise war der Umgang der Protagonisten früherer Serien und Filme untereinander von Respekt und Wertschätzung geprägt, während in der neuen Serie deutliche Konflikte bis eindeutige Abneigung zutage treten. Zudem liegt der Fokus der Serie bislang auf Krieg statt auf der Erforschung des Unbekannten, und wenn Forschung gezeigt wird, dann nur, um dem Krieg zu dienen. Es ist das Gegenteil dessen, weswegen man selbst "Star Trek" mag. "Das ist kein Star Trek", kann man daher sinngemäß oder wörtlich oft lesen, es sei sogar eine "Abscheulichkeit" ("abomination", wie etwa auf MetaCritic wiederholt geäußert wird).

Den Kern der Kritik aus dieser Richtung kann man als folgendes Narrativ zusammenfassen: Es kann ja sein, dass zu der in Discovery gezeigten Zeit der fiktionalen "Star-Trek"-Historie die fast schon pazifistischen Werte der Föderation noch nicht so ausgeprägt waren. Aber das will man nicht sehen. Man will nicht sehen, wie sich die aus früheren Serien bekannten positiven Werte aus einem Krieg heraus vielleicht irgendwann entwickeln, sondern man will eine Welt sehen, in der diese Werte bereits aktiv gelebt werden. Man möchte einen hellen, optimistischen Kontrapunkt zur heutigen als dunkel und bedrohlich wahrgenommenen Gesellschaft sehen.

Ähnlich wie "Star Trek: The Next Generation" in den 1980er Jahren soll eine friedlichere Welt gezeigt werden, nicht ein Spiegelbild der derzeitigen Welt. Dies aber (und das ist entscheidend) soll nicht allein aus eskapistischen Gründen geschehen, sondern weil diese Darstellung ein Vorbild sein könnte, die derzeitige Welt in eine entsprechende Richtung weiterzuentwickeln. So, wie frühere Star-Trek-Serien Menschen dazu inspiriert haben, bestimmte Interessen zu entwickeln oder Berufe zu ergreifen, soll dies auch Star Trek: Discovery tun. Eine solche auf das "echte" Leben ausstrahlende identitätsstiftende Wirkung wird der neuen Serie aber bisher nicht zugetraut, und auch der eigene, mitunter von Star Treks Idealen inspirierte Lebensweg findet sich in der neuen Serie nicht ausreichend wieder.18

Wo der Umgang mit diesem Narrativ konstruktiv wird, kann von Head Canon gesprochen werden. Ähnlich wie Asher-Perrin es beschrieb ("I've headcanoned it"), versucht man Kanon-Abweichungen auch auf der Seite der Normen und Prinzipien einzuordnen. Dabei macht man sich den Kanon selbst zunutze. Eine zurzeit häufig genutzte Strategie (ein Head Canon) ist etwa, die in "Star Trek: Discovery" gezeigten Abweichungen, etwa die unethischen Experimente an Tieren oder das kompromisslose Handeln des Captains der USS Discovery, der "Sektion 31" zuzuschreiben - einer in "Star Trek: Deep Space Nine" eingeführten Geheimorganisation innerhalb der Sternenflotte, die im Dunkeln, außerhalb der üblichen Normen und Werte operiert, um ebendiese Werte zu schützen.

Eine andere Strategie beruht darauf, auf den Kriegszustand hinzuweisen - sonst übliche Ideale wären da einfach nicht durchzuhalten. Und zeitweise wird auch, eher zynisch, spekuliert, dass es sich vielleicht um das aus anderen Star-Trek-Serien bekannte, gewalttätige Spiegeluniversum handeln könnte. Solchen Überlegungen liegt der Versuch zugrunde, die bisher etablierten Identitäten von Welt und Individuum mit den wahrgenommenen Abweichungen in Einklang zu bringen. Head Canon ist ein Mittel, solche kognitiven Dissonanzen aufzulösen.

Zur echten Wirklichkeit

Für die weiteren Teile dieser Essay-Reihe ist nun folgende These entscheidend: Nichts anderes als das bis hierher für fiktionale Werke Beschriebene lässt sich auch in kritisch-zweifelnden bis ablehnenden Kommentaren unter journalistischen Beiträgen zeigen. Die Schreiber solcher Kommentare nehmen z.B. Lücken in der Berichterstattung wahr oder sie fühlen sich selbst nicht richtig repräsentiert, z.B. als Anhänger bestimmter politischer oder gesellschaftlicher Gruppierungen. Das in den journalistischen Beiträgen als gültig präsentierte Weltbild wird dann nicht als kohärent wahrgenommen, was wie eine Aufforderung wirkt, dazu Stellung zu beziehen - fehlenden Informationen zu ergänzen, Gegendarstellungen anzubringen oder auch einfach die Motive der Autoren zu hinterfragen.

Im nächsten Teil dieses Essays lesen Sie, worin die strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten des Umgangs mit Medienprodukten insgesamt liegen, und warum sich der oben eingeführte Begriff Head Canon eignet, auch nicht-fiktionale Wahrnehmung von Medien zu beschreiben.